Rezension zu Borderline-Mütter und ihre Kinder
KONTAKT 4/2007
Rezension von Daniela Schreyer
»Das erste, was wir im Leben verstehen müssen, ist unsere Mutter.
Die Tatsache, dass wir ihr Gesicht erkennen, den Klang ihrer
Stimme, die Bedeutung ihres Gesichtsausdrucks und das was ihre
Stimmungen uns sagen, ist etwas so Universelles, Natürliches und
Normales, es ist so wesentlich für unser Überleben, dass wir kaum
einen Gedanken daran verschwenden. ...Indem wir unsere Mütter
verstehen, machen wir den ersten Schritt, uns selbst zu verstehen.«
(S. 9) so die Autorin in ihrem Vorwort.
C. A. Lawson arbeitet als klinische Sozialarbeiterin in eigener
Praxis in Indianapolis und hat das vorliegende Buch für
Borderline-Mütter und ihre Kinder geschrieben. Ihre Erfahrungen
schöpft sie aus der Therapie dieser Kinder, die sich als junge
Erwachsene an sie wenden, weil sie aufgrund der verwirrenden
Beziehung mit ihren Müttern oft nicht gelernt haben, sich selbst
und ihre eigenen Gefühle zu verstehen.
Anfangs beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, was
Borderline-Mütter, die sie »Als-ob-Mütter« nennt, in ihren Kindern
auslösen. Folgende Gedanken nennt sie als typisch für Kinder mit
einer Borderline-Mutter: »Ich weiß nie, was mich erwartet.« »Ich
vertraue ihr nicht.« »Sie sagt, es ist nichts geschehen.« »Bei ihr
fühle ich mich schrecklich.« »Alle andern denken, sie sei ganz
großartig.« »Es geht immer um alles oder nichts.« »Sie ist so
negativ.« »Sie flippt aus.« »Manchmal kann ich sie nicht
ausstehen.« »Sie macht mich verrückt.«
Borderline-Mütter können aufgrund ihrer eigenen Störung
wesentlichen mütterlichen Funktionen nicht gerecht werden. Das
»Dunkel im Inneren einer Borderline-Mutter« (S. 39) zeigt sich laut
Lawson in Form von vier Charakterprofilen: Das verwahrloste Kind.
Die Einsiedlerin. Die Königin. Die Hexe. Anhand dieser Typologien
arbeitet sie die jeweils zentrale Grundproblematik dieser Frauen
und ihre Merkmale heraus und beschreibt, wie diese Schwierigkeiten
die Entwicklung ihrer Kinder beeinträchtigen kann.
So ist das »verwahrloste Kind« beispielsweise von Hilflosigkeit und
dem Gefühl, immer Opfer zu sein, geprägt. Ihre Kinder werden
abwechselnd verwöhnt und vernachlässigt und schon sehr früh in die
Elternrolle gedrängt, in der sie sich für das Wohlergehen ihrer
Mutter verantwortlich fühlen. Ihre Einstellung »Das Leben ist zu
schwer« wird an die Kinder weitergegeben, die oft Zeit ihres Lebens
um ihre Daseinsberechtigung kämpfen müssen oder sich in
Allmachtsphantasien flüchten.
Die »Einsiedlerin« wird von Angst dominiert. Sie fühlt sich leicht
verfolgt, zieht sich daher auch gerne in sich selbst zurück und ist
sehr besitzergreifend und kontrollierend gegenüber ihren Kindern,
die häufig im Mittelpunkt ihres sozialen Lebens stehen. Ihr Motto
»Das Leben ist zu gefährlich«, gibt ihren Kindern die Botschaft,
dass sie nicht fähig sein können, das Leben alleine zu
bewältigen.
Die »Königin« ist gefüllt mit Leere und fühlt sich benachteiligt
und voll mit Neid und Eifersucht. Sie stellt sich gerne zur Schau,
hungert nach Spiegelung in den Augen anderer, fordert absolute
Loyalität und wirkt oft stark und ehrgeizig. Ihr Motto »Alles dreht
sich um mich« löst in ihren Kindern das Gefühl aus, nur durch
Perfektion liebenswert zu sein und den Ansprüchen der Mutter
letztlich nie gerecht werden zu können.
Die »Hexe« ist von vernichtender. sadistischer Wut beherrscht,
schürt Konflikte, zettelt Verleumdungen an, ist herrschsüchtig und
verletzt ständig die Grenzen anderer. Die Kinder einer Frau, die
meint »Das Leben ist Krieg«, wachsen in einer hoffnungslosen
Situation geprägt von Wut, Angst und Selbsthass auf.
Kinder von Borderline-Müttern leben in einer gespaltenen Welt und
werden von ihren Müttern als entweder »gute« oder »böse« Kinder
erlebt, Rollenzuschreibungen, die diese Kinder nicht selten
verinnerlichen, die mit ihrer wahren Persönlichkeit aber nichts zu
tun haben. »Eine Therapie hilft den Kindern von Borderline-Müttern,
ihre Gefühle zu organisieren und auszudrücken, und sie kann ihnen
helfen, ihrer Existenz eine Bedeutung zu geben.« (S. 156)
Auch die Väter könnten einen Beitrag dazu leisten. »Die
Charakterstruktur des Vaters kann die pathologische Dynamik
zwischen Mutter und Kind entweder verfestigen oder ein gesundes
Gegengewicht bilden, was davon abhängig ist, in welchem Maße er
selbst in seiner Kindheit eine gesunde Form der Liebe erfahren
hat.« (S. 157)
Leider hat laut Lawson eine »Als-ob Mutter« nicht selten einen
»Märchen-Vater« an ihrer Seite, der seine Kinder nicht schützen
kann »weil er die Erinnerung daran, wie er selbst als Kind verletzt
wurde, verdrängt hat.« (S. 178). Mit ihrer Vorliebe für die
Verwendung von Bildern beschreibt die Autorin die Väter als
»Froschkönig«, »Jäger«, »König« und »Fischer«.
In den letzten Kapiteln beschäftigt sich die Autorin damit, wie die
Kinder mit ihren Borderline-Müttern konstruktiv umgehen können: Das
verwahrloste Kind lieben können, ohne es retten zu wollen: die
Einsiedlerin lieben, ohne ihrer Angst Nahrung zu geben: die Königin
lieben, ohne ihr untertan zu werden: mit der Hexe leben, ohne ihr
Opfer zu werden. In einem 3-Schritte Programm gibt sie eine
hilfreiche Anleitung, wie sowohl die eigene Person als auch das
eigene Wollen und Nicht-Wollen der Borderline-Mutter
gegenübergestellt und vertreten werden kann und damit Abgrenzung
passiert.
Die Schlagworte lauten:
»Ich bin...« - um deutlich zu machen, dass man von der Mutter ein
abgegrenztes Leben führt, die Loslösung zu bekräftigen und Distanz
zu schaffen.
»Ich werde...«- um Struktur zu schaffen
»Ich werde nicht...« - um die Konsequenzen zu klären.
»Kinder von Borderline-Müttern verbringen oft ihr ganzes Leben mit
dem immer neuen Versuch, ihre Mutter und sich selbst zu verstehen.
Ständig sind sie damit beschäftigt, die mögliche Bedeutung einer
Interaktion herauszubekommen oder ihre eigenen Wahrnehmungen wie
auch die Intentionen der anderen zu überprüfen.« (S. 264)
Lawson meint daher, dass es Sinn macht, wenn erwachsene Kinder von
Borderline-Müttern um der Zukunft willen in die Vergangenheit
zurückkehren, denn »die zweite Hälfte ihres Lebens kann zur besten
ihres Daseins werden, wenn es ihnen gelingt, ihr wahres Selbst
auszugraben...« (S. 265) Ohne innere Auseinandersetzung mit der
Borderline-Mutter wird es schwer möglich sein, von ihr Abstand zu
finden.
Diese Auseinandersetzung kann auch durch dieses Buch angeregt
werden. Das Buch kann für viele der erwachsenen Kinder von
Borderline-Müttern sicherlich kein Ersatz für eine
psychotherapeutische Unterstützung, dennoch aber eine wertvolle
Hilfe zum Verständnis der eigenen Kindheit mit all ihren
verwirrenden, befremdlichen und damals nicht mit Worten benennbaren
Erlebnissen und Gefühlen sein. Neben dieser Klärung, gibt die
Autorin auch viele praktische Tipps, wie ein Umgang mit der
Borderline-Mutter jetzt im Erwachsenenleben konfliktärmer gestaltet
werden kann.