Rezension zu Psychotherapie im Alter Nr. 11: Zukunft des Alters - Visionen und Illusionen, herausgegeben von Martin Teising
Psychosozial 118
Rezension von Helmut Dahmer
Frankfurter Kreidekreis – Probleme der Spätadoption
Eine höchst interessante Studie von Celina Rodriguez Drescher macht
mit den Problemen vertraut, die »Spätadoptionen« (bei denen die
vermittelten Kinder vier bis zwölf Jahre alt sind) für die
Adoptierten und ihre neuen Eltern mit sich bringen. 1977 wurde das
Adoptionsrecht reformiert, und in der Folge startete das Jugendamt
Frankfurt am Main ein Experiment mit der gezielten Vermittlung von
(deutschen) Kindern aus Heimen oder Pflegefamilien an
adoptionswillige Elternpaare. Die Autorin der Studie wurde mit
einer (retrospektiven) Evaluation dieses Projekts beauftragt.
Daraus entstand eine Kasseler Dissertation, die nun als Buch
vorliegt. Im Zentrum der Veröffentlichung stehen – eingerahmt von
einer Literaturübersicht, einer systematischen Auswertung und
Ratschlägen für die Praxis – fünf, auf der Grundlage von
»narrativen Interviews« und ergänzenden Fragebögen konzipierte
Fallgeschichten, in denen exemplarisch die langwierigen
Anpassungsprozesse geschildert werden, wie sie sich zwischen
»weggegebenen« Kindern, die wiederholte Trennungserfahrungen hinter
sich haben, auf der einen Seite und Eltern, die keine leiblichen
Kinder zeugen können (oder wollen) und deshalb ein »fremdes« Kind
annehmen möchten (das ihren Wunsch nach einer »richtigen« Familie
befriedigt), auf der anderen abspielen. Die Auszüge aus den
Interviews werden von der Autorin durch behutsam eingesetzte
psychoanalytische Deutungen illuminiert. Die historisch variable
Institution der Familie ist eine sozionaturale, das heißt: Die
rechtlich verbindliche Zuschreibung von »Verwandtschaft« (oder
Zugehörigkeit) orientiert sich an »Blutsbanden«, an einem Eltern
und Kindern gemeinsamen biologischen (genetischen) Substrat. Die
Zeugung soll – im Verein mit Schwangerschaft und Geburt – nicht nur
körperliche Ähnlichkeit nach sich ziehen, sondern darüber hinaus so
etwas wie eine »Seelenverwandtschaft« zwischen Eltern und Kindern
fundieren, auch wenn diese erst im Laufe des durch Identifikationen
vermittelten Sozialisationsprozesses zur Entfaltung kommt. Die
soziale Definition von »Verwandtschaft« und die genetische
Verwandtschaft fallen aber nicht zusammen. Speziell die genetische
Verwandtschaft zwischen Vätern und Kindern war – bis zur
Entwicklung der DNA-Analyse – stets ungewiss (»pater semper
incertus«), eine mehr oder weniger plausible Vermutung oder eben
ein »Glaube«. Die Familie imponiert als ein »feudales Relikt«
inmitten des Netzes moderner, indirekter, geldvermittelter
Relationen zwischen Personen, die als »autonom« gelten. In Familien
gibt es noch »Leibeigenschaft«: direkte Liebe und Gewalt. Soziale
Institutionen immunisieren sich gegen ihre Infragestellung oder
Reform durch »Naturalisierung«. So erscheint die uns bekannte Form
der Kleinfamilie heutzutage als eine schlechtweg »natürliche«. Jede
Abweichung von diesem Modell (in Gestalt der »Ersetzung« leiblicher
Kinder durch adoptierte oder in Gestalt der »Ersetzung«
heterosexueller Eltern durch gleichgeschlechtliche) gilt als ein
»Fehler«, der wiedergutgemacht werden muss, oder als eine »Schuld«,
die sich rächt. An der Differenz, die für die Beteiligten und ihr
soziales Umfeld zwischen einer »echten« (auf gemeinsamer
genetischer Ausstattung von Eltern und Kindern basierenden) Familie
und einer »simulierten« besteht, in der ein »blutsfremdes« Kind
behandelt wird, »als ob« es ein »eigenes« wäre, laborieren
Adoptivkinder und Adoptiveltern. In der »normalen« Familie wird die
relative »Fremdheit« oder »Eigenart« des »eigenen« Kindes sogleich
mithilfe des Glaubens an die Wirkkraft der geteilten genetischen
Ausstattung neutralisiert. Im Fall der Adoption, gar der
Spätadoption, wird jede Unstimmigkeit, jede Enttäuschung der
differenten genetischen Ausstattung des neuen Familienmitglieds,
seiner Herkunft zugeschrieben. Die leibliche Mutter des adoptierten
Kindes (oder deren Phantom) erscheint als ein im Hintergrund
dräuendes Schicksal. Die Adoptiveltern fürchten, eine mögliche
Reinkarnation der »wirklichen« Mutter (»nature«) im »angenommenen«
Kind könnte alle Integrationsanstrengungen (»nurture«) der
Adoptiveltern zunichte machen. Adoption bedeutet in den meisten
Fällen für das Kind ein soziales »Upgrading«. Und die (leibliche)
Abkunft von sozial »auffälligen« oder »verachteten« Eltern –
nämlich von Leuten, die ihre Kinder »weggeben« (müssen) – ist ein
Makel, von dem sich die Adoptierten nur mühsam befreien können. Im
Familiensystem herrscht der Aberglaube, dass die (biologische)
Herkunft über die individuelle Zukunft entscheidet. Einer Familie
zugehören heißt, innerhalb der Grenze von »eigen« und »fremd«
(»gut« und »böse«) zu leben. Adoptieren aber heißt, diese Grenze zu
durchbrechen oder zu ignorieren. Wer ein »fremdes« Kind adoptiert,
setzt auf »nurture« (Erziehung, Sozialisation) statt auf »nature«.
Will er vergangene Beschädigungen des von ihm »erwählten« Kindes
wettmachen, braucht er viel Frustrationstoleranz. Um auf Reparation
und Kompensation setzen zu können, muss er den biologistischen
Aberglauben in sich selbst überwinden, also die »Furcht vor der
Heredität« (Helene Deutsch). Und er muss der Illusion entsagen, den
»Makel« der »fehlenden« leiblichen Abkunft des adoptierten Kindes
simulatorisch (durch Verleugnung) aufheben zu können. Er muss sich
vom Bann des Modells der »richtigen «, natural verknüpften Familie
befreien und der konstruierten Patchwork-Familie vertrauen.
Das ist möglich, weil das Zustandekommen einer affektiven
Verknüpfung der Familienmitglieder (also der »Familienbande«) weder
biologisch noch rechtlich garantiert ist. Die familiale
Vergemeinschaftung ist stets eine Konstruktion, eine Stiftung der
Beteiligten.
Aus: psychosozial 118, Jg. 32, Heft 4/2009