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Nachruf auf Volkmar Sigusch

Volkmar Sigusch ist tot. Er starb am 7. Februar 2023 mit 82 Jahren.

In der späteren DDR geboren, floh Volkmar Sigusch 1961 in den Westen. Nach dem Studium von Medizin und Soziologie absolvierte er an der Universitätsklinik Hamburg zunächst eine Ausbildung zum Psychiater, um sich 1972 im Fach Sexualwissenschaft zu habilitieren. Im selben Jahr noch erhielt er einen Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Sexualwissenschaft an der Universität Frankfurt. Hier gründete Sigusch das Institut für Sexualforschung, das nicht nur eine wichtige klinische Anlaufstelle für bis dato unterversorgte Patienten mit sexuellen Störungen unterhielt, sondern gemeinsam und in enger Kooperation mit dem Hamburger Institut auch zu einem intellektuellen und diskursstiftenden Zentrum Deutschlands wurde. Volkmar Sigusch war ein großer Netzwerker und ein immens fleißiger Wissenschaftler. Er war Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, Mitbegründer der International Academy for Sex Research und Mitherausgeber der Zeitschrift für Sexualforschung, der Beiträge zur Sexualforschung und der Archives of Sexual Behavior. Er veröffentlichte unzählige Aufsätze und mehrere Dutzend Monographien. Zu seinen wichtigen Büchern gehören neben dem zu einem Standard gewordenen Lehrbuch Sexuelle Störungen und ihre Behandlung (1. Aufl. 1996; als Hsg.): Vom Trieb und von der Liebe (1984), Die Mystifikation des Sexuellen (1984), Sexuelle Welten. Zwischenrufe eines Sexualforschers (2005) und Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion (2005) und dann vor allem auch die zwei monumentalen historischen Arbeiten: Geschichte der Sexualwissenschaft (2008) und Personenlexikon der Sexualforschung (2009; als Hsg. mit Günter Grau).

Verwurzelt im dialektischen Materialismus war Sigusch intimer Kenner der kritischen Theorie wie der Arbeiten Foucaults. Die fortwährende Befragung des eigenen Standpunkts war ihm Selbstverständlichkeit, und er war vehementer Verfechter einer Position, die er »kritische Sexualwissenschaft« nannte. Dabei half ihm, dass er ein exzellenter Kenner und Historiograph der Geschichte der Sexualwissenschaft war. Einseitig empirisch-positivistischen Strömungen stand er genauso ablehnend gegenüber wie radikal-konstruktivistischen Positionen. Simplifizierende und affirmative Tendenzen bekämpfte er, wo er konnte. Sein Verständnis von Sexualität war komplex und durch und durch aporetisch, sein Verständnis von Sexualwissenschaft politisch und parteiisch: Wortgewaltig wie er war, prangerte er Mechanismen von Unterdrückung, Ausbeutung (auch kapitalistischer) und Exklusion an und stand immer auf Seiten der Menschen, die als Folge gesellschaftlicher Gewalt an ihrer Sexualität litten.

Wer Volkmar Sigusch einmal persönlich erlebt hat, war beeindruckt von seiner Energie und Verve. Nie war schwer, in seinen jungenhaft-neugierigen Zügen den urkindlichen Sexualforscher zu erahnen. So zurückgezogen er sein konnte, war er im Gespräch immer voll und ganz da, fast schon als fürchte er beständig den Moment, mit dem das Wahrgenommen-Werden für alle Zeit verschwinden würde.

Volkmar Sigusch wird die Geschichte der Sexualität jetzt nicht mehr weiterschreiben, aber er wird hoffentlich noch lange wahrgenommen. Er hinterlässt uns ein reiches literarisches Oeuvre, das aktuell ist wie eh und je.

Lutz Garrels

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