Rezension zu Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind
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Rezension von Jürgen Müller-Hohagen
Adolf Hitler forderte bereits in »Mein Kampf«, dass schon in der
»frühesten Kindheit ... die notwendige Stählung für das spätere
Leben« zu erfolgen habe. Durch gründliche Ausbildung der Mütter
müsse es möglich sein, »in den ersten Jahren des Kindes eine
Behandlung herbeizuführen, die zur vorzüglichen Grundlage für die
spätere Entwicklung dient.« Mit dieser »späteren Entwicklung« ist
vor allem das nahtlose Sich-Einfügen in die Ideologie und die
Institutionen des NS-Staates gemeint. Darum ging es ausdrücklich
auch der Ärztin Johanna Haarer, deren Bücher »Die deutsche Mutter
und ihr erstes Kind« und »Unsere kleinen Kinder« in vielen Familien
während des Dritten Reiches und in den Jahren danach zur
Richtschnur für den Umgang mit Babys und Kleinkindern wurden. Die
Sozialpädagogin und Supervisorin Sigried Chamberlain hat diese
»pädagogischen« Studie – die eine Auflage von über einer Millionen
erreichte – , einer kritischen Analyse unterzogen ...
Ein Kind kommt zur Welt – wie wird es aufgenommen? »Ist Hilfe im
Haus, die sich um das Neugeborene kümmern kann, und ist genügend
Platz vorhanden, so raten wir ganz unbedingt dazu, es von der
Mutter getrennt unterzubringen und es ihr nur zum Stillen zu
reichen. Der Mutter wird auf diese Weise nicht nur viel
Beunruhigung erspart – sie horcht nur zu gern ängstlich auf jede
Lebensäußerung des kleinen Wesens und sorgt sich unnötig darum -,
sondern auch für das Kind ist ein eigener Raum von großem Vorteil«
(S. 23).
Dies ist ein Modell. Ein anderes Modell lautet: »Wenn eine Frau in
der Klinik kurz vor der Entbindung steht, versammeln sich (...)
ihre Familienangehörigen vor dem Kreißsaal. Ist das Kind geboren,
so wird es innerhalb seiner ersten fünf Lebensminuten von den
Eitern, den Großeltern und durchschnittlich noch weiteren fünf
Verwandten geküßt (...) Nach sechs Wochen (waren) aus 80 Prozent
der Haushalte der 1500 Einwohner zählenden Stadt Besucher in das
Haus des Neugeborenen gekommen, um zu gratulieren« (S. 28f).
Ohne die traditionelle italienische Lebensweise zu idealisieren,
können doch Beispiele wie das letztere hilfreich sein, um
kulturelle Normen und Praktiken eher wahrzunehmen, die für die
eigene Gesellschaft zum geschichtlichen Untergrund gehören. Das
erste Zitat bezieht sich auf Deutschland, und es stammt aus einem
Buch, das von 1934 bis 1988 kontinuierlich erschienen ist und dem
schon von seiner Bestseller-Gesamtauflage her – mehr als 1,2
Millionen – eine enorme Breitenwirkung zugekommen sein muss, um das
aber die Wissenschaften einen Bogen geschlagen haben. Es handelt
sich um das Ratgeberbuch von Dr. med. Johanna Haarer, dessen Titel
bis 1945 »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« lautete,
anschließend »Die Mutter und ihr erstes Kind«. Das Verdienst,
erstmals darauf aufmerksam gemacht und eine kritische Analyse
vorgelegt zu haben, kommt der Kinderpsychoanalytikerin Ute Benz zu
(Dachauer Hefte Nr. 4, 1988).
Haarers Hauptwerk einer braunen Pädagogik der frühen Lebensjahre
hat nun von Seiten der Sozialpädagogin Sigrid Chamberlain eine
eingehende Untersuchung erhalten, die dringend zur genaueren
Rezeption empfohlen wird. Gründe dafür sind vor allem folgende:
1. Die Autorin vermittelt allein schon aufgrund ihrer kompetenten
Auswahl von Zitaten einen umfassenden Zugang zu Haarers erster
Veröffentlichung sowie einen Einblick in »Unsere kleinen Kinder«,
das ebenfalls nach 1945 weiterhin erschien (beide Bücher immer
wieder »vollständig neu bearbeitet«). Darüber hinaus gibt sie
Eindrücke wieder aus »Mutter, erzähl von Adolf Hitler!«, dem
einzigen Buch Haarers, das unter demokratischen Verhältnissen nicht
mehr veröffentlicht wurde. Als ein bezeichnendes Beispiel von
vielen sei die Fortsetzung der zu Anfang wiedergegebenen Stelle
angeführt: »Außerdem hat die Trennung von Mutter und Kind für
letzteres außerordentliche erzieherische Vorteile. Daß die
Erziehung des Kindes unmittelbar nach der Geburt zu beginnen hat,
darüber werden wir später noch ausführlich redden« (S. 23).
In diesem Sinne heißt es später für das sechsmonatige Kind:
»Vermeiden wir auch in diesem Alter das lästige und mühsame
Herumtragen und Herumschleppen des Kindes. Es ist in dieser
Altersstufe (...) ebenso wie in den früheren aus verschiedenen
Gründen unzweckmäßig. Das Kind gewöhnt sich an die ständige Nähe
und Fürsorge eines Erwachsenen und gibt bald keine Ruhe mehr, wenn
es nicht Gesellschaft hat und beachtet wird. Es sitzt zuviel auf
dem Arm der Mutter und kriecht und krabbelt zu wenig« (5. 32).
2. Jedoch bestehen die Haarer-Bücher keineswegs aus einer bloßen
Abfolge derart krasser Aussagen. Vielmehr sind diese eingefügt in
lange Passagen, die sich vorgeblich auf die konkreten
Hilfestellungen für die junge Mutter konzentrieren, voll von
Beteuerungen, dass ausschließlich die Besorgnis um das Wohl der
jungen Mutter und um ein möglichst ungestörtes Gedeihen des Kindes
Maßstab der Darlegungen sei. Man möge sich einmal umschauen in
deutschen Bücherregalen nach einem der dort noch reichlich
vorhandenen Exemplare und sich der spezifischen Atmosphäre dieses
Bestsellers aussetzen, dabei sich vorstellend, es aus der
Perspektive einer werdenden oder jungen Mutter (oder, dort kaum
vorkommend, eines Vaters) zu lesen, in all der damit verbundenen
Unsicherheit. Der Rezensent jedenfalls kann dies aus eigener
Erfahrung nur empfehlen nach der Lektüre einer Ausgabe von vor 1945
wie auch einer von 1960. Ich merkte, welche Mühe es mich kostete,
mich der Überzeugungskraft dieser »medizinischen Autorität« zu
entziehen.
An diese Erfahrung habe ich mich erinnert beim Lesen von Sigrid
Chamberlains Buch, habe die große Distanzierungsarbeit noch mehr
ermessen können, durch die sie, die selber nach Haarer-Maximen
»Erzogene«, zu ihren Analysen gekommen ist. Was sie unternimmt, ist
ein sorgfältiges Ausleuchten, ohne vorschnell in einen Ton der
Entrüstung oder ein oberflächliches Besserwissen zu verfallen.
Damit nämlich wären manche Fallstricke des Haarer-Buches nur
schwerlich zu erkennen.
3. Den wichtigsten Rückhalt für Chamberlains Untersuchungen bilden
Erkenntnisse der psychoanalytischen Säuglingsforschung und der
Bindungsforschung zur Entwicklung der Interpersonalität. Indem
diese Einsichten den Anweisungen des Haarer-Buches
gegenübergestellt werden, zeigen sich erst deren Doppelbödigkeit,
Anmaßung und verdeckte Brutalität.
4. Chamberlain hat Interviews mit Menschen geführt, die nach den
Haarer-Büchern erzogen wurden. Davon gibt es viele. »Wenn ich mit
Menschen meines Alters (Jahrgang 1941 plus-minus zehn Jahre) ins
Gespräch über die Erziehungspraktiken in ihrer Herkunftsfamilie
komme, so fällt sehr häufig der Name Haarer«, schreibt die Autorin
(S. 8). Aussagen aus diesen Interviews wie auch aus einigen
autobiographischen Berichten belegen die weitreichenden Wirkungen
von Haarers Anleitungen und vermitteln Zugang zu den tatsächlichen
Dimensionen und den lebenslänglichen Wirkungen jener Pädagogik. »Es
war doch nur ein Buch«, solches Beiseiteschieben gelingt dann immer
weniger.
5. Chamberlain geht umfassend den zentralen Themen kindlicher und
familiärer Entwicklung nach. »Krieg gleich zu Beginn des Lebens«,
so lautet die Überschrift des ersten Kapitels, in dem sie die bei
Haarer sofort nach Geburt einsetzende »Erziehung« thematisiert.
Weitere heißen: »Wie die Mutter sich das Kind vom Leib hält« –
»Mangelnder Halt und Grenzenlosigkeit« – »Das verweigerte Antlitz«,
»Die Zerstörung des Dialogs«. In diesen Kapiteln, wie in dem Buch
insgesamt, belegt Chamberlain in großer Klarheit den zentralen
Befund ihrer langjährigen Untersuchungen, wie sehr nämlich trotz
mancher Überschneidungen die nationalsozialistische Erziehung von
sonstiger autoritärer Erziehung verschieden war. Damit von jener
gesprochen werden kann, muß »noch ein Aspekt hinzukommen: Es ist
der, dass eine nationalsozialistische Erziehung immer auch eine
Erziehung durch Bindungslosigkeit zu Bindungsunfähigkeit ist.
Dieses halte ich für entscheidend, und es ist bisher weitgehend
unbeachtet geblieben« (S. 11).
Dies durchzieht alle relevanten Gebiete von Haarers Anweisungsbuch,
von der Ernährung und Pflege des Babys über den körperlich und
sprachlich getragenen Kontakt bis hin zur Sauberkeitserziehung und
– dort als äußerst dringlich vorgetragen – zum unnachgiebigen
Bekämpfen von allem, was nach Trotz und Eigenwillen aussieht. Das
Kind als Tyrann, unter diese Drohung wird die junge Mutter in all
ihrer Unsicherheit ganz besonders gestellt.
Wozu führt solcher Umgang? Chamberlain beschreibt dies so: »Das
Baby, das viel alleingelassen wird, dem auf sein Kontaktrufweinen
niemand antwortet, dem immer wieder Todesangst zugefügt wird,
dieses Baby wird auch immer wieder einem enormen Stress ausgesetzt.
Es hat dann das Gefühl zu zerfallen, sich aufzulösen. In extremen
Stresssituationen droht es subjektiv zu explodieren, sich
vollständig zu verlieren in der Weite der unüberschaubaren,
bedrohlichen Welt (...) Und das bereitet einen Typus vor, der
aufgrund der eigenen unsicheren Grenzen und des immer
fragmentarisch gebliebenen Selbst nie den Anderen, gar den Fremden,
neben sich wird bestehen lassen können« (S. 32).
6. Die Autorin schickte für ihre Interviews eine Annonce an 18
bundesdeutsche Zeitungen und Zeitschriften – und sah sich vor
ungeahnten Schwierigkeiten. »Ach, Sie sind die Frau mit der
Anzeige«, hieß es etwa bei ihrer Rückfrage, und die nächste
Hierarchiestufe wurde eingeschaltet: »Es wurde mir von einigen
Anzeigenabteilungen sogar ausdrücklich gesagt, dass es sich bei
meinem Thema um ein viel zu heißes Eisen, um ein Tabu handelt« (S.
10). Chamberlain hat nämlich Fragen nach spezifischen Aus- und
Weiterwirkungen nationalsozialistischer Erziehung ins Blickfeld
gerückt, was auch zu Anfang der neunziger Jahre, fast fünfzig Jahre
später, noch schwierig zu vermitteln war. Vor diesem Hintergrund
ist noch mehr das Ausmaß an Distanzierungsarbeit und
Wahrnehmenlernen zu erahnen, das hinter diesem Buch steckt.
Die Rezension könnte hier schließen. Wichtige Vorzüge des Buches
sind dargelegt, und nennenswerte Einwände haben sich nicht ergeben.
Wozu also noch weitere Worte? Der Rezensent möchte etwas tun, was
für Haarer in ihren verschiedenen Auflagen ein Greuel wäre:
subjektiv werden, eigenwillig, Gefühle nicht ganz aussparen.
Eingangs wurden diametral entgegengesetzte Möglichkeiten
wiedergegeben, ein Neugeborenes zu begrüßen. Dazu analog sage ich
jetzt: Ich möchte Chamberlains Buch begrüßen. Und das ist nur
»subjektiv« möglich. Ich möchte es begrüßen, indem ich Verbindungen
mit einigen anderen Büchern aufzeige, zu denen in meiner Sicht
Verwandtschaft besteht.
Im Nachwort von Chamberlains Buch gibt der Historiker Gregor Dill
wichtige Hinweise, die die Einfügung von Haarers Buch in die
Entwicklung der Moderne noch unter weiteren Gesichtspunkten
anleuchten, nämlich hinsichtlich seiner verlegerischen
Vorgeschichte, seiner wahrscheinlich präzisen Planung. Hinter der
unbekannten, noch relativ jungen und unerfahrenen Ärztin Johanna
Haarer stand entscheidend der Münchener Verleger Julius F. Lehmann,
der bereits seit 1910 damit begonnen hatte, »bis dahin noch wenig
populäre Gebiete wie Rassenhygiene und Vererbungslehre verlegerisch
zu fördern«. Er hat auf diese Weise dazu beigetragen, »die
völkische Idee salonfähig zu machen«, schreibt Chamberlaine (S.
206). Die Entstehungsgeschichte von Haarers Buch ging also weit
hinter 1933 zurück.
Auch angesichts solcher Hinweise fragt es sich, wieso die
verschiedenen für eine kritische Betrachtung relevanten
Wissenschaften ein derart einflussreiches Werk wie das von Haarer
so lange noch nach 1945 beiseite gelassen haben. Dass dies nicht
zufällig so ist, erkennen wir genauer beim Studium eines Buches mit
zunächst wenig einladend wirkendem Titel: »Verweilen beim Grauen«
(1997) des Hannoveraner Sozialpsychologen Harald Welzer. Dort heißt
es: »Interessanterweise stellt ja der Holocaust bis heute das
besterforschte und am wenigsten verstandene Phänomen der neueren
Geschichte dar, und noch kein Deutungsansatz konnte dem Geschehenen
habhaft werden. Könnte das nicht daran liegen, dass die
Sozialwissenschaft, selbst ein Kind der Moderne, von Beginn an ein
normatives Gesellschaftsmodell favorisiert und fordert, in dem das
Grauen systematisch keinen Platz hat, sondern allerhöchstens
akzidentiell?« (S. 9) Mit dieser Frage im Hinterkopf verstehen wir
noch mehr, welch eine Anstrengung begrifflicher und emotionaler Art
es bedeutet, sich auf eine Auseinandersetzung mit Haarers Buch
einzulassen.
Das Grauen der Verfolgung erfuhren die Opfer, und in ihm bewegen
sich die Überlebenden und ihre Nachkommen. Immer wieder waren es
wissenschaftliche Laien oder Menschen am Rande des
Wissenschaftsbetriebs, die sich ihm angenähert haben, in der
Erforschung von Lokalgeschichte ebenso wie in den Begegnungsgruppen
zwischen Nachkommen von Verfolgten und von Tätern. Eigene
Erfahrungen im letzteren Bereich liegen dem 1996 erschienenen Buch
der Pädagogin Martina Emme zugrunde: »Der Versuch, den Feind zu
verstehen « – ein pädagogischer Beitrag zur moralisch-politischen
Dimension von Empathie und Dialog. Hier werden Einfühlen,
Gegenseitigkeit, Miteinandersein nicht idealisierend überhöht – es
wird statt dessen nach ihnen gefragt, ausdrücklich im Kontext ihres
extremsten Zerschnittenseins in den KZ und Vernichtungslagern.
Einfühlen, Dialog, genau deren Entwicklungen sollten durch Haarers
Pädagogik verhindert werden.
Wie schwer es damit aber bis heute ist, zeigt sich in jeder Zeile
von Nea Weisberg-Bobs Buch »Als man Juden alles, sogar das Leben
raubte...« Nachkommen von Verfolgten und Nachkommen der Verfolger
und ihrer Mitmacher sind sich in einer Gruppe begegnet, beichten
darüber sowie über biographische Forschungen (Gabriele Rosenthal)
und über Gespräche mit Angehörigen der eigenen und der anderen
Seite (Nea Weisberg-Bob): »Beiden Gruppen bzw. all den Untergruppen
in diesem Buch eine Sprache zu geben, schon das allein stößt auf
Empörung oder Ablehnung (...) In diesem Buch verbirgt sich die
Sehnsucht danach, die vorhandenen Verhärtungen, Verbitterungen,
Versteinerungen, Verkrustungen, Verletzungen eines Tages
aufzuweichen und das gefrorene Tränenmeer aufzutauen« (S. 14).
Besteht Hoffnung? Ja, solange Bücher wie diese möglich sind.
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