Rezension zu Ekel als Folge traumatischer Erfahrungen
Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder, Februar 2010
Rezension von Thomas Reinert
Nun, das Thema ist sicher keines, dem man sich spontan und mit
Freude zuwendet. Jedoch: Wer Psychotherapie betreibt und mit
schwer-gestörten und komplex traumatisierten PatientenInnen
arbeitet, wird mit »Ekel« in der einen oder anderen Weise
zwangsläufig konfrontiert werden und sich damit auseinandersetzen
müssen. Umso verdienstvoller ist es, wenn die Veranstalter vom
Trauma-Institut Leipzig den Mut hatten, zu diesem tabuisierten
Thema im Juni 2009 einen ganzen Kongress durchzuführen. Auf diesem
basiert das nun im Psychosozial-Verlag erschienene Buch. Aber, um
das gleich zu sagen: Es handelt sich keineswegs um einen ȟblichen
Kongressband«, der letztlich eigentlich nur für die Teilnehmer der
Veranstaltung so richtig interessant wäre. Nein, das Buch geht in
seinem Gehalt weit über die vorgetragenen Bearbeitungen des Themas
hinaus: In insgesamt achtzehn Einzelbeiträgen wird es vielmehr in
einer imponierenden Bandbreite behandelt, die erlaubt, sich über
wohl alle wesentlichen Aspekte dieses Phänomens umfassend zu
informieren, das in seiner Bedeutung für das psychotherapeutische
Geschehen sicherlich bisher sehr stark unterschätzt wurde. Und,
ebenfalls sehr erfreulich: Die Beschäftigung mit der Problematik
geschieht Schulen-übergreifend: Psychosomatiker, Trauma- und
Körpertherapeuten, Psychotherapeuten und Psychoanalytiker steuern
die jeweils eigenen Aspekte zur Thematik bei, wodurch sich
einerseits reizvolle Vergleichsmöglichkeiten verschiedener
Arbeitsweisen ergeben, andererseits jedoch auch schnell auffällt,
dass sich die Sichtweisen wunderbar ergänzen und dass es folglich
ausgesprochen sinnvoll ist, sich jeweils von den KollegenInnen
anderer Schulen »inspirieren« zu lassen. Darüber hinaus kommen in
dem Buch, auch Betroffene zu Wort, was sonst in Fachbüchern leider
selten der Fall ist. Entstanden ist ein Reader, der zweierlei
ermöglicht: Man kann sich mit der Gesamt-Lektüre einen
ausgesprochen tief gehenden Einblick in dieses Tabu-Thema
verschaffen und damit die eigenen therapeutischen Kompetenzen
sicher erweitern, möglich ist aber durch die in sich
abgeschlossenen Kapitel auch die sinnvolle Beschäftigung mit
Einzelaspekten, die vielleicht gerade im Rahmen der eigenen Arbeit
von besonderem Interesse sind.
Das Spektrum des Bandes reicht vom Selbst-Bericht Betroffener, über
Affekt- und Bindungs-theoretische Erörterungen, tiefenpsychologisch
bzw. psychoanalytische Aspekte über meist sehr eindrucksvolle
Fall-Vignetten bis zur hochrangigen wissenschaftlichen
Untersuchung.
In verschiedenen Beiträgen wird die bisher erschienene Literatur
zum Thema ausschöpfend, aber keineswegs langatmig, dargestellt.
Dabei wird schon erkennbar, dass der »Ekel« als ganz wesentlicher
Affekt offenbar einerseits als »Grundausstattung« mit auf die Welt
gebracht wird, andererseits aber durch unmittelbare Welt-Erfahrung,
durch Erziehung und auch durch die individuelle
»Fiktions-Entwicklung« die unterschiedlichsten Ausformungen
erfährt. Einerseits ist Ekel ein Schutz-Mechanismus, der uns warnt,
Abstand nehmen, vermeiden lässt, andererseits kann er zum
Abwehrmechanismus werden, der dann eher Entwicklung be- oder
verhindert, in extremer Ausformung aber auch die Lebensbewegung
massiv blockieren kann. Dieser Aspekt ist vor allem bei komplex
traumatisierten PatientenInnen von elementarer Bedeutung: Hier ist
der Ekel u.U. der »Leit-Affekt«, der bei entsprechend kompetenter
Herangehensweise als oft einziger greifbarer Hinweis auf eine sehr
frühe Traumatisierung (bis in den Pränatalbereich hinein)
aufgegriffen und dessen Bearbeitung dann zum Wendepunkt der
Therapie, u.U. damit aber auch des ganzen Lebens des bzw. der
Betroffenen werden kann. Einen wichtigen Teil des Buches stellen
deshalb sehr anschauliche Kapitel dar, in denen über
trauma-therapeutische Arbeit konkret berichtet wird; es werden in
diesem Zusammenhang sehr überzeugend sinnvoll einsetzbare
»beseelbare« Therapie-Objekte vorgestellt, die z.B. in der
Erarbeitung einer notwendigen Grenzziehungsfähigkeit und der
Bewusstmachung, was Nähe bzw. Ferne-Regulation bedeutet, eine
ausgesprochen Bereicherung der therapeutischen
Interventions-Möglichkeiten sowohl in der Trauma-, als auch der
Körpertherapie und der körperorientierten Psychoanalyse sein
können.
Und schließlich schlägt der Band auch noch einen Bogen zwischen
»Ekel« und »Kultur«: In sehr akribisch zusammengestellten
Beispielen werden (zum großen Teil bekannte, z.T. direkt berühmte)
Darstellungen von Ekel und Ekelhaftem in der Kunst vorgestellt und
themenbezogen interpretiert.
Insgesamt bietet das im übrigen sehr gut lesbare vorliegende Werk
eine gelungene Synthese aus Wissenschaft und Praxis zu einem Thema,
mit dem zu beschäftigen man sich normalerweise wohl eher als
unangenehm vorstellen würde: hier ist es gelungen, die Lektüre
spannend, in jeder Hinsicht informativ und zuweilen paradoxerweise
fesselnd zu machen.
Das Buch kann allen PsychotherapeutInnen sowie BeraterInnen und
SozialarbeiterInnen nur vorbehaltlos empfohlen werden.