Rezension zu Psychoanalyse des Alkoholismus
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Rezension von Prof. Dr. Dr. Arnold Schmieder
Thema
Bemerkenswert, dass der oder die Süchtige immer noch als das
»›ungeliebte Schmuddelkind‹ der Medizin, der Psychiatrie und auch
der Psychotherapie« (S. XII) gilt, zumal süchtige psychische
Symptomwahlen im Sinne von Fehlentwicklungen rein statistisch
gesehen nicht nur zugenommen haben, nicht nur deutlich Schichten
übergreifend sind, sondern gerade bei Angehörigen so genannter
Mittelschichten gehäuft anzutreffen sind, bei Menschen also, die
(noch) dem sich verschärfenden Druck aus gesellschaftlichen
Produktions- und Reproduktionsprozessen und den (immer latenten)
Risiken ökonomischer, sozialer und psychosozialer Deklassierung
ausgesetzt sind. Es scheint, dass jenes ›unternehmerische Selbst‹,
der sich ständig inszenierende und zu flexibler Selbstpräsentation
genötigte Berufsmensch, dem insbesondere die soziologischen
›Kontrolltheoretiker‹ zunehmend Aufmerksamkeit widmen, der
Risikopatient für solche Erkrankungen an Seele und dann Leib ist,
der eben auch zur Flasche greift – über die Missbrauchsschwelle
hinaus bis in eine Abhängigkeit, die therapeutische Intervention
notwendig macht. Mag sein, dass Drogenabhängigkeit, also auch
Alkoholismus, als eine der großen Seuchen dieser Zeit, auch und
wesentlich ihren Nährboden in grassierenden depressiven
Erkrankungen hat, die – so nach soziologischen Erklärungen –
paradoxes Resultat von Individualisierungsprozessen sind.
Wolf-Detlef Rost, praktizierender Psychoanalytiker und Supervisor,
ist diese Sicht durchaus nicht fremd und daher will er
Psychoanalyse als Wissenschaft und Therapie so verstanden wissen,
dass sie »zur Selbstreflexion und zur Selbstbestimmung befähigen
soll und ein hohes Ideal von menschlicher Gesundheit und Reife
zugrunde legt, das über die bloße Anpassung an die Normen der
Gesellschaft im Sinne eines sozialen Funktionierens hinausgeht.«
Folgerichtig bestimmt er das Phänomen als zwar auch »Symptom einer
individuellen Krankheit«, zugleich aber als »Ausdruck
gesellschaftlicher Prozesse und Fehlentwicklungen« und daher eines
»Leidens oft auch an der Umwelt«. Nur verständlich, dass ihm bei
solcher Sicht daran liegt, »die Alkoholiker von dem Makel zu
befreien, Patienten ›zweiter Klasse‹ zu sein«. (S. 260)
Aufbau und Inhalt
Auch darum, um diesen wesentlichen Aspekt der Entstigmatisierung
und solche Blickwinkelerweiterung, dass es jede und jeden treffen
kann, der dem Druck der äußeren Welt nicht standhalten oder anders
als autodestruktiv ausweichen kann, macht sich das in Neuauflage
erschienene und um ein aktuelles Vorwort erweiterte Buch verdient,
das aber allererst auf ›Innenwelten‹ – primärer Gegenstand
psychoanalytischer Forschung – konzentriert ist, hier auf die
breite Palette möglicher ›Störungen‹, die für die Krankheit
Alkoholismus dingfest zu machen sind. Das wird an vielen
Fallbeispielen verdeutlicht, was nicht nur illustrierenden
Charakter hat, sondern eine theoriegeleitete Beschreibung und
Analyse von Erscheinungsformen solcher ›Störungen‹ gut
nachvollziehbar macht. Die bereits 1987 erstmals erschienene Arbeit
von Rost ergänzt und erweitert andere – und auch bereits ältere –
Arbeiten zu Ursachen des Alkoholismus (prominent darunter: Antons,
Schulz), in denen Erklärungsansätze aus verschiedenen
wissenschaftlichen Disziplinen mit z.T. sehr unterschiedlichen
Schwerpunktsetzungen vorgestellt werden. Rost ergänzt insoweit, als
er alle relevanten Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen
psychoanalytischen Ansätzen vorstellt und kritisch diskutiert. Im
Gesamt der je disziplinären empirischen Studien und Theorien, die
durchaus nicht veraltet und alle noch von wenn auch aspektischer
Gültigkeit sind, hat sich der psychoanalytische Zugang als der
erwiesen, der von größter Erklärungsreichweite ist, was für
Diagnostik und Therapie, allerdings nach Maßgabe notwendiger
Modifikation (vgl. S. XXIX), außerordentlich belangvoll ist. Nicht
zu unterschätzen sind, darauf wird im Nachwort und dem neuen
Vorwort nachdrücklich verwiesen, gesellschaftliche Faktoren, die zu
benennen der psychoanalytische Zugang nicht ohne Hilfe einer
kritischen Soziologie in der Lage sein dürfte.
Das Buch beginnt mit einer Skizze über ›Gesellschaft und Sucht‹,
einem Exkurs, in dem inzwischen so geläufige Probleme um
gesellschaftliche Akzeptanz von Drogenverhalten und etwa auch die
Inflation des Suchtbegriffs zur Sprache kommen. Die –
offensichtlich vergebliche – Suche nach einer diagnostisch präzise
fassbaren und zu verallgemeinernden Persönlichkeit des Alkoholikers
oder der Alkoholikerin wird im Anschluss vorgestellt; danach
breiter und materialreich triebpsychologische Ansätze,
ich-psychologische Modelle um die Frage um Selbstheilungsversuche
mittels Drogen und eben auch Alkohol, schließlich das
objektpsychologische Konzept mit Blick auf ›Selbstzerstörung‹ und
deren Funktion für die Betroffenen. Kapitel über Familie und
Beziehungen des alkoholkranken Menschen und zu einem integrierten
psychodynamischen Modell der Sucht folgen, um durch
Falldarstellungen ergänzt zu werden. Von besonderem Interesse
dürfte, nach wie vor, das abschließende Kapitel zur Psychotherapie
des Alkoholismus sein, und zwar für therapeutische Praxis in Bezug
auf diese Volkskrankheit und jeden, der beruflich oder in
Zusammenhängen der freiwilligen Suchtkrankenhilfe oder Selbsthilfe
tätig ist.
Das Vorwort zur aktuellen Ausgabe beinhaltet weit mehr, als man
gemeinhin von einem Vorwort erwartet: Es ist, auch dem Umfang nach,
durchaus als ein eigenständiges Kapitel des Buches zu betrachten,
dessen Lektüre allein dadurch bereichernd ist, weil der Verfasser
zum einen seine bereits in der ersten Ausgabe vorgetragenen
Einsichten und Thesen mit neueren Forschungsergebnissen
untermauert, und weil er zum anderen hier Denkanstöße gibt, die
theoriestrategisch und eben auch für therapeutische Praxis von
Bedeutung sind. Eine längere Passage widmet er dabei der folgenden
Überlegung: »Der ›Suchtweg‹ wird zum ›Todesweg‹, was zugleich die
Chance eröffnet, ihn zum ›Reifungsweg‹ werden zu lassen, der den
Kern zur Genesung, zur Selbstheilung in sich trägt.« Und weiter:
»Die Todesnähe wird im Suchtmittelmissbrauch gesucht, um den Tod zu
überwinden, um sich vormachen zu können, ihn zu beherrschen, damit
er einen nicht ereilt.« (S. XXXV) Diese Argumentation erinnert an
Freuds Erkenntnis und Folgerung, die er selbst in Jenseits des
Lustprinzips als »befremdend« bezeichnet: Da geht es um jenen
»erste(n) Trieb«, den, »zum Leblosen zurückzukehren« (Freud);
diesen Gedanken nächst der folgenden Argumentation Freuds scheint
Rost auf seine sehr tragfähige These gewendet zu haben, von wo aus
er auch plausibel eine Parallele zur künstlerischen Kreativität
zieht. Hintergründe selbstzerstörerischer Tendenzen der Sucht, die
im Buch immer wieder thematisiert werden (vgl. auch S. 92ff), sind
erneut und weiter zu analysieren. Mehr noch regt dieser
abschließende Absatz des Vorwortes ein Nachdenken darüber an, ob
und welchen Gestaltwandel zugrunde liegende ›Störungen‹, die in
(u.a.) den Alkoholismus führen, unter sich verändernden
gesellschaftlichen Anforderungsprofilen annehmen.
Fazit
Rost selbst merkt im Hinblick auf Fragen zur »prämorbiden
Persönlichkeit« an, »dass die humangenetische Forschung – ganz
entgegen ihren ursprünglichen Zielen – die Psychoanalyse hier
verifiziert hat, statt sie zu widerlegen.« (S. XXVf) Zu ergänzen
wäre, dass durch neurowissenschaftliche, insbesondere durch
neurobiologische Forschungsergebnisse ein Großteil
psychoanalytischer Aussagen bestätigt worden ist, nicht nur die
Objektbeziehungstheorie. Die sich mehrenden Publikationen aus
dieser Forschungsrichtung dürften mit der Zeit auch Eingang in
weitere ›Menschenwissenschaften‹ finden. Selbst ökonomische
Theorien mit einem unterstellten homo oeconomicus, derer sich
neoliberal orientierte Ideologieschmieden gern bedienen, bedürfen
angesichts solcher Ergebnisse einer dringenden Revision – und das
gilt für etliche Theoriekonstruktionen auch anderer
Teildisziplinen. Wieder einmal und mit Nachdruck ist ganz allgemein
Interdisziplinarität auf die wissenschaftliche Tagesordnung zu
setzen. Die Arbeit von Rost kommt diesem Anspruch nicht nur
entgegen, sondern legt ihn implizit auch nahe. Die Stimme, so
meinte Freud, »des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe
sie sich Gehör verschafft.« Rosts Psychoanalyse des Alkoholismus
ist Teil dieser ›Stimme‹. Dass sie sich Gehör verschaffen kann, ist
zum Wohl der betroffenen PatientInnen und zum Wehe unzumutbarer
Verhältnisse zu hoffen.
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