Rezension zu Der erste Augenblick der Liebe: Wenn zwei sich finden (PDF-E-Book)
www.uni-online.de
Rezension von Dr. Martin Schönemann
Der Band Nr. 117 von »psychosozial« widmet sich – wie viele andere
Publikationen dieser Tage – als Schwerpunktthema dem Jubiläum »20
Jahre Mauerfall«, doch tut er dies auf eine ganz besondere
Weise.
Schon das Editorial der Herausgeber Irina Mohr und Elmar Brähler
betont das. Der Fokus liegt gar nicht auf dem außerordentlichen
Ereignis des 9.11.89, sondern auf längerfristigen Entwicklungen,
die mit diesem Datum zusammenhängen: »Wir haben also erneut
hinzuschauen: einerseits auf die empirisch zu beobachtenden
Unterschiede und Erfahrungen, andererseits auf die nach 20 Jahren
gemeinsamer Geschichte unterschiedlichen Deutungen der
Teilungsgeschichte.« (S. 3). Es geht um die Frage, was 20 Jahre
nach dem Mauerfall Ostdeutsche immer noch von Westdeutschen trennt.
Der Band beleuchtet die Frage aus ostdeutscher Sicht (auch wenn
längst nicht alle Beiträger Ostdeutsche sind) – und schließt damit
eine Fehlstelle im westdeutsch dominierten offiziellen Gedenken
rings um den 9.11.
Die Folge der Texte beginnt programmatisch mit zwei Beiträgen zur
Identität der Ostdeutschen: Irina Mohr nähert sich dem umstrittenen
Phänomen eher polemisch. Sie bescheinigt der Mehrheit der
DDR-Bürger »anhand des gescheiterten Großversuchs DDR« »weder Täter
noch Opfer« (S. 6) gewesen zu sein – und verharrt mit diesen
(historisch fragwürdigen) Postulaten in einer diffusen Abwehr
westlich-konservativer Deutungsversuche wie dem vom »Unrechtstaat«
DDR. Historisch konkreter geht Annette Simon vor. Ausgehend von
ihrer persönlichen Erinnerung stellt sie eine Liste
gesellschaftlicher Erfahrungen zusammen, die bedenkenswerte
Hinweise auf spezifisch ostdeutsche Verhaltensmuster und
Sensibilitäten gibt.
Dann folgen, gerahmt von zwei betont sachlich und allgemein
gehaltenen Beiträgen zum Thema (vorsichtig ausgewogen Friedrich
Schorlemmer über den »Kampf um die Deutungshoheit über die DDR«,
sachlich-informativ zum Ablauf der Ereignisse des Jahres 1989 Peter
Bender) zwei Essays von Nachkommen ostdeutscher Prominenter: Jakob
Hein variiert in »Voll geschäftsfähig« eine populäre Legende, nach
der die deutsche Vereinigung als Familien- bzw. Liebesgeschichte
erzählt wird, ähnlich wie das z. B. schon Gregor Gysi (vgl. S. 25
desselben Bandes) oder Thomas Harmsen (»Die Königskinder von
Bärenburg. Ein deutsch-deutsches Märchen«, 2003) getan haben. Judka
Strittmatter geht dagegen sehr persönlich vor: Mithilfe eigener
Erlebnisse im wiedervereinigten Deutschland weist sie nach, dass
das Besondere an den Ostdeutschen zu einem nicht unerheblichen Teil
erst aus dem Blick der Westdeutschen resultiert, die sie (mangels
Wissen-Wollen) zu tendenziell minderbemittelten Exoten
stilisieren.
Existiert der Ost-West-Gegensatz also nur in den Köpfen? Auch
darauf gibt der Band einige Antworten – durch die Präsentation
empirischer Umfrageergebnisse. Eindrucksvoll schildert etwa der
Beitrag »Erfahrungen im anderen Teil Deutschlands«, dass sich
Ost-West-Migranten in Bezug auf Bildungsstand und Beruf deutlich
von West-Ost-Migranten unterscheiden. Deutlich wird hier ein
soziales West-Ost-Gefälle.
Weniger ergiebig sind die empirischen Untersuchungen zur
Mediennutzung (Ostdeutsche konsumieren häufiger private
Fernsehprogramme) sowie zur Frage der ostdeutschen Identität, bei
der Ostdeutsche aufgefordert wurden, ihre Erfahrungen vor und nach
der Vereinigung in Bezug auf bestimmte Bereiche des politischen
Lebens im Vergleich zu bewerten. Besonders in dem letzteren Beitrag
– schon dessen Titel »Vorwärts und nicht vergessen«, der leicht
ironisch auf das Brecht-Weillsche Einheitsfrontlied verweist,
deutet das an – wird man den Verdacht nicht los, dass hier mit
scheinbar objektiven Daten eine ostdeutsche Identität konstruiert
werden soll. Die Studie stellt mit großem Aufwand fest, dass
ehemalige DDR-Bürger ihrem damaligen Leben durchaus positive
Aspekte abgewinnen konnten und in ihrem jetzigen Leben mit vielem
unzufrieden sind. Das ist wenig überraschend: Kein Leben, das in
einigermaßen ruhigen Bahnen verläuft, kann ganz schlecht sein. Und
angesichts der doch erheblichen Umbrüche um und nach 1990 kann eine
gewisse Unzufriedenheit der Ostdeutschen auch nicht verwundern.
Diese Unzufriedenheit aber zu einer eigenen »Identität« zu
stilisieren, greift meines Erachtens zu kurz – und erinnert fatal
an die Vorgehensweise des westdeutschen SPIEGEL-Redakteurs (aus J.
Strittmatters Beitrag), der den Ostdeutschen (vielleicht ebenso
unbewusst) die Rolle des einfach gestrickten Underdogs zuweist.
Wirklich aufschlussreich ist dagegen die Untersuchung von Wolf
Wagner über »Tatsächliche und gefühlte Einheit«, vielleicht weil er
seinen Untersuchungsgegenstand anders wählt: Er untersucht Ost- und
Westdeutsche – und stellt fest, dass sich deren Ansichten (zwischen
1991 und 2006) deutlich angenähert haben, und zwar von beiden
Seiten her. Wirklich abweichende Ansichten in Ostdeutschland findet
er überwiegend nur noch bei klassischen Einheitsverlierern, die
dankbar zu alten antiwestdeutschen Erklärungsmustern greifen (S.
55f.).
»psychosozial 117« erschöpft sich aber nicht in seinem
Schwerpunktthema, sondern findet am Ende auch Raum für das normale
Tagesgeschäft: Der Leser wird mit einem originellen
Literaturüberblick über sozialpsychologische Themen versorgt
(Michael Buchholz), und erfährt etwas über die Psychologie und
gesellschaftliche Wahrnehmung von geschlechtlicher Liebe (Thomas
Ferdinand Krauss), über die Bedeutung des Kinderopfers für die
kollektive Psyche von Gesellschaften (Eberhard Th. Haas) sowie über
den kürzlich verstorbenen Schweizer Psychologen Paul Parin (Roland
Kaufhold).
Dennoch gebührt den Herausgebern wohl vor allem Dank für das
Wagnis, sich ausgleichend in eine Debatte eingemischt zu haben, die
bisher meist einseitig und oberflächlich geführt wird, in der
schnelle Urteile von außen über das Leben in der DDR gefällt
werden. Dass die Beiträger des Heftes dabei mitunter ins andere
Extrem verfallen und ängstlich an einer Fixierung auf das
spezifisch Ostdeutsche festhalten, ist aus der Hitze der
Auseinandersetzung verständlich. Es bleibt zu hoffen, dass die
Wogen sich glätten und später einmal unaufgeregter über das
schwierige Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland geredet
werden kann.
www.uni-online.de