Rezension zu Wenn Kinder Völkermord überleben
The Scandinavian Psychoanalytic Review
Rezension von Barbara Mattsson
Kurz vor dem Erreichen der Pensionierung haben ehemalige
Kriegskinder – diejenigen, die während des Zweiten Weltkrieges
Kinder waren – begonnen zurückzuschauen und versuchen nun
schließlich, ihre Erlebnisse zu bearbeiten. Eine große Anzahl von
Verbänden, die sich Kriegskindern in ganz Europa gewidmet haben,
können dieses Phänomen bezeugen. Viele der ehemaligen Kriegskinder
suchen nach Verständnis und Anerkennung für ihre bitteren
Erfahrungen, während andere fähig sein wollen, zu vergessen.
Auf Initiative des Shoah Foundation Institute for Visual History
and Education wurden die jüdischen Kinder, die von verschiedenen
Lagern, Gettos oder Verstecken aus nach Schweden kamen, als
Erwachsene interviewt. Suzanne Kaplan war in einem frühen Stadium
des Projekts an dieser Arbeit beteiligt, und versammelte im Jahre
2002 ihre Schlussfolgerungen in ihrer Doktorarbeit »Child Survivors
in the Holocaust«. Sie hat ihre Gedanken nun in einem neuen Buch
weiterentwickelt, Wenn Kinder Völkermord überleben, veröffentlicht
2008 von der International Psychoanalysis Library, ein Umstand, der
als wichtige Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Arbeit gesehen
werden muss.
Zu einem gewissen Grad behandeln diese beiden Arbeiten dieselbe
Materie, in dem aktuell veröffentlichten Buch haben sich die Ideen
und ursprünglichen Hypothesen der Autorin jedoch zu einer Theorie
über Trauma und Affektregulation entwickelt. Das Buch enthält auch
neues Material, in erster Linie von Kaplans Begegnungen mit Kindern
nach dem kürzlichen Völkermord in Ruanda und eine Beschreibung des
historischen Hintergrundes des Konfliktes zwischen den Hutus und
Tutsis. In ihrem Bericht über ihre Interviews mit Jungen, die
diesen Krieg überlebt haben, konnte sie verdeutlichen, wie diese
mit ihren schrecklichen Erfahrungen umgegangen sind.
In ihrer Dissertation analysierte Kaplan ihr Interviewmaterial
qualitativ, indem sie die Methodik der Gegenstandsverankerten
Theoriebildung (Gounded Theory)anwendete. Sie betonte die
Notwendigkeit, offen zu sein, und vermied die Anwendung
vorgefertigter Hypothesen. Auch wenn ihr Ausgangspunkt
psychoanalytisch war, war sie bestrebt, vorgefertigte Konzepte oder
psychoanalytisches Vokabular zu vermeiden. Sie versuchte ihre
eigenen Begriffe für die allgemeinen Faktoren, auf die sie in den
Erfahrungen der Kinder stieß, zu finden. Dabei führte sie die
Konzepte des Generationenzerfalls (generational collapse) versus
Generationenbindung (generational linking) als eine Basis für die
Verarbeitung des Erlebten ein. Ihre Beschreibung dieser Phänomene
macht es uns allen möglich, eine Vorstellung von den furchtbaren
Konsequenzen des Völkermords zu bekommen, aber auch von den
Heilungsmechanismen, die sich eventuell mit der Zeit zeigen.
Kinder des Holocausts haben nicht nur die Verbindung zu ihren
Eltern und die Erfahrung der eigenen Kindheit verloren, sondern
auch den Kontakt zu ihrer eigenen Familiengeschichte.
Generationenzerfall bedeutet eine Wegbewegung von der kulturellen
Sphäre, zu der man gehört. Dies wurde von einem Bruch in
Denkprozessen und dem Erleben des Selbst begleitet. Es wurde zu
einer Verletzung, einer klaffenden Wunde im Leben, mit der sich der
Überlebende gezwungenermaßen den Rest seines Lebens beschäftigen
muss. Kaplan verwendete den Begriff Generationenbindung um einen
Weg zu beschreiben, den eine traumatisierte Person eventuell
durcharbeiten und aushalten muss, was ansonsten unerträglich
wäre.
In ihrem neuen Buch betont Suzanne Kaplan, dass die psychologischen
Reaktionen auf Auslöschung oft die gleichen sind, unabhängig vom
jeweiligen kulturellen Hintergrund. Die Nützlichkeit ihrer Konzepte
wird durch die Tatsache bestätigt, dass sie auch in anderen
Kontexten zum Verständnis von Ereignissen im Leben verletzlicher
Kinder beitragen. Dies trifft auf all diejenigen zu, die gegen
ihren Willen vertrieben wurden und dabei unter der Zerstörung der
grundlegenden Struktur ihres alltäglichen Netzwerkes zu leiden
haben. Obwohl beispielsweise finnische Kinder, die während des
Zweiten Weltkrieges nach Schweden evakuiert wurden, nicht dieselbe
Kategorie von Erfahrungen durchlebten, wie die von Kaplan
beschriebenen Kinder, die den Holocaust überlebt haben, gibt es
Elemente in Kaplans Darstellung, die einen auch in dem finnischen
Fall für die Erlebnisse der Kinder sensibilisieren. Auch hier
wurden Kinder plötzlich von ihren Eltern getrennt und fanden sich
in einer fremden Umgebung wieder. Dies ist das Schicksal vieler
Kinder im Krieg. Im zweiten Weltkrieg waren da, neben den
finnischen Kindern, zum Beispiel auch die, die aus London evakuiert
wurden. In ganz Europa war es zu Kriegszeiten eher die Regel, als
die Ausnahme, dass Kinder von Orten weggebracht wurden, die als
gefährlich galten oder Bombardierungen ausgesetzt waren.
Generationenzerfall und Generationenbindung bilden die Basis für
die Entwicklung der von Kaplan vorgestellten Theorie. Sie
entwickelt innerhalb dieses Bezugssystems zwei Kernideen, die sie
mit Perforation (perforation) und Erschaffung von Raum (space
creation) benennt. Perforation bedeutet, dass innerhalb des
Individuums etwas zerbrochen wurde. Wie Anzieu spricht Kaplan von
einem psychischen Schutzschild. Wenn es zu einer Perforation kommt,
kann man sagen, dass das psychische Schutzschild durch
Sinneswahrnehmungen, die nicht mentalisiert, d. h. reflektiert
werden konnten, löchrig wurde. Diese Sinneswahrnehmungen können von
reellen, bedrohlichen Situationen herrühren, die das Individuum
zwar registriert hat, gegen die es sich aber nicht verteidigen
konnte, namentlich: barsche Stimmen, unangenehme Gerüche,
Gewalttaten. Perforation kann, unter anderem, als eine Verzerrung
der Alterswahrnehmung beobachtet werden, die zu einem Gefühl des
Zusammenbruchs des eigenen Lebenszyklus führt. Dann tauchen in der
Persönlichkeit eventuell verschiedene Formen des Selbst auf, die
nicht integriert werden können: beispielsweise jemand der klein und
besorgt ist, und jemand der jüngere Brüder und Schwestern tröstet
oder sich sogar um verwirrte Eltern kümmert.
Kaplan betrachtet Erschaffung von Raum als das Gegenteil von
Perforation. Sie betont wie wichtig es ist, darauf zu hören, wie
Kinder Raum mithilfe ihrer eigenen Gedanken und Taten dazu nutzen,
Distanz zu einer aktuellen Bedrohung schaffen. In den Interviews
dokumentierte sie Momente, in denen eine Person, als Kind oder
Erwachsener, Verbindungen zu inneren Objekten geschaffen hat –
verlässliche Personen oder Dinge – um dadurch bewusst oder
unbewusst einem Gefühl der Hilflosigkeit entgegenzuwirken. Das
traumatisierte Individuum versucht also, auf diese Weise
Integration innerhalb der eigenen Persönlichkeit zu erlangen.
Kaplan sieht diese Bemühungen als Strategien oder kreative
Prozesse, die aus dem Bedürfnis des Kindes nach psychischem
Überleben hervorgehen. Denken und Handeln geschehen unter ihren
eigenen Bedingungen, z. B. in Form von innerem und äußerem
Widerstand. Manchmal konnten sich die von Kaplan interviewten
Kinder beispielsweise an Familientraditionen erinnern, und wurden
durch diese damals vereinenden Erfahrungen gestärkt. Kaplan gibt
Beispiele, wie manche Kinder kurze Momente erlebten, in denen sie
durch ein Fenster oder ein Loch im Zaun schauen, und ihren Blick
auf etwas im Außen richten konnten. Um der Realität eines Gefühls
des eingepfercht-Seins entgegenzuwirken, konnten sie dann von etwas
träumen oder etwas fantasieren, das an einem anderen Ort war und
nicht mit Verlust oder Gefahr in Verbindung stand. Augenblicklicher
Einfallsreichtum in verschiedenen Situationen konnte dann auch ein
wichtiger Faktor bei der Erschaffung von Raum sein.
Kaplan nutzt Winnicotts Idee von einem potentiellem psychischen
Raum, der eine Brücke zwischen der Distanz und der Nähe zur Mutter
bildet. Das Übergangsgsobjekt und der Übergangssbereich fungieren
hier als eine Abwehr gegen Angstgefühle. So kann bisweilen Raum
geschaffen werden, in dem sich das Individuum sogar unter
auswegslosen Bedingungen lebendig fühlt. Kaplan greift auch die
Frage der Resilienz auf. Ursprünglich lehnte sie dieses Konzept ab,
ist jetzt jedoch der Meinung, dass die Möglichkeit, sich unter
schwierigen Umständen seinen eigenen psychischen Raum zu schaffen
ein Ausdruck von Resilienz sein könnte, und eine Möglichkeit zu
überleben bietet. Die Erschaffung von Raum öffnet wiederum die Tür
für Generationenbindung, d. h., für verschiedene
Wiedergutmachungsmöglichkeiten.
Eine der wichtigsten Schlüsse in ihrer Arbeit war, dass diejenigen,
die während des Holocausts noch Kinder waren, Schaden bezüglich
ihres Bildes von Elternschaft davongetragen haben. Überdies sieht
sie in diesem Bruch des Reproduktionszyklus einen entscheidenden
Teil des Traumas. Dennoch berichtet sie in ihrem neuen Buch von
einem Jungen aus Ruanda, der den Genozid überlebte und nach
beträchtlicher Unterstützung in der Lage war, sein Verlangen nach
Rache aufzugeben und sich eine eigene Zukunft mit seinen eigenen
Kindern vorzustellen.
Die Theorie bezüglich der Affektregulation ist in dem neuen Buch
besonders bedeutsam. Kaplan hat das Material der zuvor
dargestellten individuellen Aussagen angepasst, und ein Modell
erstellt, um zu ermitteln und zu verstehen wie traumatische
Erinnerungen abgerufen werden. Sie ist dabei noch weiter gegangen
und hat ein analytisches Hilfsmittel für die Beurteilung von
traumabezogenen Affekten entwickelt. Jede Begegnung mit Trauma im
späteren Leben kann verschiedene Reaktionen und Abwehrmechanismen
aktivieren, von sich aufdrängenden Gedanken und dem Verlangen nach
Rache, bis hin zu kreativen Lösungen. Selten überwiegt eine Art der
Reaktion, vielmehr variiert sie vom einen zum anderen Mal. Sie
verzeichnet ein variables Muster von Reaktionen, die
unterschiedliche Ebenen der Bearbeitung (an)zeigen/darstellen.
Persönliche Interviews oder Erzählungen von Therapiesitzungen
können unterschiedliche Arten der Reaktionen auf Trauma beinhalten.
Sie nennt Affektinvasion, Affektisolierung, Aktivation und
Symbolisierung, die wiederum, wenn Abwehrmechanismen nicht
integriert sind, zu paranoiden Reaktionen, somatischen Reaktionen,
Dissoziation oder unerträglicher Angst führen können.
Affektinvasion kann die Form von panischem Weinen oder Lachen
annehmen, die eine physische Reaktion, und möglicherweise eine
Wiederholung eines Traumas anzeigen, in der das Unerträgliche
präsent ist. Affektisolation ist durch eine dissoziative,
vorgefertigte Narration charakterisiert, was bedeuten kann, dass
eine Bearbeitung des Traumas fest blockiert ist, oder dass die
Kontrolle des Individuums über den traumatischen Affekt anhält, und
kann gegebenenfalls eine Möglichkeit zum Handeln bieten. Kaplan
beschreibt Affektaktivierung als verbal ausgedrückte Angst, und
Affektsymbolisierung als einen Zustand, in dem Trauma in Form von
Worten dargelegt wird, möglicherweise metaphorisch, und in dem
Schmerz erträglich sein kann. Diese Reaktionen können sich zu
Strategien ausweiten, durch die man dann einen flüchtigen Eindruck
der dominierenden Muster gewinnen kann. Affektregulation ist an
verschiedene Vernetzungssprozessen gekoppelt, entweder an
Traumabindung, bei der Teile des Traumas als Teile der Realität
wiedererlebt werden, oder an eine eher wiedergutmachende
Generationenbindung. Trauma zu bearbeiten ist ein dauerhafter
Prozess. Kaplan hat die verschiedenartigen Manifestationen der
Affektregulation und -vernetzung, die in jedem Individuum zu finden
sind, in einem anschaulichen Modell versammelt, und nennt dieses
Modell den »Affektpropeller«.
Der »Affektpropeller« bietet einen Rahmen für ein visuelles und
intellektuelles Verständnis des vielgestaltigen Reaktionsmusters,
das eine Person entwickeln kann, wenn sie traumatische Erinnerungen
in ihr Bewusstsein zurückruft oder bearbeitet. Die Fähigkeit,
Affekte zu regulieren, ist ein motivierender Faktor für
Entwicklung. Der Verlust der Fähigkeit zur Affekt- und
Impulsregulation, der ein Hindernis für weitere psychische
Entwicklung und Integration sein kann, spiegelt möglicherweise eine
extreme Traumatisierung wieder.
Ein neues Projekt, das Kaplan in ihrem jüngsten Buch beschreibt,
befasst sich mit chronisch hospitalisierten Patienten, die den
Holocaust überlebt haben und jetzt in Israel in psychiatrischen
Krankenhäusern untergebracht sind. Sie legt dar, wie diese den
Eindruck vermitteln, dass sie alles vergessen hätten, was sie
erlebt haben; sie leugnen, dass der Holocaust jemals stattgefunden
hat, und halten daher daran fest, dass es sich nicht lohnt, darüber
zu sprechen. Diese Patienten geben ein vollkommen anderes Bild ab,
als beispielsweise die Individuen, die Kaplan in Schweden befragt
hat, also Überlebende, die es irgendwie bewerkstelligt haben,
weiterzuleben. Es scheint, als seien die Affekte der psychisch
Kranken eingekapselt worden, und als seien ihre Geschichten zum
Stillstand gekommen, so dass es an Symbolisierung und Assoziationen
mangelt. Sie haben ihre bewussten Erinnerungen ausgelöscht, und
haben möglicherweise in einem frühen Stadium keine Hilfe bekommen,
um ihr Trauma zu verbalisieren.
Genauso wie Kaplans anfängliche Konzepte aus ihrer Dissertation,
könnte das Affektpropeller-Modell nützlich sein, wenn man in
verschiedenen Zusammenhängen auf traumatisierte Personen trifft. Es
könnte dem Zuhörer, beispielsweise dem Psychotherapeuten, dabei
behilflich sein, verschiedene Nuancen der Erzählung des Patienten
besser und eindeutiger zu erkennen. Möglicherweise kann der
»Affektpropeller« dem Therapeuten auch, wie Kaplan betont, eine
Vorstellung von der Richtung der Psychotherapie geben, sowie dabei
helfen, affektive Nuancen innerhalb des analytischen Prozesses zu
verfolgen und somit den Patienten dabei unterstützen, mit seinem
Trauma umzugehen. Dabei wird angenommen, dass der Therapeut aktiv
an die traumatische Erfahrung herangeht. Kaplan vergleicht ihre
Theorie mit bislang bewährten psychoanalytischen Konzepten. Ihre
vorrangige Quelle ist Winnicott, aber auch Bion, Fonagy und Modell
werden, unter anderen, zitiert. Ihre Arbeit ist ein Beispiel dafür,
wie man sowohl psychoanalytisch, als auch wissenschaftlich arbeiten
kann. Sie kombiniert das Individuelle und das Subjektive der
Interviews so, dass das Ergebnis eine komplexe und reiche
theoretische Behandlung der gestellten Fragen darstellt.
Kaplan schreibt im Speziellen über Kinder, die Völkermord
ausgesetzt sind. Trotzdem ist ihre Theorie, wie bereits erwähnt,
auch für jene nützlich, die mit anderen Kindern zu tun haben, denen
es schlecht ergangen ist. Sie bietet Konzepte und Perspektiven, die
andernfalls möglicherweise schwierig einzuflechten und anzuwenden
wären. Ich denke dabei an Kinder, die den Kontakt zu ihrer Heimat,
ihrem Umfeld und ihren Wurzeln verloren haben, wie es
beispielsweise bei Kindern der Fall ist, die von einem fremden
Umfeld adoptiert wurden. Kaplans Theorien haben eine erweiterte,
universelle Gültigkeit und sind auf all jene anwendbar, die mit
Krieg und der herzlosen Grausamkeit anderer in Berührung gekommen
sind. Ihre Arbeit weist auch den Weg für Möglichkeiten der
Behandlung und Verarbeitung.