Rezension zu Tatsächliche und gefühlte Einheit - mögliche Gründe für die Diskrepanz (PDF-E-Book)

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Rezension von Christian Döring

Schwerpunktthema: 20 Jahre Mauerfall

Erstaunlich offen und nichts schönredend kommt diese Broschüre daher. Die großen Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls sind gerade vorbei, um die vielen immer noch vorhandenen Mauern in unserem Alltag geht es in diesem Heft.

Bereits im Vorwort sagen die Herausgeber Irina Mohr und Elmar Brähler: »Kulturelle und ökonomische Besonderheiten sind nicht immer auf regionale Muster zurückzuführen, sondern sie wurzeln in den 40 Jahren des Bestehens verschiedener Sinnwelten, die uns geprägt haben. Und es gibt Gesprächsbedarf.« Allein an diesem Satz werden sich die Geister scheiden. Viele Politiker sind bereits so alltagsfremd und meinen mit dem Mauerfall und den sich anschließenden 20 Jahren wäre bereits alles zusammengewachsen was zusammengehört.

Gut, dass die bunte Autorenriege aus Ost und West, auch aus unterschiedlichsten Berufsgruppen kommend, sich nun zu Wort meldet und den Finger auf die Wunden, besser gesagt auf die noch bestehenden unsichtbaren Mauern legt. Die heutige Psychoanalytikerin Anette Simon erzählt davon wie sie 1975 in Ostberlin in einen Neubaublock gezogen war und wie der Leiter ihrer Hausgemeinschaft sie dazu brachte am DDR-Nationalfeiertag eine Fahne aus ihrem Fenster flattern zu lassen. Die Diplompsychologin ist in ihrem Beitrag ihrer damaligen Scham auf der Spur: »Die Scham bestand darin, wissentlich von einem inneren Gefühl der Wahrhaftigkeit, einem eigenen unverzichtbaren inneren Maßstab abgewichen zu sein.«

Der Beitrag von Anette Simon stammt zwar bereits aus dem Jahr 2002, aber seine Aktualität macht sehr deutlich wie wenig auf dem Feld der Aufarbeitung bisher getan wurde.

Interessant ist auch der Einwurf des Wittenberger Theologen Friedrich Schorlemmer. Er geht davon aus, dass sozialistische Ideen keine Chance auf gesellschaftliche Gestalt mehr haben, aber dadurch so der Theologe wird der Sieg des kapitalistischen Wirtschaftssystems geradezu verheerend und: »hinterlässt ... eine in Gewinner und Verlierer gespaltene Gesellschaft.«


Judka Strittmatter die heute in Berlin als freie Journalistin lebt, gewährt uns mit ihren sehr persönlichen Zeilen einen Blick in ihre Familie. Sie gehörte mit ihrem Vater zu den wenigen glücklichen DDR-Bürgern die vor dem Mauerfall bereits die BRD besuchen durften. Sie beschreibt ihre inneren Kämpfe die sie während ihres ersten Westbesuches austrug. Soll sie im Westen bleiben? Ihr Vater war linientreuer Parteisoldat.

Aber sie kehrte zurück in die DDR. Ein Jahr später durfte sie noch einmal in den Westen reisen. Diesmal blieb sie. Auf die Frage ob wir 20 Jahre nach dem Mauerfall denn nun zusammengewachsen sind oder nicht antwortet Judka Strittmatter: »Die offizielle Freude entspricht der tatsächlichen keineswegs. Ich finde es fahrlässig von der Politik, diese Tatsache bei ihren Jubelplänen nicht zu beachten. Diese Kritik geht allerdings an eine Ostdeutsche, die als solche von ihren Landsleuten nicht wahrgenommen wird und die – so macht es mir den Eindruck- die Tatsache, dass sie eine ist, auch lieber verdrängen würde ...«

Für meinen Geschmack legt sich Judka Strittmatter hier doch ein wenig zu sehr ins Zeug. Ihrem Grundgedanken mag ich wohl zustimmen, aber ich empfand das Kokketieren der Kanzlerin mit ihrer ostdeutschen Vergangenheit in Washington und anderswo beinah peinlich, aber so subjektiv können Eindrücke eben sein.

Interessant und wissenschaftlich wird es dann bei der Auswertung der sächsischen Längsschnittstudie. Sie stellt unter anderem die Frage: »Wie bewerten junge Ostdeutsche 20 Jahre nach dem Mauerfall die DDR?« Die Auswertung an Hand mehrerer Tabellen zeigt eine eher pessimistische Grundhaltung. Sehr deutlich wird auch bei dieser wissenschaftlichen Form der Aufarbeitung, dass wir noch weit entfernt sind von einem wirklichen zusammenwachsen.

Mich als Ostdeutschen macht es ratlos wenn ich den Tabellen in diesem Heft folge und mir ansehe welche Bevölkerungsschichten in den Westen Deutschland migrieren. In den Medien höre ich gelegentlich bereits etwas vom ausbluten des Ostens.

Der Leipziger Professor für empirische Kommunikations- und Medienforschung Hans-Jörg Stiehler beleuchtet in seinem Beitrag das unterschiedliche Fernsehverhalten der Deutschen in Ost und West. Schematisch stellt er Unterschiede fest und gibt Erklärungsversuche. Der Satz: »... die Mehrzahl der Ostdeutschen fühlt sich als Minorität ... Im Osten verfestigt sich die Annahme, in einer Sonderregion zu leben.« macht mich betroffen aber ich muss ihn bestätigen.

Die Bilanz die in diesem Heft nach 20 Jahren Mauerfall gezogen wird ist nicht berauschend, alles andere wäre auch nicht realistisch gewesen. Mit Hilfe wissenschaftlicher Studien, zahlreicher schriftlicher Reflektionen und sehr privater Meinungsäußerungen zeigen die Autoren, dass längst nicht zusammengewachsen ist was ursprünglich einst zusammengehörte.

Dieses Heft mit seinem Schwerpunktthema »20 Jahre Mauerfall« bietet die Chance, in eine konstruktive Debatte zu treten, die wir noch Jahrzehnte auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu
führen haben, denn dies macht diese Broschüre sehr deutlich: Das Zusammenwachsen geht uns alle an.

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