Rezension zu Liebe über Alles - Alles über Liebe
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Rezension von Barbara Schirmacher
So viel Wissen über die Liebe in einem Buch – das habe ich mir vor
der Lektüre nicht vorstellen können! Der Autor legt einen
kritischen Überblick über den derzeitigen Diskurs zum Thema Liebe
vor aus den Bereichen Biologie, Hirnforschung, Psychologie,
therapeutische Ratgeberliteratur und Veröffentlichungen in SPIEGEL,
STERN, ZEIT u.a.
Er breitet aus, sichtet kritisch, polemisiert, setzt auseinander
und neu wieder zusammen und gewinnt so wieder und wieder
überraschende Erkenntnisse. Und das alles unangestrengt, locker,
geistreich und ausgesprochen anregend zu lesen. Thomas Ferdinand
Krauß bietet in seinem Buch auf 577 Seiten alles, was heute zum
Thema Liebe gewusst werden kann und – gewusst werden sollte. Denn
unser Wissen beeinflusst unser Handeln, selbstverständlich, und von
unserem Handeln hängt auch unsere Liebe, also für die meisten
Menschen das Lebensglück, ab. Unsere falschen Vorstellungen
verleiten uns oft, den Traum von der Liebe vorzeitig aufzugeben und
diesen Verzicht dann auch noch als Realismus oder vermeintliche
Reife zu bemänteln. Oder: schmachtende Sehnsüchte träumen ein Leben
lang der heimlich geliebten Person hinterher, eingesponnen in
Bilder, wie schön alles sein könnte und wie es leider niemals wird.
Dagegen spricht der Autor von der Liebe, die tatsächlich gelebt
wird. Ganz konkret zwischen zwei Menschen, jetzt in dieser
Zeit.
Wie ist Liebe heute zu verstehen? Wie ist sie zu fassen? Was macht
sie aus – von innen gesehen? Die Liebe ist in diesem Buch kein
Forschungsgegenstand, der von außen fixiert und vermessen wird.
Denn so kann Liebe nicht begriffen werden. Der Autor dagegen bringt
das Kunststück fertig, von innen als Beteiligter, als einer, der
berührt ist von Liebe und Leidenschaft, den Diskurs über die Liebe
zu entfalten. Ganz konstant tritt er energisch ein für die
wirkliche, jetzt gelebte Liebe zwischen Mann und Frau, Mann und
Mann, Frau und Frau.
Liebe ist möglich. Das vertritt der erfahrene Paartherapeut, der
das Scheitern der Liebe ebenso wie ihre Verwirklichung in
therapeutischen Stunden miterlebt. Krauß thematisiert die
Lebensbedingungen der Liebe heute und hebt ihr Dasein in lieblosen
Zeiten ins Bewusstsein. Denn nicht um die rosa Brille geht es ihm
und schon gar nicht ums Schönreden oder gar ums Abheben, wohl aber
darum, mit offenen Augen der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen und
die Kräfte, die der Liebe schaden, zu benennen.
Vier Bereiche macht der Autor aus, die der Liebe heute ganz aktuell
den Garaus machen können. Das sind:
Der Wissenschaftsdiskurs, der gegenwärtig von der Biologie
dominiert wird. Hier wird die Liebe auf ein
evolutionsgeschichtliches Geschehen reduziert.
Der Sexdiskurs, der zusammen mit Fitness- und Wellnessvorstellungen
die Liebe zu einem medizinisch-technischen Ablauf verdünnt. Dazu
die Pornografierung, die Lust und Sinnlichkeit abtötet.
Der Simplifizierungsdiskurs der Ratgebergilde, der der Autor den
Vorwurf macht, sich selbst zu Gurus zu stilisieren und ihre
Klientel für dumm zu verkaufen.
Der Esoterikdiskurs, der mit »reinen Liebesidealen in die Höhen der
Erleuchtung entfleucht, statt die wirkliche Begegnung der Liebenden
zum Thema zu haben«.
Um die wirkliche Begegnung der Liebenden geht es aber in diesem
Buch. In drei Hauptteilen geht der Autor seine Aufgabe an:
Erste Begegnung
Sexualität
Verliebtheit und Liebe
Jan und Lucie treffen in der Mensa der Freien Universität Berlin
aufeinander und was ihre erste Begegnung zum Beginn einer Liebe
macht, das wird im ersten Teil in allen Aspekten dargestellt, von
der Intuition, mit der sie schneller erfassen als sie denken können
bis hin zur soziokulturellen Folie, auf der sie sich als die
füreinander Richtigen erfahren.
Im zweiten Teil durchwatet Krauß alle Niederungen der entfremdeten
Sexualität, in der die Beteiligten sich gegenseitig verdinglichen
und immer nur als frustrierte Verlierer, niemals als Gewinner
zurückbleiben. Hier zieht er immer wieder die hellsichtigen
Analysen Adornos heran, den man bei dieser Gelegenheit in seiner
brillanten Klarsicht noch einmal neu bewundern lernen kann.
Eindrucksvoll in diesem Buchteil ist auch die Diskussion der so
genannten Verhandlungsmoral, die so scheinbar achtungsvoll
daherkommt, wenn die Sex-Partner miteinander aushandeln, was für
sie geht und was nicht. Keine Überwältigung, keine Verdinglichung,
scheinbar. Und doch. Der Autor nimmt den Leser immer tiefer hinein
in seine Analyse dieser in Wahrheit tiefen Beziehungslosigkeit.
»Die Lust bleibt bei den Einzelnen und deren Ich bleibt einsam.«
(S.355) Aber die wahre Lust, in der zwei Menschen Erfüllung finden,
spielt sich zwischen zwei Subjekten ab, »wo das Prinzip der
Wechselseitigkeit ernst genommen wird und in mehr umschlägt als in
der verabredeten Dienstleistung gemeint war.« Denn "Sexualität,
wenn sie (...) wechselseitig Lust und Genuss und Vergnügen
bereitet, bricht die Dämme. Eine solche Sexualität will und kann
von sich aus nicht banal und fade sein« (S. 359).
Der dritte Teil knüpft geistreich und amüsant an die erste
Begegnung von Lucie und Jan an und spielt mit ihren Erinnerungen an
»das erste Mal« und die möglichen Ereignisse am Tag danach. Auf
diesem Boden regulieren sie »ihre erste Feinabstimmung als Wir.« Es
geht um den Weg von der Verliebtheit in die Liebe. Und diese Liebe
ist nicht etwas außerhalb von uns, etwas das vom Himmel fällt und
leider meistens irgendwann in ein schwarzes Loch entschwindet.
Sondern diese Liebe geschieht sinnlich, körperlich, konkret
zwischen zwei realen, nicht nur erträumten Menschen. Diese Beiden
lassen durch ihr Tun und Verhalten miteinander die Liebe entstehen,
immer wieder. Durch Kommunikation und durch Interaktion. »Sie
tauschen nicht, sie tauschen sich aus.« Als Liebende stellen wir im
Austausch mit unserem Partner die Liebe immer wieder her. »Dieses
wechselseitige sich aneinander Entzünden, das in der ersten
Verliebtheit wie ein Rausch begann, der unsere Ichs außer sich
brachte: das alles beginnt erneut, wenn die lebendige Interaktion
wieder zugelassen wird« (S.463). Diese die Liebe fördernde
Interaktion braucht Selbstreflexion und Einfühlung in sich selbst
und den anderen. Was eigentlich tue ich mit dem anderen? Was will
ich insgeheim von ihm? Was ist mein eigener Anteil an dem, was
zwischen uns läuft? Ganz einfache Fragen, sagt Krauß, aber sie
haben es in sich. Mit ihnen können Liebende den lähmenden
Selbstverständlichkeiten auf die Schliche kommen, die sich in ihr
eingefahrenes Interaktionsgefüge eingenistet haben.
Aber dies ist kein Ratgeberbuch. Man möchte das fast bedauern, wenn
man auf das Kommunikationsbeispiel auf Seite 463 stößt, geradezu
einer Perle der Interaktion. In einer festgefahrenen Situation
öffnet sich der eine Partner und macht dem anderen damit
gleichzeitig eine Tür auf. Beide können sich nun wieder als Person
zeigen und werden erneut füreinander interessant.
Abschließend ist zu sagen: Dieses Buch ist eine Fundgrube an
Erkenntnissen und Einsichten gerade auch für erfahrene Liebende,
die nicht nachlassen wollen, ihre womöglich in die Jahre gekommene
Liebe immer wieder zu befeuern und zu erfrischen, die sich nicht
lähmen lassen wollen von scheinbar abgeklärter Resignation, sondern
miteinander die Liebe herstellen, immer wieder, ein Leben lang.
Zur inneren Struktur des Buches: Ich habe mit dem Schlusskapitel
begonnen und mich dann eine Weile mit Kapitel-Hopping vergnügt, die
z.T. ausgesprochen witzigen Überschriften locken dazu, bis die
Faszination so anstieg, dass ich es von A bis Z wissen wollte. Aber
man braucht die 577 Seiten nicht nacheinander zu lesen. Die Kapitel
sind so gebaut, dass sie für sich stehen. Das macht es leicht,
einer bestimmten Frage an verschiedenen Stellen des Buches
nachzugehen. Allerdings wären genauere Kapitelüberschriften fürs
Auffinden gesuchter Inhalte hilfreich gewesen.
Zum guten Schluss: Dies ist kein Rezeptbuch in der Art: Wie mache
ich meine Zweierbeziehung wieder flott, das ist hoffentlich
deutlich geworden. Es will LIEBE über alles und es enthält ALLES
über Liebe. Es ist ein Buch für den Hausgebrauch derer, die es satt
haben, dass mit der Liebe Schindluder getrieben wird.
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