Rezension zu Der stumme Schrei der Kinder
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Rezension von Wolfgang Jergas
Wie geht das: ein Vernichtungslager überleben? Ist es überhaupt
erlaubt, diese Frage zu stellen – oder muss nicht jeder, der über
die Frage nachdenkt, das Haupt verhüllen angesichts des
Ungeheuerlichen, das stattfand?
Nur eine kleine Zahl von Ärzten und Psychotherapeuten hat sich
schon bald nach dem Krieg auf den Weg gemacht, diese Innenwelt der
Holocaust-Überlebenden aufzusuchen. Gewagt, ihnen, wo nötig, Hilfe
anzubieten. Meist waren es jene aus der gleichen oder älteren
Generation, vielen eignete ebenfalls ein Verfolgten-Schicksal, sei
es durch Auswanderung, sei es durch Flucht aus Nazi-Deutschland
oder später Nazi-Europa, viele selber jüdischer Herkunft.
Ein alltäglicher Umgang zwischen Verfolgern, deren Nachkommen und
jüdischen Verfolgten sowie deren Nachkommen, stellt sich nicht so
leicht wieder ein. Trotz aller Bemühungen bleibt auch der
Unterschied zwischen den »übrigen« Verfolgten des Nazi-Regimes und
den jüdischen Mitbürgern.
Holocaust von außen
Die Generation des Rezensenten lernte das Grauen durch Filme
kennen: Alain Resnais »Nacht und Nebel«, Erwin Leisers »Mein
Kampf«, »Rosen für den Staatsanwalt«, »Die Brücke«. Später dann
Theater: Die Ermittlung. Die wissenschaftliche Aufarbeitung
einzelner innergesellschaftlicher Vernichtungszüge der
Nationalsozialisten: Krieg gegen die psychisch Kranken, geistig und
körperlich Behinderten, die russischen Kriegsgefangenen, die Rolle
der einzelnen Fakultäten (Medizin ohne Menschlichkeit), die
Wehrmachtsausstellung, schließlich Wolfgang Sofsky: »Die Ordnung
des Terrors: Das Konzentrationslager«. (Allem gemeinsam: die
Außensicht auf das fabrikmäßige und
bürokratisch-verwaltungstechnische eines Völkermordes.)
Literarisch: In der »Deutschstunde« von Siegfried Lenz muss der
Protagonist als Zeitzeuge einen Aufsatz über die »Freuden der
Pflicht« schreiben, und er nimmt sich das Verhalten eines
pflichterfüllenden Polizisten auf einem Polizeiposten in
Norddeutschland, dessen Opfer der Maler Emil Nolde (im Buch: Max
Ludwig Nansen) während dessen Malverbotes ist, zum Gegenstand. Nach
langer Darstellung der Pflichterfüllungen zum Ende des Buches hin
dann die Konfontration mit der Frage, was denn aus den Opfern der
Pflicht geworden ist oder wird – was, wenn diese zum Zuge
kommen...
Die Realität des Holocaust
Selbstverständlich ist der Vergleich nicht erlaubt, zwischen den
Maßnahmen eines totalitären Regimes gegen unbotmäßige Künstler und
der Vernichtungsmaschinerie: Zensur ist schließlich keine
Erfindungen von Faschisten. Lenz hebt aber auf das ab, was von den
Tätern ausgeblendet werden muss, auch schon im deutschen Alltag
fernab der Vernichtungsmaschinerie und wie das auf deren
Beziehungen einwirkt.
Über den Alltag der Opfer ist von Überlebenden selber schon viel
zur Sprache gebracht worden, aber nicht alle haben es durch
Schreiben vermocht, sich durch die Erfahrungen des Lagers hindurch
wieder einer Identität versichern zu können. Auch filmische
Versuche, mögliche Abwehrmechanismen zu erläutern, wie Verleugnung
und Umdeutung, Verharmlosung (z.B. »Ist das Leben nicht schön?«,
»Der Vorleser«) weichen dem grundsätzlichen Ziel aus: nicht
Ausgrenzung aus dem gemeinsam geglaubten Kosmos war das Ziel
sondern Vernichtung. Vernichtung nur aus dem Grunde, dass jemand
und seine Verwandtschaft existiert – wegen einer Eigenschaft, die
aus Macht heraus definiert worden ist und nur auf dieser Begründung
beruht.
Nachkommenschaft
Überlebt zu haben, rief bekanntlich bei vielen Überlebenden
tiefsitzende und unkorrigierbare Schuldgefühle hervor. Dennoch
fanden viele in neuen Partnerschaften, Ehen, Familien und
Nachkommen neuen Halt und führten wieder ein Leben.
Die Erfahrungen blieben aber nicht verborgen oder verschwanden,
vielmehr wurden und werden sie in vielen verschiedenen Formen und
Intensitäten an die Nachkommen weitergegeben, die dann in
überzufälliger Häufigkeit an Krankheiten, Beziehungsstörungen und
Unfähigkeiten litten, die zunächst nicht erklärbar waren.
Der stumme Schrei der Kinder
Wenn Eltern sich streiten, husten die Kinder. Dieses Bonmot aus der
Kinderpsychosomatik mag etwas frivol klingen, wenn es in unserer
Buchbesprechung auftaucht, skizziert aber in aller Kürze, worauf
sich Ilany Kogan, Psychoanalytikerin in Hamburg und Israel,
einlässt, wenn sie sich den fortdauernden Schrecken der jüdischen
Holocaust-Nachkommen zuwendet. Das Mitschwingen des Therapeuten als
diagnostische Quelle zu nutzen und als Grundierung therapeutischer
Interventionen zu gebrauchen, führt Kogan in allen Fallgeschichten
nachfühlbar vor. Beginnend mit der berichteten Überlegung, die dazu
führt, mit jemandem eine Psychoanalyse zu beginnen, über
Selbstzweifel während der Behandlung und Schwierigkeiten, trotz
Skrupeln Dinge anzusprechen und die Schwierigkeiten der Beendigung
der Analyse nimmt die Autorin den Leser mit in die Stunde und in
die Dramatik der Veränderung, die PatientIn und Analytikerin
erfassen kann (und auch tut).
Die Auseinandersetzung kreist in allen Berichten um die Erfahrung
der Eltern, den Holocaust überlebt zu haben und damit umgegangen zu
sein – und welche Wirkung das auf die Patienten, also die Kinder
der Überlebenden, gehabt hat. Die enorme Schwierigkeit dabei ist,
dass die Erfahrung der Eltern zusätzlich zur Realität der Gegenwart
eine eigene Realität in der Familie geschaffen hat, in der das
Lager oder die Flucht oder das Versteckt-sein vorkommen, aber in
verwandelter Form, oft nicht direkt erkennbar sondern nur in dem,
was gelebt wurde, in den Rollen, die den Kindern zugewiesen wurden,
in der Funktion, in der sie gebraucht worden sind. Dabei kann es
den Kindern in der Psychoanalyse möglich werden, (über die
Reaktionen, die sie im Analytiker hervorrufen, über ausgesparte
Bereiche, die erst jetzt bewusst werden, über unangepasste oder
fehlende Gefühle, über bizarre Beziehungsmuster in
zwischenmenschlichen Beziehungen, bei der Partnerwahl oder bei
Verweigerung derselben) zu erkennen, wo die eigene Individuation
stockte, wo den Patienten eine Aufgabe in der Familie zugewiesen
wurde, für die sie buchstäblich zu klein und schwach waren, und –
damit überfordert – ihr eigenes Leben aufgaben zum Beispiel aus
Furcht, das Leben der Eltern zu zerstören.
In den Fallbeispielen, die 190 von den etwa 250 Seiten des Buches
ausmachen, werden diese Vorgänge und die Leben der Analysanden, die
sie schließlich in die Analyse führten, ausführlich und
nachvollziehbar geschildert. Der Rezensent möchte an dieser Stelle
keine Beispiel oder Zitate anführen, weil jede Fallschilderung neue
und andere Aufmerksamkeit erfordert und auch nachvollzogen und
nachbedacht gehört.
Gleichzeitig ist es auch ein historisch frühes Beispiel, weshalb
die Neuauflage sicher auch sinnvoll gewesen ist, wie Empathie,
Gegenübertragung und Zeitgeschichte zusammenkommen, um die
Beschädigungen, die die Nationalsozialisten in den nachfolgenden
Generationen angerichtet haben, wenigstens bei einzelnen in Grenzen
zu halten und zu zeigen, dass jene doch nicht gesiegt haben.
Fazit
Angesichts der vielen 60ger und 70ger-Jubiläumsgedenktage, die
Nazi-Deutschland, den 2. Weltkrieg und die Zeit danach zum Anlass
nehmen, ist es genauso wichtig, sich erneut den Beschädigungen, die
das alltägliche Leben der Überlebenden bestimmt haben, zuzuwenden,
um einfühlend oder nachvollziehend zu erspüren, was anhand des
millionenfache Geschehen verborgen bleibt oder in der schieren
Masse untergeht: den Einengungen, die die zweite Generation erfuhr,
den Schwierigkeiten, sich von der Last der Eltern zu befreien, ohne
die Elterngeneration allzusehr zu kränken, von dem Gefühl
loszukommen, diese im Stich zu lassen. Und schließlich: Könnte dies
Nachdenken über prägende Eltern auch ein Weg sein, um die
Pälastinenser-Frage von einer ganz neuen Seite zu betrachten, um zu
einer Lösung zu kommen?
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