Rezension zu Das Apfelgehäuse (PDF-E-Book)
www.hagalil.com
Rezension von Roland Kaufhold
Das Apfelgehäuse – ein Mädchen erinnert sich an die Shoah
Ein außergewöhnliches, berührendes Werk einer aus Ungarn stammenden
Frau, die als Jugendliche das Konzentrationslager Auschwitz
überlebt hat und heute in den USA als Psychoanalytikerin arbeitet:
Anna Ornstein. Bei den jährlichen familiären Pessachfest fand sie
den Mut, ihren eigenen Kindern in vorsichtiger, niemals
verstörender Weise von ihren furchtbaren Erlebnissen zu berichten.
Anna Ornstein betont: »So wie ich davon begeistert bin, zu was für
Menschen unsere Kinder herangewachsen sind, und die Geburt jedes
Enkelkindes feiere, werden meine eigenen Erinnerungen an die
Vergangenheit immer stärker anstatt trüber.« Ein lesenswertes,
lebendiges Buch ...
Vorzüglich übersetzt wurde das Buch von Martin Gossmann, der auch
ein Vorwort beigesteuert hat. Gossmann hat bei den Ornsteins seine
psychoanalytische Ausbildung gemacht. In seinem Vorwort schildert
er einige Begegnungen mit Anna und Paul H. Ornstein und fügt hinzu:
»Die emotional getragene Auseinandersetzung mit diesen Erlebnissen
hat mich bereichert und bleibend verändert. Nicht im Sinne einer
›Bewältigung‹ der Vergangenheit, wie sollte das möglich sein,
sondern im Sinne einer Anerkennung der Vergangenheit und einer
dadurch möglich gewordenen Gegenwart.« (S. 13f.)
Das Buch besteht aus 31 selbständigen, jeweils gleich langen,
biographischen Erzählungen, Kindheitserinnerungen. 25 davon waren
in der 2001 publizierten amerikanischen Originalausgabe dieses
Buches veröffentlicht worden; für die deutschsprachige Ausgabe hat
Anna Ornstein noch einmal sechs weitere Erzählungen verfasst. Die
Überschriften der Kapitel sind jeweils sehr knapp und berühren
existentielle Themen, die aus der Zeit vor ihrer Verschleppung nach
Auschwitz, aus dem Leben in Auschwitz sowie aus der
Bewältigungsphase nach der Befreiung stammen. Exemplarisch seien
genannt: »Meine liebsten Erinnerungen«, »Der Abschied«, »Der
Rucksack«, »Mutter«, »Auschwitz, eine andere Welt«, »Die
Tätowierung«, »Das Fenster«, »Der Tag der Befreiung: 8. Mai 1945«,
»Heimkehr«, »Der fehlende Grabstein« und »Die Einweihung eines
Museums«. Weiterhin sind einzelnen Kapiteln 15 Radierungen des
Malers Steward Goldmann beigefügt worden.
Anna Ornstein, die gemeinsam mit ihrem Ehemann als Professorin in
Cincinnati, Ohio sowie an der Harvard University gelehrt und als
Psychoanalytikerin gearbeitet hat, hebt in ihrem das Buch
einleitenden Essay »Die Stimme der Erinnerung« die lebenserhaltende
Bedeutung der jüdischen Traditionen und Erinnerungen hervor, die
durch Erzählungen an die nächste Generation weitergereicht werden –
und aus denen auch dieser wunderbarer Band erwachsen ist: »Wir sind
ein Verbindungsglied in der Generationenkette des jüdischen Volkes.
In uns und durch uns lebt vieles aus dieser grauenvollen Zeitspanne
unserer Vergangenheit. Dadurch, dass wir unsere Erinnerungen für
die nächste Generation relevant machen, erhalten wir diejenigen am
Leben, an deren Tod wir immer weiter erinnern wollen. Nichts kann
dankbarer sein, als zu sehen, dass die Erinnerungen, die wir
unseren Kindern anvertraut haben, von diesen voller Liebe und
Mitgefühl angenommen worden sind und dass die Verbindung, die wir
zwischen unseren beiden Generationen geschmiedet haben, bestehen
bleiben wird«. (S. 18)
In dem Essay »Meine liebsten Erinnerungen« erzählt Anna Ornstein –
sie wurde 1927 in Ungarn als Kind einer jüdischen Familie geboren
-, von ihrer Kindheit im ungarischen Dorf Szendro – 1942 zieht sie
nach Debrecen -, wo 40 jüdische Familien unter 4.000 Dorfbewohnern
lebten, ohne Oberschule, staatliche Bücherei und Krankenhaus. Ihr
Vater – die Nationalsozialisten sollten ihn später ermorden – besaß
eine Sammlung deutscher Klassiker und bezog eine deutsche
Wochenzeitung, »um nicht das gute Deutsch zu vergessen, das er
sprach.« (S. 21) Sehr beeindruckt ist die junge Anna von den
Zigeunern des Dorfes, die im Frühjahr und Herbst auf den Stufen des
Elternhauses lagerten, und deren langen, musikalischen
Hochzeitsfeste unauslöschbare Spuren in ihr hinterließen: »Wir
wollten nicht nach Hause gehen, bevor die Musik ganz zu Ende war
...« (S. 21) 14-jährig hört sie von dem Heranrücken der
nationalsozialistischen Armee, es sind ungesicherte Informationen,
und doch spürt sie bald, dass es keinen Ausweg mehr gibt.
Anna Ornstein beschäftigt sich früh mit zionistischen Ideen. Eine
Übersiedlung in das damalige Palästina erscheint ihr als eine
mögliche Lebensperspektive – und doch ersehnt sie sich ein
gleichberechtigtes Leben als Jüdin in Ungarn. Sie erinnert sich:
»Unsere Zukunftsvisionen schienen auf zwei parallelen Wegen zu
verlaufen, die schwer miteinander zu vereinbaren waren: auf der
einen Seite träumten wir von einem jüdischen Staat, von unserer
Auswanderung nach Palästina; auf der anderen Seite lernten wir
Latein und Algebra, als ob sich die Türen der ungarischen
Universitäten demnächst plötzlich für jüdische Jungen und Mädchen
öffnen sollten.« (S. 25)
Ab 1942 besucht sie das jüdische Gymnasium in Debrecen, trifft sich
wöchentlich in einer zionistischen Jugendgruppe. Mit großer Hingabe
tanzt sie gemeinsam mit ihren Freundinnen stundenlang den
ursprünglich aus Rumänien stammenden jüdischen Volkstanz Hora. Am
19. März 1944 besetzen deutsche Truppen die Stadt, die jüdische
Schule wird geschlossen. Nun beginnt eine Lebensphase der
schlimmsten Verluste, ihr Vater und ihre beiden Brüder
verschwinden, werden später von den Deutschen ermordet.
Ihre Erinnerung an ihr letztes Treffen mit ihrem Bruder Paul, in
»Der Abschied« beschrieben, verblasst in ihr nie, wird im Alter
eher noch stärker. Sie treffen sich noch einmal auf einem Bahnhof,
unter den Augen eines uniformierten Bahnbeamten, umarmen sich: »Was
ich heute vor mir sehe ist der Rücken dieses hellbeigen
Wollmantels, und was tief in meine Erinnerung eingebrannt ist sind
die Worte, die ich damals dachte: ›Dies ist das letzte Mal, dass
ich dich sehen werde.‹ Ich blieb noch eine Weile und sah ihm zu,
wie er zu seinem Zug kroch. (...) Mein Bruder Paul kam nicht zurück
von der Ostfront. Bis heute weiß ich nicht, wie und wo er starb.«
(S. 30f.)
Ihre Erinnerungen an ihren Vater – er wurde 1883 geborenen -, so
wie sie ihn als Kind erlebt hat, sind gleichfalls von einer
berührenden Dichte und Wärme: »Wenn ich an meinen Vater denke,
denke ich zuerst an seine Hände. Vater hatte weiche, warme Hände.
Als ich ein kleines Mädchen war, machte ich gerne eine feste Faust
und vergrub meine kleinen Hände in seiner Handfläche, so dass er
sie wärmen konnte.« (S. 53) Die grausame, willkürliche Ermordung
ihres gebildeten, an der deutschen Sprache interessierten Vaters
hinterlässt in Anna Ornstein eine unheilbare Wunde – von der sie
ihren Kindern und Enkeln erzählt: »Nach all diesen Jahren habe ich
die Wahrheit über seinen Tod immer noch nicht akzeptiert, dass
dieser liebevolle und ruhige Mann unter einer Dusche starb, die
statt Wasser giftiges Gas auf ihn ergoss.« (S. 54) Und in ihrer
Erzählung »Die Schaufel«, die sie wohl Ende der 1980er Jahre nach
ihrem ersten Besuch in Auschwitz nach ihrer Befreiung verfasst hat,
betont sie: »Ich weiß, wann und wo mein Vater starb, aber ich tue
mich sehr schwer damit, zu akzeptieren wie er starb.« (S. 114)
Der größte Teil der Erzählungen kreisen um ihren Überlebenskampf in
Auschwitz, wohin sie im Juni 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter
verschleppt worden war. In nüchterner, direkter Weise beschreibt
sie den von den deutschen Nationalsozialisten systematisch
betriebenen Prozess der Entmenschlichung, der Reduzierung des
Lebens der wehrlosen jüdischen Häftlinge auf das rein körperliche
Überleben: »Unseren Körpern war jedes bisschen Haar genommen: auf
dem Kopf, unter den Armen, in der Scham. Radikale Nacktheit –
nannte es Des Pres (»The Survivor«, 1976, RK). Diese Worte
beschreiben es genau. Sie erfassen das Wesen dieser Erfahrung.
Konzentrationslager waren Orte, sagt er, an denen ›das menschliche
Selbst seiner seelischen wie körperlichen Vermittlung beraubt
wurde, bis buchstäblich nichts als der bloße Körper übrig blieb,
Zeit und Schmerz zu überdauern. (…) In den Nazi-Lagern verloren sie
sogar ihre Namen und ihre Haare.‹ Der Übergang von der Zivilisation
in das Äußerste vollzog sich innerhalb von Stunden.« (S. 57f.)
In vergleichbarer Weise haben die Konzentrationslager –
Überlebenden Ernst Federn und Bruno Bettelheim diesen
Überlebensprozess aus psychoanalytischer Perspektive beschrieben
(Federn 1999, Kaufhold 2001).
Ornstein erzählt, aus der Perspektive einer Jugendlichen, verbunden
mit dem Wissen einer Erwachsenen, vom Überlebenskampf in Auschwitz,
immer in der rettenden Anwesenheit ihrer Mutter; von der
Zwangsarbeit, den Demütigungen, dem Hunger, den Gefühlen der
Unwirklichkeit, aber auch den kleinen Augenblicks des Glücks, der
Hoffnung. Die Erzählung »Die Tätowierung« beginnt sie mit den
Worten: »Es war ein frischer Herbstmorgen. Weil es noch sehr früh
war, war es kalt, aber wir spürten, dass es ein ›guter Tag‹ werden
würde: trocken und nicht allzu kalt. Früh morgens – ich glaube, es
war während des Zählappells – wurde uns gesagt, dass wir heute
Tätowierungen erhalten sollten.« (S. 69) Für Anna Ornstein war dies
eine – nur scheinbar paradoxe – Erfahrung: Sie fühlt sich erstmals
wieder als Individuum, entwickelt wieder ein Gefühl der Identität,
verbindet hiermit die Hoffnung, am Leben bleiben zu können.
In der titelgebenden Erzählung »Das Apfelgehäuse« berichtet Anna
Ornstein von ihrem größten Glück in Auschwitz: Während ihres
Aufenthaltes in der Krankenstation von Auschwitz – die Verlagerung
in die Krankenstation war mit der konkreten Gefahr verbunden, von
den Deutschen ermordet zu werden – findet ihre Mutter auf der
Straße in der Nähe des Lagers ein Apfelgehäuse, und bewahrte dieses
für Annas 18. Geburtstag auf. Eine beglückende, lebenslang prägende
Erfahrung: »Und was für ein Geschenk das war! Es waren noch ein
paar Bissen dran geblieben. Ich wollte, dass sie ihn mit mir
zusammen aß, aber sie bestand darauf, dass es mein Geburtstag war
und so aß ich ihn alleine auf. Noch immer esse ich Äpfel lieber als
alles andere Obst. Meine Familie zieht mich damit auf, wie ich
einen Apfel mit so offensichtlichem Genuss esse und ihn immer ganz
aufesse, so dass nichts weggeworfen wird. Was meine Familie
vielleicht nicht verstehen kann ist, dass ich mich darauf freue,
das Gehäuse zu essen, dass ich das Gehäuse am liebsten esse. Es zu
essen hebt meine Lebensgeister und erneuert meinen Glauben an
Wunder.« (S. 89)
Die Befreiung am 8. Mai 1945 erlebt Anna Ornstein, gemeinsam mit
ihrer Mutter, als eine unglaubliche Erfahrung. Die 18-jährige sieht
den deutschen Lagerkommandanten auf einem Pferd fliehen: Ein
sicheres Zeichen für das Ende des Krieges. Sie schlagen sich nach
Budapest durch – und erfahren von der Ermordung ihres Vaters und
ihrer beiden Brüder.
Die beiden bleiben in Budapest, ihre Mutter kümmert sich dort in
einem Waisenhaus um 40 jüdische Kinder, deren Eltern nicht mehr aus
den Lagern zurückgekehrt waren, kocht für sie, versorgt sie. Eine
berührende, heilende Erfahrung. Es gelingt ihr, die meisten dieser
Kinder nach Palästina zu schmuggeln – ein, zwei Jahre vor der
Staatsgründung Israels. Als Anna Ornstein im März 1946 Paul – den
sie bereits seit ihrer Jugend kennt – heiratet ist dies für ihre
Mutter eine zutiefst beglückende Erfahrung. Nun findet sie wieder
den Mut und die Energie, ihr Leben fortzusetzen: »In Heidelberg
bereitete sie die Mahlzeiten für alle jüdischen Studenten zu, von
denen die meisten auch den Holocaust überlebt hatten, bevor sie
nach Heidelberg zum Studium gekommen waren.« (S. 102)
Im kommunistischen Ungarn sehen die Ornsteins als Juden keine
Zukunftsperspektive. Sie verlassen, gemeinsam mit Anna Ornsteins
Mutter, Ungarn, die Möglichkeiten zur Emigration waren begrenzt –
und landen schließlich zum Studium in Heidelberg (1945 bis 1952).
Dort bilden sie eine winzige Gruppe jüdischer Studenten: »eine Art
Insel, die uns Sicherheit, Liebe und Freundschaft bot« (S. 143); zu
deutschen Mitstudenten haben sie in diesen Jahren nahezu keine
privaten Kontakte. Danach, 1952, gehen sie in die USA, ihre zweite
Heimat. Der Vater von Anna Ornsteins Ehemann hingegen emigriert
nach Israel. Anna Ornstein erzählt in sehr persönlichen Worten über
den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt mit ihrer Mutter – und
ihren eigenen Kindern: »Wenn ich ihr zuschaute, wie sie meine
Kinder badete, fütterte, ihnen vorlas, sie zu Bett brachte oder mit
ihnen spazieren ging, dachte ich bisweilen, dass die Liebe und der
Stolz, die sie für die Kinder empfand – und der Stolz und die Liebe
für die Kinder unserer Freunde – ihr vielleicht half, den tiefen
Schmerz über den Verlust ihrer eigenen beiden Söhne zu überwinden.
Heute weiß ich jedoch, dass dieser Schmerz nicht mit der Zeit
verheilt.« (S. 103)
Und: »Mutter starb 1961 im Alter von 63 Jahren. Sie ist das einzige
Mitglied meiner Familie, das ein Grab hat. Die Trauer um sie und
all die anderen aus meiner Familie, ist ein lebenslanger Prozess;
in dem Schmerz, sie verloren zu haben, sind sie für immer bei mir.«
(ebd.)
In der das Buch abschließenden Erzählung »Ein Wiedersehen«
berichtet Ornstein von einem Wiedertreffen im Juli 1995 mit der
kleinen Gruppe jüdischer Studenten, die kurz nach dem Krieg in
Heidelberg studiert hatten. Sie waren alle beruflich erfolgreich,
die meisten hatten Überlebende geheiratet, hatten Kinder und Enkel:
»Die Unterhaltungen waren fieberhaft und voller Emotionen. Wir
wollten nicht nur herausfinden, wie viele Kinder und Enkelkinder
jeder hatte, sondern stellten auch Fragen, die wir uns in
Heidelberg nicht gestellt hatten: Wie kam es, dass wir so wenig
darüber wussten, wie jeder Einzelne von uns überlebt hatte?« (S.
138) Besonders berührt war sie von der Tatsache, dass all ihre
Kinder und Enkel scheinbar seelisch nicht unter den traumatischen
Erfahrungen ihrer Eltern gelitten hatten: »Offenbar hatten die
meisten von uns ihren Kindern ein Gefühl von Kontinuität vermitteln
können, und unsere Erfahrungen hatten ihnen nicht die Fähigkeit
genommen, sich ein wertvolles, kreatives Leben zu erschaffen.« (S.
139)
Und: »Meine Kinder und die Kinder meiner Freunde haben mir erzählt,
dass es die besondere Eigenschaft ihrer Eltern als Überlebender
war, die sie am meisten beeindruckt hat; von uns hatten sie
gelernt, dass die täglichen Freuden des Lebens niemals als
selbstverständlich hingenommen werden dürfen. Ich denke, dass unser
Überlebenskampf unsere Kinder womöglich gelehrt hat, das Leben
aufrichtiger zu schätzen, und ihnen gezeigt hat, dass Anteilnahme
das ist, was im Leben wirklich zählt.« (S. 140)
Anna Ornstein hat ein, trotz seiner Schwere, wunderbares Buch
geschrieben.
http://buecher.hagalil.com/2009/10/ornstein/