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Zum 120. Geburtstag von Wilhelm Reich: Ein streitbares Werk von aktueller Brisanz
Am 24. März 2017 hat Wilhelm Reich seinen 120. Geburtstag.
Andreas Peglau, dessen Buch »Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die
Psychoanalyse im Nationalsozialismus« soeben im Psychosozial-Verlag in dritter
und erweiterter Auflage erschienen ist, würdigt ihn mit einem kurzen
biographischen Abriss.
»Nur dann, wenn die (psychische) Struktur einer
Führerpersönlichkeit mit massenindividuellen Strukturen breiter Kreise
zusammenklingt, kann ein ›Führer‹ Geschichte machen«. Und: »[J]ede
Gesellschaftsordnung erzeugt in den
Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen, die sie für ihre Hauptziele
braucht.« Ohne Erkenntnisse wie diese zu berücksichtigen, dürfte das, was seit
2014 oftmals als »europäischer Rechtsruck« bezeichnet wurde, weder tiefgründig
zu erklären, geschweige denn erfolgreich zu bekämpfen sein. Nachzulesen sind diese
Sätze in dem Buch »Massenpsychologie des Faschismus«, geschrieben 1933 von dem »linken«
jüdischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich.
1897 geboren, 22-jährig Psychoanalytiker geworden, gehörte
Reich zu Freuds wichtigsten und kreativsten Mitstreitern. Zum Doktor der
Medizin promoviert, wurde er 1922 Arzt am Ambulatorium der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung, 1924 Leiter des ausbildungstechnischen
Seminars, 1925 Lehranalytiker, 1927 WPV-Vorstandsmitglied, 1928
stellvertretender Ambulatoriumsleiter. Sein 1925 veröffentlichtes erstes Buch »Der
triebhafte Charakter« bezeichnete Freud als »wichtigen Fortschritt in der
Erkenntnis der Krankheitsformen« Im selben Jahr schrieb er an Reich: »Sie sind
mit der Aufgabe betraut, die analytischen Kindlein in der Ausübung der Analyse
zu unterrichten. Das allgemeine Urteil dazu lautet(,) niemand in Wien kann es
besser machen«. Doch die Beziehung zwischen Reich und Freud sollte sich trüben.
Reich begriff
immer mehr, dass seelische Störungen hochgradig sozial verursacht sind. Zwar
hatte auch Freud in früheren Jahren betont, die Gesellschaft habe »an der
Verursachung der Neurosen (…) einen großen Anteil«. Inzwischen meinte er
jedoch, psychisches und soziales Elend maßgeblich durch einen angeborenen
Destruktionstrieb erklären zu können, der den Menschen zur »wilde(n) Bestie« mache. Im Gegensatz dazu betrachtete Reich
Menschen zunehmend als »von ihren Anlagen her« soziale und liebesfähige Wesen
und leitete daraus die Möglichkeit ab, die durch Erziehung, gesellschaftliche
Normen und ökonomische Verhältnisse unterdrückte menschliche (Trieb-)Natur zu
befreien – statt sie beherrschen zu müssen.
Im Folgenden
engagierte er sich sowohl für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse als auch
für die Veränderung von Sozialstrukturen, die psychische Störungen
hervorbringen. Er studierte marxistische Literatur, widmete sich der
Ethnologie, wurde 1925 zunächst Mitglied der sozialdemokratischen Partei
Österreichs, kurz darauf – aber nur insgeheim – auch der kommunistischen
Partei. 1928 gründete er mit Gleichgesinnten die »Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und
Sexualforschung«. Allein seine Aufklärungsbroschüre »Sexualerregung und
Sexualbefriedigung« wurde 1929 in zehntausend Exemplaren gedruckt.
Im November 1930
übersiedelte Reich nach Berlin, in der Hoffnung, dort ein für seine Bestrebungen
günstigeres Umfeld zu finden. Er trat in die DPG ein, wurde hier erneut
Lehranalytiker, veröffentlichte weitere Artikel und Bücher – und entwickelte
die Psychoanalyse zur Körperpsychotherapie.
In kurzer Zeit erwarb er sich in Deutschland eine für
Analytiker ungewöhnliche Popularität. Dazu trug zum einen bei, dass Reich
Mitglied der KPD wurde und deren schlagkräftigen Agitations- und
Propagandaapparat nutzen, somit seine Schriften in hohen Auflagen herstellen,
verteilen sowie effektiv bewerben lassen konnte. Hinzu kam Reichs
öffentlichkeitswirksames Engagement im Kampf gegen den Paragrafen 218, seine
Dozententätigkeit an der weithin bekannten »Marxistischen Arbeiterschule« und
seine Leitungstätigkeit in einer KP-nahen, sexualreformerischen
Massenorganisation – die er später unter dem Begriff ›Sexpol‹ subsummieren
sollte. Resultat war, dass er zwischen 1930 und ’33 nach Frud zum erfolgreichsten
psychoanalytischen Autor im deutschen Sprachraum wurde. Noch 1935 sollte das
Geheime Staatspolizeiamt notieren, Reich habe »vor der nationalsozialistischen
Revolution im Kampf für den Kommunismus Deutschland mit einer Menge von
Schmutzliteratur überschwemmt«. Der DPG-Vorsitzende Felix Boehm berichtete,
dass im Frühjahr 1933 »in öffentlichen Anlagen und Straßen Zehntausende von
Zetteln verteilt und angeklebt worden sind mit dem Inhalt: ›Schützt unsere
Jugend vor der Reichschen Kulturschande!‹« Die um die Akzeptanz des NS-Staates
bemühten Analytiker sahen sich daher gezwungen, so Boehm, »von Reich’s in
Berlin bekanntgewordenen Ansichten deutlich abzurücken«, um Gehör zu finden.
Am 10. Mai 1933 war Reich dann einer von nur vier
Analytikern, deren Schriften in Berlin verbrannt wurden. Alsbald richteten sich
gegen ihn mehr NS-Verbote als gegen sämtliche seiner Berufskollegen. Ebenfalls noch 1933 wurde Reich aus der IPV ausgeschlossen, insbesondere,
weil er deren Anpassungskurs an das NS-Regime im Wege stand. Nahezu zeitgleich verlor
er seine Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei, da er angeblich zu
psychoanalytisch argumentiert und so vom Klassenkampf abgelenkt hätte.
Bis 1940 war Reich
der einzige Psychoanalytiker, der sich offen und tiefgründig mit dem Faschismus
auseinandersetzte. Die wichtigste seiner diesbezüglichen Publikationen war jene,
im dänischen Exil erschienene »Massenpsychologie des Faschismus«: eine Analyse
psychosozialer Grundlagen der Europa prägenden »rechts«-autoritären Regime, des
enormen Erfolgs Adolf Hitlers und des Versagens der »Linken« im Kampf gegen
ihn. Hält man Psychoanalyse für eine kritische Sozialwissenschaft, muss man sagen:
Es war eines der wichtigsten psychoanalytischen Bücher, die je erschienen sind.
Zugleich war es die erste Veröffentlichung dessen, was heute Rechtsextremismusforschung
genannt wird.
23 Jahre später
sollte dieses Buch erneut verbrannt werden, diesmal in den USA. Dorthin war
Reich 1939 geflüchtet, hatte sich hier von der Psychoanalyse ab- und der
Erforschung von Lebensenergie, von ihm »Orgon« genannt, zugewandt. Unter
fadenscheinigen Vorwürfen wurde nicht nur 1954 die Vernichtung seiner Schriften
und Gerätschaften gerichtlich angeordnet, sondern bald darauf auch er zu einer
Haftstrafe verurteilt. Am 3. November 1957 starb Wilhelm Reich, 60-jährig, im
Gefängnis an Herzversagen.
Heute, 60 Jahre später, gehört er zu den von der
Psychoanalyse am tiefsten verdrängten ihrer frühen Exponenten. Alle, die in der
Analyse mehr sehen als eine bloße Therapiemethode, verfügen jedoch mit Reichs frühen
Werken über eine Fundgrube an streitbaren Thesen und wesentlichen
Erkenntnissen, die vielfach von bestürzend aktueller Brisanz sind.
Andreas Peglau
Das Buch im Psychosozial-Verlag: