Rezension zu Sexualität und Partnerschaft im Alter
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Rezension von Federico Harden
Thema
Die neun Abschnitte des vorliegenden Buches beleuchten
unterschiedlichste Themenstellungen der Sexualität und
Partnerschaft im Alter, die in dieser Form bisher so kompakt nicht
zu finden waren.
Bisher gab es wenige Untersuchungen zum Thema Qualität von
Partnerschaft und Sexualität. Die Aussage eines Wissenschaftlers
dazu mag illustrieren, wie diese Lücke erklärbar wird: »Weil wir
dachten ältere Menschen hätten keine Sexualität, haben wir sie
nicht befragt. Und weil wir sie nicht befragt haben, dachten wir,
sie hätten keine.«
Entstehungshintergrund
Dieses Buch beschreibt aufgrund wissenschaftlicher Grundlagen
Sexualität und Partnerschaft im Alter aus verschiedenen
Blickwinkeln. Es werden dabei bisherige Meinungen konkret
beleuchtet, wie beispielsweise die weit verbreitete Meinung, dass
die sexuelle Zufriedenheit im Alter generell abnehme, usw.
Aufbau
Die Arbeit ist in neun Fachbeiträge gegliedert. Gegenüber der sonst
üblichen Form von Rezensionen wird – aufgrund unterschiedlicher
Schwerpunktsetzungen – die kapitelweise Vorstellung vorgenommen.
Dies sei für den Leser der vorliegenden Rezension ein erhoffter
Gewinn!
Entwicklungsformen der Partnerschaft im Alter
(Susanna Re) Langjährige Partnerschaften: Durch die Verdopplung des
Lebensalters in den letzten 100 Jahren ist die Lebensspanne
ausgeweitet, die Ehedauer länger, die Familienphase aufgrund der
geringeren Kinderzahl kürzer, die nachelterliche Phase aufgrund der
gestiegenen Lebenserwartung höher. Erwartete Trends und
Entwicklungen:
-Zunahme der Variabilität von Familienkonstellationen (Singles
allgemein oder nach Tod bzw. Scheidung des bzw. der PartnerIn);
-sinkende Heiratsneigung und steigende Scheidungsquoten (auch
langjähriger Ehen) muss noch untersucht werden, die bestehenden
Erklärungsansätze reichen nicht für gültige Aussagen;
-Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften,
-qualitative Aussagen (Aufrechterhaltung der Ehe, Unterstützung
während der Ehe statt Werdegang der Verschlechterung der Beziehung
bzw. Zahlen zu Scheidung bzw. Trennung);
-Pflegesituation bei älteren Paaren, wobei häufig (kranke) Frauen
ihre älteren (dementiell erkrankten) Männer – bei zunehmend
fehlender Zärtlichkeit – pflegen.
Sexuelle Aktivität und Zufriedenheit mit Sexualität und
Partnerschaft im Alter
(Manfred E. Beutel, Friederike Siedentopf und Elmar Brähler) In der
deutschen Bevölkerung nimmt die sexuelle Aktivität mit
voranschreitendem Alter ab; ob sexuelle Aktivität bis ins hohe
Alter fortgeführt wird, hängt in erster Linie von einer vorhandenen
Partnerschaft ab: Der mit dem Alter zunehmende
Geschlechtsunterschied könnte auf die frühe Verwitwung von Frauen
zurückgeführt werden.
In Bezug auf Wichtigkeit von Partnerschaft und Sexualität zeigt
sich, dass dies bei den jüngeren Befragten Frauen wichtiger ist;
dieser Trend kehrt sich ab dem 51. Lebensjahr um.
Weitere Prädiktoren sind das Fehlen einer Partnerschaft, Wohnsitz,
biographische Merkmale wie vaterloses Aufwachsen, Ausbombung. Es
werden hierzu eine Reihe von Hypothesen aufgestellt.
Altern und Sexualität
(Thomas Bucher). Gründe für sexuelle Inaktivität: 6 Kategorien in
offenen Antworten von Frauen
-Missbrauchserfahrungen: »Nach sehr langer Beziehung zu einem
Gewalttätigen habe ich weder das Vertrauen in einen Mann gefunden,
noch irgendetwas empfunden. (...)«;
-Traditionelle Rollenaufteilung in der Partnerschaft »Ich bin für
meinen Mann nur noch Haushälterin, Sekretärin, Kindermädchen. Mit
denen geht man nicht ins Bett«;
-Befolgung traditioneller Normen »Als gläubige Christin gibt es für
mich keinen Sexualverkehr, so lange ich nicht verheiratet bin«;
-Bewahrung der Unabhängigkeit durch Verzicht auf Sexualität »Ich
wollte berufstätig bleiben und kein ›Spielzeug‹ werden«;
-Sexualität ist nicht Bestandteil des Selbstbildes alter Frauen
»Ich bin eine 75-jährige Frau«, und
-Steigende Ansprüche an situativen und partnerschaftlichen Kontext:
»Man könnte schon Sex haben, aber je älter man wird, genügt Sex
alleine nicht; es muss alles stimmen. Man wird sehr wählerisch und
anspruchsvoll«
Galt früher das Vorurteil vom asexuellen Alter, so ist heute ein
aktives Sexualleben zum Indikator für erfolgreiches Altern und
somit zur neuen Norm für gesundheitsbewusste Senioren und
Seniorinnen geworden. Altersbedingte Veränderungen in der
Sexualität werden deshalb oft von medizinischer Seite zu »sexuellen
Dysfunktionen« umdefiniert, zu organisch bedingten Problemen, die
losgelöst von Alter und psychosozialer Situation diagnostiziert und
therapiert werden können.
Die Annahme über eine generelle Verminderung der sexuellen
Zufriedenheit im höheren Lebensalter trifft deshalb nicht zu.
Die pharmakologische Therapie von Sexualstörungen ist kein Ersatz
für ein Gespräch über sexuelle Probleme. Die genaue medizinische
Abklärung von Kontraindikationen, Risiken und Nebenwirkungen, ein
vertrauensvolles Gespräch und der Einbezug von Partner oder
Partnerin gehören unbedingt zur Beratung und Behandlung älterer
Menschen mit sexuellen Problemen.
Sexuelle Probleme im höheren Lebensalter – die weibliche
Perspektive
(Kirsten von Sydow) Obwohl sexuelle Probleme älterer Männer nach
wie vor mehr Beachtung finden, so ist inzwischen auch die sexuelle
Problematik älterer Frauen zum Thema geworden. Neben den
altbekannten weiblichen sexuellen Funktionsstörungen (...) gilt nun
die »Hypoactive sexual desire disorder« (HSDD) als neue Geißel der
weiblichen Bevölkerung, auch der älteren. Es erscheint aber
fraglich, ob jede Variation oder durchschnittliche Abnahme
sexuellen Interesses mit zunehmendem Alter als Störung
klassifiziert werden sollte. Orientiert am ICD-10 ist eine Störung
nur das, worunter Menschen subjektiv deutlich leiden. Doch ältere
Frauen leiden meist nicht unter ihrem geringen Interesse. Das
Kernproblem älterer Frauen scheinen eher unbefriedigte Wünsche nach
mehr Zärtlichkeit und mehr sexuellem Kontakt sein.
Das häufigste sexuelle Problem älterer Frauen ist das Fehlen eines
Partners. Singles leiden noch stärker unter dem damit oft
einhergehenden Mangel an Zärtlichkeit als an dem Mangel an
(partnerbezogener) sexueller Aktivität.
Sexuelle Funktionsstörungen des älteren Mannes
(Hermann J. Berberich) Nicht die Dysfunktion eines Genitalorgans
sollte zu stark fokussiert werden. Häufig sind es psychosoziale
Grundbedürfnisse, die befriedigt werden wollen; nicht der sexuell
funktionsgestörte Mann steht im Vordergrund: Das Paar ist der
Patient.
Lesbische Intimität in der zweiten Lebenshälfte
(Kirsten Plötz) In diesem Beitrag wird differenziert auf die
Begrifflichkeiten ›Lesbisch bzw. Lesbe‹ eingegangen: Aus
zahlreichen Interview-Auszügen geht hervor, dass ›Lesbisches Leben‹
der am zutreffendsten ist, denn ›die Lesbe als solche‹ nicht
existiert: die Unterschiede und die individuellen Bedürfnisse
älterer Frauen sind so groß, dass es derzeit nicht möglich ist,
eine größere Bandbreite lesbischen Alterns verlässlich statistisch
abzubilden.
Irrige Annahmen von Politikern, selbst von Ärztinnen und Ärzten,
blenden Lesbisches Leben in ihrem jeweiligen Arbeits- und
Verantwortungsbereich aus.
Schwule Männer im dritten Lebensalter. Ergebnisse einer
qualitativen Studie
(Michael Bochow) In diesem Beitrag geht es um Fragestellungen
aktueller Lebenssituation älterer Schwuler und die Art und Weise,
wie sie ihr drittes Lebensalter gestalten; andererseits ihre
Biografien. Alle 29 Interviewpartner sind vor 1955 geboren:
Stigmatisierung und bedrohliche Kriminalisierung werden
thematisiert.
Weitere Schwerpunkte: Rezepte zum glücklichen Altern?;
Paarbeziehungen; Sexualität und sexuelle Identität im Alter;
Physische und psychische Gesundheit; Spezifische Probleme schwuler
Väter; Soziale Netzwerke; Kontakte zu Schwulengruppen und
Schwulenszenen; Wohnmodelle; Mangelnde Thematisierung schwuler und
lesbischer Lebensweisen in der Öffentlichkeit.
Spätmoderne 60-Jährige
(Gunter Schmidt und Silja Matthiesen) In der Studie der 60-Jährigen
wird vornehmlich auf »junge« ältere Menschen Bezug genommen;
soziale Faktoren beeinflussen das sexuelle Verhalten zumindest bis
zum Alter von 60 Jahren wesentlich stärker als das Alter selbst.
Eine hohe Single-Rate älterer Frauen ist neben demografischen Daten
dadurch begründet, dass das Alleinleben von etlichen Frauen als
eine Möglichkeit erlebt wird, einengenden
Geschlechterrollenarrangements zu entkommen.
Paartherapie mit älteren Paaren: Das schwierige Thema
Sexualität
(Astrid Riehl-Emde und Anette Bruder) Hervorstechend: Der moderne,
salutogenetische und ressourcenorientierte Behandlungsansatz
gegenüber dem traditionellen pathogenetischen und
defizitorientierten Ansatz in der Paar-Therapie. Und: Sexualität
ist nur als bio-psycho-soziales Phänomen mit seiner
Beziehungsdimension begreifbar.
Zielgruppen
Alle Personengruppen, die ein Interesse an der Thematik haben,
können in hohem Maße profitieren. Insbesondere das Fachpublikum
könnte über die Übersichtlichkeit und Kürze überrascht sein.
Diskussion
Endlich ein Fachbuch, das alle Aspekte der partnerschaftlichen
Sexualität des höheren Lebensalters fachkundig, behutsam und
vielschichtig ausleuchtet: Leicht lesbar, für Interessierte sehr
brauchbar und nützlich, trotzdem auch für Laien gut
verständlich.
Die Autorinnen und Autoren sind ausgewiesene SpezialistInnen ihrer
jeweiligen Fachrichtung; die Aufteilung der Geschlechter zu den
Kapiteln und deren Zusammenstellung ist gut gewählt und die
Beiträge durch Literatur – soweit eben vorhanden! – bestens
abgesichert.
Fazit
Für jeden zu empfehlen: Ob interessierter Laie oder Fachkundiger –
ein Fundus an vielseitigem, kurz und prägnant gehaltenem Wissen,
das zum Weiterlesen verführt.
Dieses herausragende, kompakte Fachbuch sollte ab sofort in jeder
Bibliothek stehen!
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