Rezension zu Erich Fromm als Therapeut
Fromm Forum 14/2010
Rezension von Helmut Johach
Der von Rainer Funk herausgegebene Band, der zum größten Teil aus
Beitragen namhafter, bei Fromm ausgebildeter Therapeutinnen und
Therapeuten besteht, sucht eine empfindliche Lücke zu schließen.
Erich Fromm hat nämlich, obwohl er seit seinem 30. Lebensjahr als
Psychoanalytiker tätig war und zu Freud und der Entwicklung der
Psychoanalyse häufig Stellung bezogen hat, über seine eigene Art zu
therapieren so gut wie nichts veröffentlicht. In den ersten zehn
Bänden der Gesamtausgabe, die das von Fromm zu Lebzeiten
Veröffentlichte enthalten, findet sich weder die Schilderung eines
Behandlungsverlaufs noch eine Darstellung und Begründung seiner
eigenen psychoanalytischen »Technik«. Möglicherweise hätte das
mehrbändige Werk über die Psychoanalyse, das er im Alter zu
schreiben beabsichtigte, einige Angaben dazu enthalten, aber dieser
Plan wurde von ihm fallen gelassen, als er Haben oder Sein (1976)
zu schreiben begann.
Sein Schweigen zur eigenen Praxis der Psychoanalyse hat tiefere
Gründe: Fromm wollte nie eine therapeutische »Schule« begründen und
sich selbst als Vorbild für andere Therapeuten hinstellen; vielmehr
war er der Meinung, dass der angehende Psychoanalytiker mit dem,
was er während seiner Ausbildung bei erfahrenen Therapeuten
»lernen« könne, seinen eigenen Weg gehen müsse. Der Verzicht auf
eine objektivierende Darstellung seiner therapeutischen Tätigkeit
wurde ihm jedoch angekreidet, bis hin zu der abwegigen Behauptung,
er sei nicht »mit seinem ganzen Herzen« Therapeut gewesen, sondern
er habe diesen Beruf nur ausgeübt, um eine Basis für seine
»spekulativen Neigungen« als Sozial- und Religionsphilosoph zu
haben (Josef Rattner). Dass Fromm sehr wohl »mit ganzem Herzen«
nicht nur beim Schreiben seiner Bücher, sondern auch als
praktischer Psychoanalytiker in seinen Therapien und Supervisionen
»present« war, belegen dagegen die hier gesammelten Erinnerungen
von Analysandlnnen und SchülerInnen aus der Zeit seinen Wirkens an
psychoanalytischen Ausbildungsinstituten in den USA und Mexiko, ehe
er sich nach Locarno in der Schweiz zurückzog, wo Rainer Funk sein
letzter Assistent war.
Der Band wird eröffnet mit zwei bereits in GA XII aus dem Nachlass
veröffentlichten Vorträgen, die Erich Fromm 1959 und 1964 am
William Alanson White Institute in New York gehalten hat. An diesem
Ausbildungsinstitut, dem Fromm lange angehörte, wurde eine
»revisionistische« Auffassung der Psychoanalyse vertreten, die die
Freudsche Trieb- und Libidotheorie durch eine »interpersonelle
Beziehungstheorie« ersetzte und auch in der psychoanalytischen
Behandlung die Wichtigkeit der interpersonellen Beziehung anstelle
von Übertragung und deren Deutung betonte. Fromm radikalisiert
diese Position in gewisser Weise, indem er ein »Bezogensein aus der
Mitte« (S. 37) für den therapeutischen Prozess als erstrebenswert
und notwendig erachtet. Auch wenn Übertragungen mit ihrem
kindlichen Anteil nie ganz ausgeschlossen werden können, zielt das
psychoanalytische Gespräch doch primär auf die Begegnung zwischen
zwei Erwachsenen, bei der es darum geht, die »unbewusste
Wirklichkeit eines Menschen aufzudecken«, in der Überzeugung, dass
dies dazu beitragen kann, dass es ihm schließlich »besser geht« (S.
60). Dieses Ziel, in dem sich Fromm mit Freud und der Tradition der
Psychoanalyse einig weiß, wird bei ihm jedoch auf eine Weise
angestrebt, die die klassische »Abstinenz« des Analytikers, zu der
immer auch eine gewisse innere Distanz gehört, hinter sich lässt.
Das impliziert den Verzicht auf die Couch, »ganzheitliches« Erleben
in »direktem« Kontakt und eine innere Einstellung, die vom
Interesse am »Wachstum« des Klienten getragen ist.
Dass dies keine leeren Worte sind, sondern dass Fromms eigenes
Vorgehen in der Therapie dem entspricht, was er in seinen Vorträgen
für den Therapeuten fordert, geht aus den Schilderungen von
Schülern und Supervisanden hervor, die den zweiten und dritten Teil
des Buches ausmachen. Von den meisten wird seine Fähigkeit zu
direktem Kontakt hervorgehoben. Außer der Stimme war das Auge für
ihn ein wichtiges Kontaktorgan. So schreibt eine Supervisandin
(Ruth Lesser) über die besondere Art von Fromms Blickkontakt:
»Seine Augen waren ungeheuer ausdrucksstark. Manchmal schienen sie
durchdringend zu sein und spiegelten seinen Wunsch wider, jeden
Schwindel und jede Ausflucht zu unterbinden. Dann konnten sie auch
schelmisch und humorvoll funkeln. Schließlich konnten sie auch eine
tief empfundene Wärme und Zärtlichkeit mitteilen« (5. 120).
Als ein weiteres Merkmal von Fromms Art des Kontakts wird seine
Präsenz hervorgehoben. Er war immer »ganz gegenwärtig« (5. 157),
was besagt, dass er sich auf den jeweiligen Dialogpartner, auf den
Inhalt des Gesagten und auf seine eigenen Reaktionen gleichermaßen
konzentrierte und offen aussprach, was er dabei empfand, wobei er
mit einem »Schauen Sie, hier…« (5. 157) seine Bemerkungen zu dem,
was ihm aufgefallen war, einzuleiten pflegte. In dem, was er sagte,
konnte er sehr direkt sein, was von manchen als ein Zeichen für
mangelnde Sensibilität und gelegentlich auch als verletzend
ausgelegt wurde, was aber nicht verletzend gemeint war. Seine
Direktheit war ein »Mittel, um einen Menschen zu berühren, ohne mit
ihm körperlichen Kontakt zu haben« (5. 114). Fromm war der Meinung,
dass man »niemanden vor dem schützen sollte, was er zu hören
bekommen musste« (5. 112). Damit sprach er nicht die Schwächen,
sondern die Fähigkeiten des Anderen an; der Klient sollte sich
nämlich »wachgerüttelt fühlen, aber nicht am Boden zerstört«
(ebd.)
Als eine besondere Stärke Fromms erscheint seine Fähigkeit, die
»entscheidenden Strebungen und Probleme eines Patienten relativ
schnell zu erkennen« (5. 101). Im therapeutischen Kontakt ging es
ihm nicht sosehr um die Förderung der Regression – allzu tief in
die Vergangenheit einzutauchen, erschien ihm eher problematisch,
weil es zu einem Festhalten an der Kindrolle führen kann. Vielmehr
ging es um die aktuell erkennbaren Aspekte der Persönlichkeit,
insbesondere solche, die dem anderen nicht bewusst waren oder die
er nicht wahrhaben wollte. Dementsprechend suchte er die Anteile
von Übertragung und Gegenübertragung gering zu halten. Er sprach im
anderen den Erwachsenen an und konnte auch noch »bei jemandem, der
schwer Schaden genommen hatte, die Wachstumsmöglichkeiten sehen«
(5. 115).
Fromm bezeichnet seine eigene Art zu therapieren als »humanistische
Psychoanalyse« (GA IM 5. 5), wobei er einerseits ein humanistisches
»Menschenbild« mit der Fähigkeit, sich »weiterzuentwickeln und zu
vervollkommnen« (GA IX, 5. 19), andererseits das von »Humanität und
echter Freundlichkeit« (GA I, 5. 131) geprägte Vorbild Groddecks
und Ferenczis vor Augen hat. So wendet er den »humanistischen« Satz
des Terenz, dass »nichts Menschliches mir fremd« ist (,»Humani
nihil a me alienum puto«, GA IV, 5. 304) auf den therapeutischen
Prozess in einer Weise an, die an Ferenczis »rnutuelle Analyse«
erinnert. Nicht nur der Analysand »lernt« vom Analytiker, sondern
auch umgekehrt. Die Frage: »Was haben Sie über sich selbst von
Ihrem Patienten gelernt?« (5. 136) ist für Fromm nichts
Ungewöhnliches. Dieses »Lernen« bezieht sich vor allem auf das
Unbewusste des Analytikers. Je intensiver er durch die Beziehung
zum Analysanden mit dem eigenen Unbewussten in Kontakt kommt, desto
offener wird er dafür zu erkennen, dass alles, was ihm von Seiten
des Analysanden an positiven und problematischen Seiten des
Menschseins entgegen kommt, sich auch in seiner eigenen Seele
abspielt. Umso eher ist er aber auch in der Lage, die tieferen
Hintergründe des Sprechens und Verhaltens, der Motive und Ängste
des Klienten zu verstehen und aus diesem vertieften Verständnis
heraus das für den therapeutischen Prozess erforderliche
»Bezogensein aus der Mitte (central relatedness)« (5. 37) zu
entwickeln. Diese Art von Bezogensein lässt das Urteilen über den
anderen hinter sich, es vermittelt ihm ein tiefes »Gefühl der
Solidarität« (5. 39) und setzt bei ihm neue Möglichkeiten des
Verhaltens frei, die er infolge seiner neurotisch eingeengten
Persönlichkeit bisher nicht entdecken und praktizieren konnte.
Der Sammelband enthält einige sehr detaillierte Schilderungen,
insbesondere von Supervisionsverläufen, die – teils mit direkter
Wiedergabe von Äußerungen Fromms – belegen, wie direkt und
konfrontativ er sein konnte. So bezeichnete er einmal gegenüber
einem Supervisanden (George D. Goldman) die Einfälle des Patienten
als »alle Müll, nur Worte« (5. 147) und forderte den Supervisanden
auf, genau das dem Patienten zu sagen, natürlich nicht in der
Absicht, ihn zu beleidigen, sondern ihn auf das Wesentliche, die
tiefer liegende emotionale Schicht seines Problems, hinzuweisen.
Fromm wollte nicht, dass die Psychoanalyse in »triviales Geschwätz«
(GA XII, 5. 312) ausartet. Deshalb wandte er sich auch dagegen, die
Analyse weiter fortzusetzen, wenn keine Veränderungen erkennbar
würden: »Hat man einen Patienten ein Jahr lang analysiert, ohne
dass sich etwas verändert hat, dann sollte man ihm dies ganz
ungeschminkt mitteilen und sagen, dass man die Analyse beenden
werde, wenn am Ende des zweiten Jahres noch immer kein Fortschritt
erkennbar ist. Der Patient muss akzeptieren, dass die Verantwortung
für eine Veränderung bei ihm liegt. Dies ist die Realität« (S.
146).
Harte Worte, gewiss. Aber sie zielen darauf, die Eigenkräfte des
Patienten zu mobilisieren und ihn nicht in kindlicher Abhängigkeit
oder in einem stillschweigenden Arrangement, bei dem »weder der
Analytiker noch der Patient den anderen um seinen Schlaf bringt«
(GA XII, 5. 313), festzuhalten. Die Beziehung zwischen Analytiker
bzw. Analytikerin und Patient soll echt und lebendig sein und auf
die Wirklichkeit hinter den Verharmlosungen, Rationalisierungen und
Projektionen zielen. Der Therapeut darf dabei auch Fehler machen:
»Es kommt nicht darauf an, ob Sie Recht haben oder nicht, solange
Ihre Reaktion das trifft, was wirklich ist« (5. 148).
Aus zahlreichen Schilderungen des vorliegenden Bandes geht hervor,
dass Fromm nicht nur – was schon öfter herausgestellt wurde – in
seinen theoretischen Anschauungen zur Psychoanalyse, sondern auch
in seiner Praxis als Therapeut und Supervisor ein »Revisionist«
war, der die »Abstinenz« des Analytikers, die bei wörtlicher
Auslegung der behandlungstechnischen Schriften Freuds leicht zu
einem innerlich unbeteiligten Interpretieren der »Einfälle« des
Patienten führen kann, in eine dialogische Beziehung überführte.
Allerdings hielt er stets am Konzept des »Unbewussten« fest. Das
unterscheidet seine »humanistische Psychoanalyse« (GA IV, 5. 5) von
anderen Spielarten der Humanistischen Psychologie, von denen sich
Fromm später abgegrenzt hat (vgl. seine diesbezüglichen Bemerkungen
in den nachgelassenen Aufzeichnungen zu Haben oder Sein, GA XII, 5.
440).
Im letzten Teil des Buches erfahren wir mehr über den
Psychoanalytiker »und Menschen« Erich Fromm, also auch über
persönliche Eigenheiten und Gewohnheiten. So schildert z.B. Michael
Maccoby, sein langjähriger Mitarbeiter in den 60er Jahren, Fromm
habe ihn damals zu einer täglichen Zen-Meditation angehalten, ihn
wie ein Zen-Meister »gestraft«, wenn er glaubte, er würde »etwas
zurück halten«, und ihm in seiner New Yorker Wohnung gezeigt, wie
er »das Sterben übte«, indem er sich dabei auf den Boden legte (5.
197). In mehreren Beiträgen wird erwähnt dass bei Unterredungen mit
Fromm die Zeit »wie im Flug« verging und dass die Gesprächspartner
keine Müdigkeit verspürten, auch wenn sich die Gespräche bis rief
in die Nacht hinzogen. Selbst bei alltäglichen Begebenheiten war er
konzentriert und auf die Menschen bezogen. So rührte er mit
»sichtbarem Vergnügen« (5. 193) in der Küche in Locarno die
Salatsoße an, wenn Besucher kamen und begann mit der
Blumenverkäuferin auf der Straße ein längeres Gespräch, weil er sie
»wirklich mochte« (5. 190). Der Berichterstatter (Bernard Landis)
knüpft daran die Reflexion, »warum die meisten von uns so blind
geworden sind für so etwas Menschliches und warum wir nur darauf
aus sind, möglichst schnell zu zahlen, um wieder zu gehen« (ebd.).
Mit seiner Ehefrau Annis hatte Fromm eine liebevolle Beziehung:
»Bevor sie abends zu Bett gingen, stellten sie sich gegenüber,
schauten sich in die Augen, legten ihre Hände auf die Schultern des
jeweils anderen und sprachen sich ein Mantra zu, nicht mit Ärger in
ihrem Herzen zu Bett gehen zu wollen, sondern nur mit Liebe.« So
schildert es Jorge Silva Garcia (5. 206).
Erich Fromm war sicherlich kein »perfekter« Mensch, aber er war
jemand, der den humanistischen Umgang mit anderen Menschen, den er
lehrte, auch lebte. Als therapeutischer Ausbilder und als lebendige
Persönlichkeit wirkte er auf diejenigen, die ihn als seine
Schülerinnen und Schüler näher kennen lernten, tief beeindruckend
und zu selbständigem Denken und Handeln stimulierend. Davon legt
der vorliegende Band ein beredtes Zeugnis ab.