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Horst-Eberhard Richter ist gestorben

Horst-Eberhard Richter ist gestorben
Wir trauern um unseren Autor, langjährigen Mentor und
Freund Horst-Eberhard Richter, der am 19. Dezember 2011 im
Alter von 88 Jahren verstorben ist. Fast fünf
Jahrzehnte lang wirkte Richter als Botschafter der
Psychoanalyse, indem er in Deutschland dafür Sorge
trug, dass psychoanalytische Argumente in der
Öffentlichkeit Gehör finden.
Mit der von ihm gegründeten Zeitschrift
»psychosozial«, aus der später der
Psychosozial-Verlag hervorging, und seinen zahlreichen
Büchern und Vorträgen schärfte er die
Sensibilität für die Bedeutung sozialer und
politischer Probleme bei der Bewältigung seelischer
Notlagen. Zugleich ermutigte und motivierte sein
konstruktives politisches Engagement vor allem in der
Friedensbewegung viele Menschen, eigene Initiativen zu
ergreifen, um sich in die gesellschaftlichen Konflikte
einzumischen.
Trin
Haland-Wirth
Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth
– Psychotherapeutin und Verlegerin
–
– Psychoanalytiker und Verleger –
Zum Tode von Horst-Eberhard Richter
Hans-Jürgen Wirth
Im Leserausch
Vor mehr als 40 Jahren, im Sommer 1970, ich war noch keine
20 Jahre alt, zog mich Horst-Eberhard Richters Patient
Familie in einen wahren Leserausch. Neben Sigmund
Freuds Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse und Erich Fromms Die Furcht vor der
Freiheit bescherte mir dieses Buch eine Leseerfahrung,
wie ich sie seit den Tagen meiner
Hermann-Hesse-Lektüre nicht mehr erlebt hatte. Es
eröffnete sich mir eine neue Welt, und in mir wurde
die Neugier geweckt, die psychoanalytische Erkundung der
komplexen Zusammenhänge zwischen Psyche und
Gesellschaft (den Begriff »psychosozial« hatte
Richter damals noch nicht geprägt) zum Zentrum meines
weiteren Lebens zu machen. Was ich bei Richter las, wirkte
– religiös gesprochen – fast wie eine
Offenbarung. Ich erinnere mich tatsächlich noch immer
an jenen Lese-Nachmittag, weil plötzlich meine Familie
und meine mit ihr verknüpften Ängste und
Konflikte so offen vor mir lagen. Seither hat mich die
Frage, was die psychosoziale Welt im Innersten
zusammenhält, nicht mehr losgelassen.
Biografisches
Am 28. April 1923 in Berlin geboren, wächst
Horst-Eberhard Richter als Einzelkind auf. Die Mutter
schildert er als eine sehr emotionale Frau, die sich stark
an ihn geklammert habe. Den Vater, ein erfolgreicher
Ingenieur und Abteilungsleiter einer großen Firma,
erlebt Richter als »stillen, in sich gekehrten
Grübler«. Nach Hitlerjugend und Arbeitsdienst
wird Richter 18-jährig zum Militär eingezogen und
dient in einem Artillerieregiment an der Front in Russland.
Kurz vor der Verlegung seiner Truppe nach Stalingrad
erkrankt er lebensgefährlich an Diphtherie. Mit 22
Jahren gerät er in Kriegsgefangenschaft und
erfährt erst bei seiner Rückkehr vom Tod seiner
Eltern, die zwei Monate nach Kriegsende auf einem
Spaziergang in der Nähe ihres Dorfes von zwei
betrunkenen Russen ermordet worden waren.
Nach Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie in
Berlin promoviert Richter 1949 zum Dr. phil. und 1957 zum
Dr. med. 1950 beginnt er seine psychoanalytische Ausbildung
am Berliner Psychoanalytischen Institut, die er 1954
abschließt. Bereits fünf Jahre später,
1959, wird Richter Leiter dieses Instituts und übt
diese Funktion bis 1962 aus. Gerade 41-jährig wird er
1964 zum Vorsitzenden der Deutschen Psychoanalytischen
Vereinigung (DPV) gewählt und engagiert sich in dieser
Position bis 1968.
Eltern, Kind und Neurose
Im Jahr 1963, ein Jahr nachdem er auf den zweiten deutschen
Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin, neben dem von
Alexander Mitscherlich in Heidelberg, berufen worden ist,
publiziert Horst-Eberhard Richter sein Buch Eltern,
Kind und Neurose. Zur Psychoanalyse der kindlichen Rolle in
der Familie, das kurioserweise als
Habilitationsschrift abgelehnt worden war. Richter wird
ohne Habilitation Professor und für drei Jahrzehnte
Geschäftsführender Direktor des Zentrums für
Psychosomatische Medizin an der
Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein Buch wird
in den folgenden Jahren zum einflussreichen Grundlagenwerk
für die neue psychoanalytische Behandlungsmethode der
Familientherapie, die er im deutschsprachigen Raum als
Erster entwickelt. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen als
leitender Arzt (1952 bis 1962) der »Beratungs- und
Forschungsstelle für seelische Störungen im
Kindesalter« am Berliner Kinderkrankenhaus im Bezirk
Wedding hat er seine psychoanalytische Theorie formuliert,
die es erlaubt, das Fehlverhalten von Kindern als
symptomatischen Ausdruck unbewusster Konflikte zu
verstehen, an denen die Eltern bzw. die ganze Familie
leiden. »Die Rolle des Kindes«, schreibt
Richter (1963, S. 73), »bestimmt sich also aus der
Bedeutung, die ihm im Rahmen des elterlichen Versuches
zufällt, ihren eigenen Konflikt zu
bewältigen.« Der Konflikt des Kindes wird
hervorgerufen durch die »Narzißtischen
Projektionen der Eltern auf das Kind« (Richter 1960)
– so der Titel seines Aufsatzes im Jahrbuch der
Psychoanalyse, zu dessen Herausgeberkreis er bis zu
seinem Tod gehört.
Diese Gedanken sind uns heute so vertraut, dass man sich
kaum noch vorstellen kann, wie revolutionär –
und damit sowohl anziehend als auch irritierend – sie
damals sowohl auf die psychoanalytische Fachwelt als auch
auf das interessierte Laienpublikum gewirkt haben
müssen. Vergleicht man die psychoanalytische Paar- und
Familientherapie mit anderen Formen der angewandten
Psychoanalyse, wie beispielsweise der Gruppentherapie oder
der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, so findet die
Paar- und Familientherapie noch immer nicht die Anerkennung
durch die psychoanalytischen Fachgesellschaften, die ihr
eigentlich zukommen müsste. Man kann die paar- und
familientherapeutischen Konzepte durchaus als frühe
Vorläufer der heute maßgeblichen
psychoanalytischen Schulrichtung ansehen, die unter der
Bezeichnung »relationale Psychoanalyse« bekannt
ist. Der theoretische Vordenker der relationalen
Psychoanalyse, der amerikanische Psychoanalytiker Stephen
Mitchell, nimmt zwar in seinen Büchern immer wieder
auf die grundlegende Bedeutung der Paardynamik Bezug,
allerdings ohne den naheliegenden Schritt zum
paartherapeutischen Setting zu gehen.
Als Richter 1970 sein zweites grundlegendes Buch zur
psychoanalytischen Familientherapie Patient Familie.
Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und
Familie veröffentlicht, ist er bereits ein
bekannter Autor und die psychoanalytische Familientherapie,
als deren Nestor er in Deutschland gelten kann, befindet
sich auf dem besten Wege, ein einflussreiches
psychotherapeutisches Konzept zu werden. Während
Richter mit seinem theoretischen Hauptwerk Eltern, Kind
und Neurose wissenschaftliches Neuland betritt,
entfaltet er in Patient Familie seine
Meisterschaft als sprachgewandter Autor, der mit
psychoanalytischer Einfühlung seelisches Leid zu
beschreiben und in seine beziehungsdynamischen und
gesellschaftlichen Zusammenhänge einzuordnen
weiß.
Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu
befreien
Persönlich lernte ich Horst-Eberhard Richter 1970 zu
Beginn meines Psychologiestudiums im Rahmen einer
studentischen Initiativgruppe kennen, die in der
Gießener Obdachlosensiedlung »Eulenkopf«
sozialpolitisch und sozialpädagogisch tätig ist.
Wie viele meiner sich im Aufbruch befindlichen Generation
fühle ich mich durch Richters Gedanken angezogen, und
seine in den 70er Jahren publizierten Bücher Die
Gruppe (1972), Lernziel Solidarität
(1974), Flüchten oder Standhalten (1976) und
Engagierte Analysen (1978) begleiteten mich in
diesen Jahren. Die Gruppe hat den Untertitel
Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu
befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit
Gruppeninitiativen. Dieses Buch ist Ausdruck des
geistig-kulturellen Klimas der frühen 70er Jahre und
bietet zugleich Interpretationen und Reflexionen an, um die
mit dem Jahr 1968 angebrochene Zeitenwende und die damit
einhergehende psychosoziale Neuorientierung besser
verstehen und für die Gestaltung des eigenen Lebens
nutzen zu können. Richter ist kein Anhänger der
antiautoritären Studentenbewegung der Jahre 68/69,
sondern ein Sympathisant der sanfteren Initiativ-,
Alternativ- und Ökologiebewegung der 70er Jahre und
der Friedensbewegung der 80er Jahre. Er greift die
Aufbruchstimmung der 70er Jahre auf, reflektiert aber auch
die inneren Brüche, die überzogenen
Ansprüche, die wir an uns selbst und an andere
stellen, und hilft auf diese Weise dabei mit, dass wir zu
realistischeren politischen Konzepten kommen. Dies macht
die damalige Bedeutung seines Buches aus.
Richter hat – anders als die meisten Autoren der
damaligen Zeit, die sich mit dem Phänomen der Gruppe
beschäftigten – sowohl deren politische als auch
ihre psychologische und psychotherapeutische Bedeutung
erkannt. Er hat deutlich gemacht, dass es sich hierbei
tatsächlich um eine soziale Neuerfindung handelt: Der
Typus der spontanen, hierarchiefreien und mit den Mitteln
der Selbstreflexion sich organisierenden Gruppe stellt in
der Tat ein gesellschaftliches Novum dar, das vom
emanzipatorischen Teil der Jugend- und Studentenbewegung
kreiert worden ist.
Für Richter ist die Psychoanalyse nicht nur eine
tiefenpsychologische Behandlungsmethode, sondern, und
vielleicht zuallererst, ein Instrument der Aufklärung
einer sich sozialanalytisch begreifenden Wissenschaft von
Mensch und Gesellschaft. Allein in den Jahren 1972 bis 1981
schreibt er die fünf Bücher, die diese neue
Ära eines ganzheitlichen Konzepts von Psychoanalyse
einleiten und quasi zur Pflichtlektüre für eine
breite Schicht politisch aufgeklärter Bürger
werden.
Psychiatrie-Reform
Von den sozialpolitischen Experimenten der 70er Jahre und
den neuen Arbeitsansätzen der Initiativ-, Spontan- und
Selbsthilfegruppen, von denen Richter inspiriert wird und
die er seinerseits anregt, gehen weitreichende Innovationen
im Bereich der psychosozialen Beratung und Therapie aus.
Die Besinnung auf die psychischen und sozialen
Voraussetzungen von Krankheit und Therapie und die
Entwicklung eines auf das Psychosoziale bezogenen
Gesundheits- und Krankheitsbegriffs sind ohne die
kritischen Impulse aus der Initiativgruppen-Bewegung kaum
vorstellbar. Es sind Anfang der 70er Jahre fast
ausschließlich kritische Studenten, die sich den
benachteiligten Gruppen der Gesellschaft, den
Heimzöglingen, Obdachlosen, Psychiatriepatienten usw.
zuwenden, das Gewissen der Gesellschaft wecken und sowohl
die Öffentlichkeit als auch die Fachdisziplinen
zwingen, sich mit diesen verdrängten Problembereichen
auseinanderzusetzen. Maßgeblich beteiligt ist Richter
an der Reform der deutschen Psychiatrie und
Sozialpsychiatrie, wofür er 1980 den
Theodor-Heuss-Preis erhält. Die in der
Psychiatrie-Enquête als Modell der regionalen
Selbstorganisation der psychosozialen Versorgungsdienste
empfohlene »Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft«
wird beispielsweise auf Richters Vorschlag hin dort
aufgenommen und ganz nach dem Modell der Initiativgruppe
konzipiert. Richters Fähigkeit, jeweils von allen
seinen Partnern etwas zu lernen und die in einem Feld
gewonnenen Erkenntnisse auf andere Zusammenhänge zu
übertragen, stellt eine seiner großen
Stärken dar. Nachdem Richter in der Initiativgruppe
einiges über die Kreativität von hierarchiearmen
Spontangruppen erfahren hat, versucht er sofort, etwas von
dem freien Geist, der diese Initiativgruppen prägt, in
die institutionelle Struktur seines Psychosomatischen
Zentrums und auch der »Psychosozialen
Arbeitsgemeinschaft« in Gießen zu
integrieren.
»psychosozial«: von der Zeitschrift zum
Verlag
Durch seine zahllosen Bücher, Artikel, Vorträge
und Interviews trägt Richter maßgeblich dazu
bei, dass diese zukunftsweisenden Experimente keine
Einzelerscheinungen bleiben. Dank seiner Funktion als
Vermittler, Botschafter, Interpret und kritischer Begleiter
der »Neuen Sozialen Bewegungen« – zu
denen die Frauen-, die Ökologie- und die
Friedensbewegung gehören – werden sie zu
Vorläufern einer Bewusstseinsveränderung, die
unsere Gesellschaft erheblich geprägt hat.
Zu seinen publizistischen Aktivitäten gehört auch
die Gründung der Zeitschrift psychosozial, in
deren Herausgeberkreis Richter mich früh holt. Aus
psychosozial geht später der von mir
gegründete Psychosozial-Verlag hervor, den Richter
nachhaltig unterstützt, indem er uns seine
Erfolgsbücher zur Zweitverwertung überlässt.
Danach kommen als Erstausgaben Die Krise der
Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft
(2006) und Die seelische Krankheit Friedlosigkeit ist
heilbar (2008) heraus. Richter ist insofern
Namensgeber des Psychosozial-Verlages, der sich der von ihm
vertretenen Auffassung von Psychoanalyse verpflichtet
weiß.
Psychoanalyse und empirische Forschung
Eine Vorreiterrolle hat Richter auch in Bezug auf die
Kooperation von Psychoanalyse und empirischer Psychologie:
Zusammen mit Dieter Beckmann entwickelt er bereits Anfang
der 70er Jahre einen Persönlichkeitstest, bei dessen
Konzeption psychoanalytisch relevante Kategorien besonderes
Gewicht haben.
Dieses psychologische Testverfahren bekommt den Namen
Gießen-Test (Beckmann/Richter 1972). Er wird in
zahlreichen Untersuchungen verwendet, z. B. auch in der
für die psychosomatische Medizin wegweisenden Studie
über die »Herzneurose« (Richter, Beckmann
1969). Der Gießen-Test ist im deutschsprachigen Raum
auch heute noch einer der am häufigsten verwandten
Fragebögen zur Psychodiagnostik. Zusammen mit Elmar
Brähler führt Richter periodisch Befragungen
durch, mit denen die Befindlichkeit und die Einstellungen
in der Bevölkerung erhoben werden. In weit über
1.000 Publikationen wird der Gießen-Test bislang
zitiert. Er ist in mehr als ein Dutzend Sprachen
übersetzt. Mithilfe dieses Tests wird der Name
Gießens buchstäblich in die weite Welt getragen
– zumindest in die psychologische Fachwelt.
Die Existenz eines psychoanalytisch fundierten Tests, der
auch bei den Methodikern der empirischen Psychologie
Anerkennung findet, erlaubt ganzen Generationen von
psychoanalytisch orientierten Forscherinnen und Forschern,
sich in der empirischen Psychologie wissenschaftlich zu
qualifizieren, ohne ihre psychoanalytische Orientierung
aufgeben zu müssen. Viele psychoanalytische
Kolleginnen und Kollegen verdanken ihre wissenschaftliche
Karriere nicht zuletzt dem Gießen-Test und damit
Richters frühzeitiger Öffnung der Psychoanalyse
für die empirische Forschung. Auch in der
Psychotherapie-Forschung wird der Gießen-Test
häufig angewandt. Unter Richters Leitung betreiben wir
schon in den 70er Jahren Psychotherapie-Verlaufsforschungen
und katamnestische Studien, in denen wir die Wirksamkeit
von Psychotherapie, beispielsweise die der
Paar-Kurztherapie (vgl. Richter/Wirth 1978), untersuchen.
Inzwischen sieht sich die Psychoanalyse unter dem Druck der
Gesundheitsreform und in der stärker gewordenen
Konkurrenz mit anderen psychotherapeutischen Verfahren
genötigt, sich der Psychotherapie-Erfolgsforschung zu
stellen.
Friedensbewegung und IPPNW
Bereits ab 1980 engagiert sich Richter in der
Friedensbewegung und ist 1981 einer der maßgeblichen
Gründer der westdeutschen Sektion der Ärzte gegen
den Atomkrieg (IPPNW). Er beeinflusst die politische und
inhaltliche Orientierung der bundesdeutschen IPPNW von
Anfang an in Richtung Basisdemokratie und eines kollegialen
Miteinanders. Das Engagement in der Friedensbewegung
gewinnt immer größeres Gewicht in Richters
Leben. Er verfasst die berühmte »Frankfurter
Erklärung«, in der jeder Unterzeichner sich mit
seiner Unterschrift dazu bekennt, sich jeglicher
kriegsmedizinischen Schulung und Fortbildung zu verweigern.
In etwas abgewandelter Form, als »New
Physicians’ Oath«, wird diese Erklärung,
nachdem Richter sie auf dem 2. IPPNW-Weltkongress in
Cambridge eingebracht hat, von der Weltföderation
übernommen. Im Jahr 1985, als das atomare
Wettrüsten seinen Höhepunkt erreicht, erhalten
die Internationalen Ärzte zur Verhütung des
Atomkrieges – und mit ihnen Horst-Eberhard Richter
– den Friedensnobelpreis. Der Friedensnobelpreis
dürfte die wohl höchste Ehrung sein, die man
erhalten kann. Dennoch sind nicht alle begeistert von der
Verleihung. Besonders in der damaligen deutschen Regierung
unter Helmut Kohl ist die Empörung groß, dass
eine Organisation, die man als
»Moskau-gesteuert« bezeichnet, so geehrt wird.
Richter grenzt sich immer gegen eine Vereinnahmung durch
falsche Freunde ab, lässt sich aber umgekehrt durch
Verdächtigungen auch nicht von seinem eigenen Weg
abbringen.
Sein friedenspolitisches Engagement auf internationaler
Ebene bringt Richter 1987 auch in Kontakt mit einer
Arbeitsgruppe unter der Schirmherrschaft von Michail
Gorbatschow. Zu dieser Vereinigung, die sich
»für eine atomwaffenfreie Welt und für das
Überleben der Menschheit« einsetzt, gehören
unter anderem der russische Atomwissenschaftler und
Menschenrechtler Andrej Sacharow,
Ex-US-Verteidigungsminister und Weltbank-Chef Robert
McNamara und der Gründer von Greenpeace, David
McTaggart. Von den Projekten, die diese Gruppe ins Leben
ruft, holt Richter eines an seine Klinik: Es geht um eine
psychologische Untersuchung, in der 1.400 Studierende der
Justus-Liebig-Universität Gießen und 1.000
Moskauer Studierende zu ihren Einstellungen, politischen
Meinungen, Wünsche und Ängste befragt werden.
Natürlich kommt auch der Gießen-Test zum
Einsatz. Das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung –
die noch vor dem Ende des Kalten Krieges, noch vor der
Maueröffnung stattfindet – gibt an, dass junge
Russen und Deutsche sich psychologisch viel näher sind
und viel weniger Vorurteile über den jeweils anderen
haben, als die offizielle Politik vermuten lässt. Die
Ergebnisse publiziert Richter 1990 in dem Buch Russen
und Deutsche. Alte Feindbilder weichen neuen
Hoffnungen. Wieder taucht das Wort Hoffnung in einem
seiner Buchtitel auf.
Als die Friedensbewegung nach dem NATO-Krieg gegen
Jugoslawien 1999 von den Medien für tot erklärt
wird, organisiert Richter als Antwort darauf zusammen mit
der IPPNW den Kongress »Kultur des Friedens«
(Richter 1999): Die große Teilnehmerzahl
demonstriert, dass die Friedensbewegung in Deutschland sich
gewandelt hat, aber keineswegs gestorben ist.
»Erinnern hilft vorbeugen«
Die erinnernde Bearbeitung der nationalsozialistischen
Vergangenheit stellt das zentrale Motiv für Richters
politisches Engagement dar. Schon mit Eltern, Kind und
Neurose hatte Richter ein theoretisches Konzept
formuliert, mit dem die unbewussten Verstrickungen der
Generationen, die transgenerationale Weitergabe von
Traumata und von unbewussten Konflikten, psychoanalytisch
verstanden werden konnte. Der Begriff der
transgenerationale Weitergabe von Traumata sollte erst
viele Jahre später von der Holocaustforschung
geprägt werden, aber die zugrundeliegende Psycho- und
Beziehungsdynamik wird von Richter bereits Anfang der 60er
Jahre konzeptuell begriffen. Er selbst und andere Autoren
haben diese Koinzidenz rückblickend auch so gesehen.
Bemerkenswert ist allerdings, dass auch Richter seinerzeit
die übergreifende historisch-politische Bedeutung
seines Eltern-Kind-Konzepts nicht klar war. Der Holocaust
und die anderen Verbrechen des Nationalsozialismus waren
noch so abgespalten vom allgemeinen Bewusstsein, dass sie
nicht thematisierbar waren. In Patient Familie
drängt sich die latente Bedrohung durch das
verleugnete Thema Nationalsozialismus noch eindringlicher
auf, ohne dass es zu einer bewussten Thematisierung
gekommen wäre. Die massenhafte Verbreitung
angstneurotischer Familienstrukturen, die Richter für
die fünfziger und sechziger Jahre konstatiert,
lässt sich nach Überlegungen von Tilman Moser
(1995) auf die »Schweigegebote« über die
»Schrecken der Vergangenheit«
zurückführen. Um sich nicht mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontieren zu
müssen, klammerten sich viele Familien »mit
Hilfe von Vermeidungs- und Verleugnungstaktiken an die
Illusion einer friedlichen, guten, geordneten Welt«
(Richter 1970) und organisierten ihr familiäres
Zusammenleben nach dem Vorbild eines harmonischen und
konfliktfreien Sanatoriums. Für das Verhältnis
der Eltern zu ihren Kindern hatte dies zur Folge, dass
diese ängstlich überbehütet und phobisch
gebunden wurden. Die Jugend- und Protestbewegung der
sechziger Jahre kann unter anderem auch als ein Aufstand
gegen diese überfürsorgliche und als einengend
empfundene Bevormundung sowie als erste emotional
bedeutsame Thematisierung der verleugneten deutschen
Vergangenheit verstanden werden.
Erst im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte und
dem erneuten Wettrüsten zwischen der NATO und dem
Warschauer Pakt Anfang der 80er Jahre kommen Richter die
Erinnerungen an die Grausamkeiten des zweiten Weltkrieges,
seine eigenen Kriegserlebnisse und die Unmenschlichkeit des
Nationalsozialismus zu vollem Bewusstsein. Richter
prägt das Motto »erinnern hilft
vorbeugen«, unter das die bundesdeutsche Sektion der
»Internationalen Ärzte für die
Verhütung eines Atomkrieges« (IPPNW) ihre
Kampagne von 1985 stellt, mit der sie die öffentliche
Diskussion und Auseinandersetzung mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit zu einem zentralen
Anliegen ihres Kampfes für die Beendigung des
Wettrüstens macht. Dem liegt der Gedanke zugrunde, die
Beschäftigung mit den Verbrechen des
Nationalsozialismus könne unsere Wahrnehmung für
die psychischen und sozialen Umstände sensibilisieren,
die die »psychische Krankheit Friedlosigkeit«
(eine Formulierung, die Richter von Carl Friedrich von
Weizsäcker [1967] übernimmt) bedingen. Unsere
Friedensfähigkeit heute – so lautet Richters
Überlegung – hänge entscheidend von der
Bereitschaft ab, zu erinnern und im Gedächtnis zu
bewahren, welche Verbrechen von den Deutschen an den Juden
und an den Nachbarvölkern begangen wurden, so wie
umgekehrt das aktive Eintreten für die
Überwindung der Konfrontation zwischen den
Militärblöcken und die Beschäftigung mit den
psychischen und gesellschaftlichen Bedingungen des
paranoiden Freund-Feind-Denkens nahezu zwangsläufig
dazu führe, dass man sich mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen
beginne. Insofern knüpft Richter an die berühmte
Zeitdiagnose Alexander und Margarete Mitscherlichs
von der Unfähigkeit zu trauern (1967) an,
wendet diese aber in ein sozialtherapeutisches Konzept, das
originär psychoanalytischen Erfahrungen folgt: die
erinnernde Bearbeitung der traumatischen Vergangenheit
befreit auch auf der kollektiven Ebene von dem Zwang, die
alten Traumata zu wiederholen und eröffnet neue Denk-
und Handlungsräume.
Die RAF verstehen?
Es gehört zur zentralen Aufgabe des Psychoanalytikers,
sich mit den dunklen, den verdrängten, ja auch den
bösen und destruktiven Seiten des menschlichen Lebens
zu beschäftigen. Da ein tieferes psychologisches
Verständnis nur möglich ist, wenn man sich
einfühlend und emotional nachvollziehend auf den
anderen einlässt, entsteht für den
Außenstehenden oft das Missverständnis,
Verstehen sei mit Rechtfertigung, gar mit Parteinahme
gleichzusetzen. Als Richter die Ex-Terroristin Birgit
Hogefeld im Gefängnis betreut, wird ihm genau dieser
Vorwurf gemacht, er sei ein »RAF-Versteher« und
rechtfertige damit – zumindest indirekt – deren
terroristische Taten. Tatsächlich geht es Richter
jedoch darum, über das mitfühlende
Verständnis der ehemaligen Terroristin die
Rückkehr in die Gesellschaft zu
ermöglichen.
Psychoanalyse als Sozialphilosophie
Richter hat nicht nur seine theoretischen Interessen,
sondern ebenso seine praktischen Forschungsstrategien und
schließlich auch seine Versuche der
praktisch-therapeutisch-politischen Beeinflussung vom
Individuum auf die Zweierbeziehung, von dort auf die
Familie, von der Familie auf die Gruppe, von der Gruppe auf
den Stadtteil und die regionalen psychosozialen
Versorgungssysteme ausgeweitet, um bei sozialen Bewegungen,
politischen Entscheidungsträgern (Die hohe Kunst
der Korruption), der Interaktion zwischen Völkern
(Russen und Deutsche) und schließlich bei
philosophischen Betrachtungen (Der Gotteskomplex)
anzukommen. Der Gotteskomplex (1979) wird sein
psychoanalytisch-sozialphilosophisches Hauptwerk, in dem
er, auf Eltern, Kind und Neurose aufbauend, an
Sigmund Freuds Begriff des »Prothesengottes«
aus dem Unbehagen in der Kultur (1933)
anknüpfend, sein Verständnis des Grundproblems
des modernen Menschen entwickelt. Richters weit ausholende
These setzt beim Übergang aus der religiösen
Geborgenheit des Mittelalters in die aufgeklärte
Neuzeit an. Nach dem Verlust der mittelalterlichen
Gotteskindschaft floh der Mensch in die Identifizierung mit
göttlicher Allmacht und Allwissenheit. Der Glaube an
Gott wurde durch den Glauben an die Allmacht des Menschen
ersetzt. »Die grandiose Selbstgewissheit des Ich ist
an die Stelle der Geborgenheit in der großen
idealisierten Elternfigur getreten. Das individuelle Ich
wird zum Abbild Gottes.« Der Versuch, die
Schattenseiten des Lebens – Alter, Krankheit,
Gebrechlichkeit, Schwäche, Ohnmacht und
schließlich der Tod – durch die
übertriebene Betonung der entgegengesetzten
Eigenschaften – Jugendlichkeit, Gesundheit, Fitness,
Stärke, Macht und Todesverachtung – zu
verleugnen, bezeichnet Richter als »Krankheit, nicht
leiden zu können«. Wer aber nicht leiden will,
der muss hassen und sucht sich dafür
Sündenböcke, auf die er die eigenen verleugneten
schwachen Seiten projizieren kann, so lautet seine
psychoanalytisch fundierte Schlussfolgerung.
Botschafter der Psychoanalyse
Es bedarf eines großen Mutes und einer starken
Selbstgewissheit, um mit der sozialen Isolationsdrohung und
Ächtung fertig zu werden, die Richter aus der
Professoren-Kollegenschaft der Ärzte, teilweise aber
auch von seinen Psychoanalytiker-Kollegen nicht selten
entgegenschlagen. Indem er sich beharrlich der
Auseinandersetzung mit dieser Kollegenschaft stellt,
gewinnt er die Kraft, sich von den Zwängen und
Denkverboten, die die verschiedenen Rollen mit sich
bringen, zu distanzieren. Ich schätze an Richter
besonders, dass er ein Neuerer des psychoanalytischen
Denkens ist, der den Kontakt zur Psychoanalyse nicht
abgebrochen hat, der keine eigene, mehr oder weniger
sektiererische Schule gegründet hat, wie es in der
Geschichte der Psychoanalyse so häufig passiert ist.
Vielmehr hat er seine Gedanken in den Strom der
psychoanalytischen Diskussion einfließen lassen.
Bezeichnenderweise ist er es, der nach seiner Emeritierung
in Gießen von 1992 bis 2002 die Leitung des
unmittelbar von der Schließung bedrohten
Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt übernimmt und
dieses in eine gesicherte Zukunft führt.
Richter wirkt in der Öffentlichkeit als ein
Botschafter der Psychoanalyse, der in Deutschland neben
Alexander und Margarete Mitscherlich wie kein anderer dazu
beigetragen hat, dass psychoanalytische Argumente in der
Öffentlichkeit Gehör finden. Mit seinen
Publikationen, die sich an eine breite Leserschaft richten,
betreibt er eine Art »psychoanalytischer
Volksaufklärung«, wie sie in den Anfängen
der psychoanalytischen Bewegung zum Selbstverständnis
vieler Psychoanalytiker gehörte. Sowohl die
Psychoanalyse in Deutschland als auch die
Öffentlichkeit haben dem »psychoanalytischen
Publizisten« Richter viel zu verdanken:
Unzählige Menschen sind durch ihn darauf aufmerksam
gemacht worden, dass es so etwas wie Psychoanalyse und
psychotherapeutische Hilfe für ihre seelischen
Probleme überhaupt gibt. Auf der anderen Seite
wäre auch die psychoanalytische Gemeinschaft ohne den
»politischen Psychoanalytiker« Richter
ärmer: Seine Bücher und Ideen haben unsere
Sensibilität für die Bedeutung sozialer und
politischer Probleme bei der Bewältigung unserer
unbewussten Konflikte geschärft und deutlich gemacht,
dass die Psychoanalyse nicht in einem gesellschaftsfreien
Raum existiert. Zugleich ermutigt und motiviert sein
konstruktives politisches Engagement viele Menschen –
außerhalb und innerhalb der Psychoanalyse –,
eigene Initiativen zu ergreifen, um sich in
gesellschaftliche Konflikte einzumischen.
Horst-Eberhard Richter als Charismatiker
Doch wie gelang es Horst-Eberhard Richter, über einen
Zeitraum von fast 50 Jahren, so beständig und
einflussreich in der öffentlichen Diskussion
präsent zu bleiben, und das mit so belastenden Themen
wie Randgruppen, Vorurteilen und Krieg? Dies hängt mit
einer Eigenschaft zusammen, die der Soziologe Max Weber als
Charisma bezeichnet. Die charismatische Persönlichkeit
wird von einer besonderen Aura umgeben, die auf andere
motivierend und faszinierend wirkt. Charismatische
Persönlichkeiten haben die Vision einer besseren
Zukunft, sie verfügen über Selbstvertrauen,
Entschlossenheit und Ausdauer, sie besitzen eine
außergewöhnliche Bereitschaft zum Risiko und
scheuen keine persönlichen Wagnisse, sie leben ihre
Vision vor, fungieren als Sprachrohr der Gemeinschaft und
sind anregende Kommunikatoren, die ihre Botschaften
einfallsreich und emotional ansprechend vermitteln. Richter
verkörpert wie kaum ein Zweiter den Glauben und die
Hoffnung auf eine bessere, friedlichere und gerechtere
Welt, auch wenn er diese Utopie häufig in eine Frage
kleidet: Sind wir zum Frieden fähig? (1980)
oder: Ist eine andere Welt möglich? (2003).
Richter ist deshalb häufig als »Gutmensch«
belächelt worden. Das hat ihn zwar geärgert und
gekränkt, aber er hat diese Bezeichnung auch als
Auszeichnung verstanden und sich in der Rolle des
»Mahners«, des »Gutmenschen«, des
»Gewissens der Nation«, gar des
»Psychotherapeuten der Nation« (Johannes Rau)
wohlgefühlt.
Horst-Eberhard Richter war nicht nur der Mahner, der
gesellschaftliche Missstände anprangert, sondern auch
der Verkünder des Prinzips Hoffnung, der konkrete
Modelle entwirft, wie etwas zum Besseren gewendet werden
kann. Es ist diese besondere Kombination von mahnender
Kritik und hoffnungsvollem Optimismus, die seinen
Botschaften bei so vielen Menschen so große Resonanz
beschert hat.