50 Jahre nach dem Erscheinen von Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« findet vom 30. November bis zum 1. Dezember 2017 eine Tagung in Berlin statt, die nach Ambivalenz und Aktualität des Werkes fragt und die in Kooperation von der RWTH Aachen und dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin entstanden ist.
Das 1967 erschienene Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« ist ein Klassiker der Diskussion über die deutsche Vergangenheitsbewältigung. Wie so oft heißt das auch, dass der Text – und sein Titel zumal – zwar oft erwähnt, aber umso seltener gelesen wurde. Blickt man heute erneut in das Buch, ist man überrascht, dass der Titel weniger die versäumte Trauer um die ›Opfer‹ des Nationalsozialismus meint als die ausgebliebene Trauer über den Verlust des narzisstisch besetzten Führers und der eigenen Größenphantasien. Die Abwehr ›dieser‹ Trauer, so die zentrale These des Textes, habe die nationalsozialistische Vergangenheit bereits unmittelbar nach dem Krieg eigenartig »irreal« erscheinen lassen sowie die »Gefühlsstarre« und den »psychosozialen Immobilismus« hervorgerufen, der den Mitscherlichs zufolge die Nachkriegsgesellschaft charakterisiere.
Das verbreitete Missverständnis des Titels verweist nicht nur auf den historischen Abstand, der uns von dem Text trennt. Es stellt auch die Frage, ob das von ihm aufgeworfene Problem möglicherweise ebenfalls eher missverstanden oder vergessen worden ist, als dass es wirklich eine Lösung gefunden hat. Für die Mitscherlichs wäre jene – abgewehrte – Trauer um den eigenen Verlust eine Vorbedingung gewesen, um die »moralische Pflicht« der Trauer um die Opfer überhaupt leisten zu können. Heute, fünfzig Jahre später, scheinen die Opfer im Zentrum der Erinnerung zu stehen – bedeutet dies, dass die Derealisierung damit aufgehoben ist? Oder neigt auch und gerade die jüngere Erinnerung dazu, den ambivalenten Momenten der Erinnerung auszuweichen? Gibt es heute eine »Opferidentifizierung«, und wenn ja, soll man sie als Akt historischer Gerechtigkeit oder als psychische Übersprungshandlung beschreiben, die von einer Verbindung zur Tätergemeinschaft nichts mehr wissen will? Oder sollte das jüngere Interesse an deutschen Opfern – des Luftkriegs, der zweiten Generation – es nun umgekehrt ermöglichen, nach Anerkennung der Opfer nun auch die Trauer um eigene Verluste zu vollziehen?
Die Tagung soll durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text zum einen auf dessen Historisierung zielen und das Buch im Rahmen seiner Entstehungszeit und im Zusammenhang der verschiedenen Stadien seiner Rezeptionsgeschichte betrachten. Zum anderen sollen die sachlichen Fragen, die der Text einmal aufgeworfen hat, diskutiert werden: die Kritik an der Vergangenheitsbewältigung, die Zeitkritik der Wohlstandsgesellschaft, die Möglichkeit des gesellschaftlichen Nutzens der Psychoanalyse und vieles andere. Die Tagung fragt damit auch nach dem anhaltenden Irritationspotential, das der Text möglicherweise hat: Historisierung bedeutet hier auch, am Buch der Mitscherlichs unser Bild der Vergangenheit zu überprüfen.
Weitere Informationen finden Sie in unserem Veranstaltungskalender und unter www.zfl-berlin.org.
Passende Lektüre zum Thema im Psychosozial-Verlag:
 | Hans-Jürgen Wirth Alexander Mitscherlichs »Die Unfähigkeit zu trauern« als psychoanalytische Zeitdiagnose oder als sozialtherapeutische Intervention? (PDF-E-Book) psychosozial 118 (2010), 45-61
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 | Gertraud Schlesinger-Kipp (Hg.) psychosozial 78: Psychoanalyse in der Tradition Alexander Mitscherlichs (22. Jg., Nr. 78, 1999, Heft IV)
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 | Gudrun Brockhaus (Hg.) psychosozial 114: Ist »Die Unfähigkeit zu trauern« noch aktuell? Eine interdisziplinäre Diskussion (31. Jg., Nr. 114, 2008, Heft IV)
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 | Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim und Heidelberger Institut für Tiefenpsychologie (Hg.) Psychoanalyse im Widerspruch Nr. 41: Mitscherlich im Widerspruch Nr. 41/2009
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Dieser Titel ist derzeit vergriffen. |
 | Christiane Schrader, Ingrid Moeslein-Teising (Hg.) Keine friedfertige Frau Margarete Mitscherlich-Nielsen, die Psychoanalyse und der Feminismus
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Margarete Mitscherlich-Nielsen bezeichnete sich selbst als Feministin und machte sich um die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie der Weiblichkeit verdient. In Kulturdebatten und in der Psychoanalyse engagierte sie sich leidenschaftlich für die Rolle der Frau und bewahrte sich bis zu ihrem Lebensende eine imponierende intellektuelle Wachheit. Die Autorinnen und Autoren reflektieren Aspekte ihres Lebens für Psychoanalyse und Feminismus in der Gesellschaft, eröffnen so einen spannenden Rückblick und verdeutlichen die bleibende Aktualität vieler ihrer Thesen. [ mehr ] Sofort lieferbar. Lieferzeit (D): 2-3 Werktage |
 | Hans-Jürgen Wirth Das Ende einer Ära. Erinnerungen an Margarete Mitscherlich (PDF-E-Book) psychosozial 130 (2012), 129-134
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 | Horst-Eberhard Richter Alexander Mitscherlich und die Deutschen (PDF-E-Book) psychosozial 101 (2005), 95-100
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 | Johann August Schülein, Hans-Jürgen Wirth (Hg.) Analytische Sozialpsychologie Klassische und neuere Perspektiven
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Freuds kultur- und gesellschaftstheoretische Überlegungen gehören zu den einflussreichsten Konzepten des 20. Jahrhunderts. Die Beiträge des Bandes setzen sich produktiv mit Klassikern der Sozialpsychologie auseinander und bieten vielfältige Anregungen. [ mehr ] Dieser Titel ist derzeit vergriffen. |
 | Alexander Mitscherlich Psychoanalyse und Politik (PDF-E-Book) Freie Assoziation 2009, 12(2), 7-18
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 | Margarete Mitscherlich-Nielsen Wissenschaft ohne Menschlichkeit - Medizin und Antisemitismus (PDF-E-Book) psychosozial 78 (1999), 17-30
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 | Robert Heim Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft Psychoanalytische Studien zu Gesellschaft, Geschichte und Kultur
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Das Buch verleiht dem vor allem von Alexander Mitscherlich geprägten Begriff der »vaterlosen Gesellschaft« eine zeitgemäße Aktualität. In der Perspektive dieses Grundbegriffs psychoanalytischer Sozialpsychologie thematisiert der Autor die neueren Verwerfungen in der modernen Gesellschaft: Fremdenhaß, Antisemitismus, soziokultureller Sündenbockbedarf und jugendlicher Rechtsextremismus. Anhand literarischer Beispiele und am Leitfaden der Vater-Sohn-Beziehung wird die Problematik des transgenerativen Erbes des Nationalsozialismus erörtert. [ mehr ] Sofort lieferbar. Lieferzeit (D): 2-3 Werktage |
 | Robert Heim, Emilio Modena (Hg.) Unterwegs in der vaterlosen Gesellschaft Zur Sozialpsychologie Alexander Mitscherlichs
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Anlässlich des 100. Geburtstages des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich 2008 wird sein sozialpsychologisches Hauptwerk »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (1963) einer kritischen Lektüre unterzogen. Das Werk bietet als herausragendes Dokument der intellektuellen Gründung der BRD noch heute eine unabgegoltene Erklärungskraft für das Verständnis unserer Gesellschaft. [ mehr ] Sofort lieferbar. Lieferzeit (D): 2-3 Werktage |