Rezension zu »Wie benimmt sich der Prof. Freud eigentlich?« (PDF-E-Book)
Freud und seine Patienten
Rezension von Dr. Harry Stroeken
Dieses Buch enthält das Tagebuch von Anna Guggenbühl über ihre
Behandlung bei Freud 1921; [in diesem Jahr ging übrigens auch
Jeanne (später Lampl-) de Groot zu Freud in Analyse]. Sie war
Schweizerin, damals 27 Jahre alt, Psychiaterin und sie hatte ein
großes Problem, denn sie war bereits sieben Jahre verlobt, der
Heiratstermin war schon geplant, aber sie zweifelte immer noch über
ihre Beziehung zu diesem Mann. Für eine Lösung dieses Problems
suchte sie Hilfe bei Freud. Die Behandlung dauerte dreieinhalb
Monate (vom 1. April bis zum 15. Juli), nahm 80 Sitzungen in
Anspruch und hatte ihre Entlobung zur Folge; sie zog nach Paris,
suchte sich dort Arbeit und verlobte sich mit einem Schweizer
Bildhauer, den sie bereits kannte. Ihn heiratete sie und mit ihm
blieb sie 60 Jahre zusammen; sie bekamen vier Kinder. Das Tagebuch
– zwei Heftchen von insgesamt 31 (gedruckten) Seiten – fand man
nach ihrem Tod und es wurde nun von ihrer Enkeltochter
herausgegeben, einer Psychoanalytikerin. Dem Text des eigentlichen
Tagebuchs sind in diesem Buch 16 Artikel mit Kommentar und
Betrachtungen hinzugefügt. In diesen Artikeln wird Freuds Praxis
von allen Seiten unter die Lupe genommen, gründlicher als nur in
Hinsicht auf diesen einen Fall.
1921 war Freuds Welt noch einigermaßen ›heil‹. Wohl hatte es die
Katastrophe des 1. Weltkriegs gegeben [Österreich gehörte zu den
Verlierern, die Habsburger mussten abtreten, das Land war
auseinander gefallen, Hungersnöte und soziale Unruhen gab es
andauernd] und seine geliebte Tochter Sophie war danach an der
spanischen Grippe gestorben, aber er hatte sich einigermaßen
gefangen und alles hätte noch schlimmer kommen können. Seine Person
und seine ›Sache‹ begannen zunehmend Anerkennung zu finden, das
Geheime Komitee war noch nicht zankend auseinandergedriftet, seine
Finanzlage nahm sich infolge des großen Zustroms von Ausländern,
die in harten Valuta zahlten, günstig aus; gesundheitlich ging es
ihm im 65. Lebensjahr noch gut und seine Familie blühte und gedieh.
Insbesondere gab es noch keinerlei Anzeichen seines späteren
Leidens: Mundkrebs.
Die Behandlungsdauer wurde zuvor verabredet und die Frequenz war
sechsmal pro Woche. Darüber ließ Freud nicht mit sich reden: take
it or leave it; Arbeit hatte er genügend. Keine unbegrenzte
Perspektive also, wie wir sie für wünschenswert halten; die
Sitzungen variierten bei Freud von einigen wenigen bis zu mehr als
1000 und die Frequenz schwankte zwischen 3 und 19,5 Stunden pro
Woche. All dies ist bis ins kleinste Detail bekannt, da Freuds
Patientenkalender von 1910-1920 erhalten blieb, der über alles
Aufschluss erteilt.
Wie gesagt, wie ging Freud eigentlich bei seiner Arbeit vor? Wie
ging er das Problem an? Freud hat von Anfang an eine deutliche
Auffassung über die Schichtung von Anna G.s Problem und das
erklärte er seiner Patientin auch gleich in der ersten Woche:
»Der oberste Stock, das ist der jetzige Konflikt mit Richard
etc.
Der mittlere, das betrifft das Verhältnis zum Bruder,
Der mit den Eltern zusammenhängt, ist Ihnen noch ganz unbewuszt,
und er ist der wichtigste.« In seinem vierten Vermerk wird Freud
folgendermaßen zitiert: »Sie liebten Ihren Vater und haben ihm den
Treubruch mit der Mutter nie verziehen. Sie wollten die Mutter des
Kindes sein Sie wünschten daher Ihrer Mutter, die Ihnen den
Geliebten nahm den Tod. Nach und nach werden Sie Beweise dazu
bringen und es wird sich das Rätsel lösen warum Sie nicht von Ihrem
Bruder loskommen.« (p. 42-43). In dem fünften Vermerk werden diese
Sätze fast buchstäblich wiederholt. In der dritten Woche der
Analyse wird Freud folgendermaßen zitiert: »Sie flüchten sich zum
Vater. Ihr Unbewusztes gibt also die erste Bestätigung meiner
Behauptung, dasz Ihr Vater Ihr erste Geliebter war. Haben Sie die
Studie einer Hysterie: Dora gelesen?« (p.47) Die Deutung ist also
ausgesprochen ödipal und um den Vater zentriert. Ganz anders als
heutzutage, wo das Ödipale (zu) oft als Nebenerscheinung früherer
Störungen interpretiert wird. Später formuliert Freud Annas Dilemma
folgendermaßen: »Entweder eine Frau [sein] und ein Kind haben oder
ein Mann mit dem Penis« (p.66). Bekannterweise war Dora aus unserer
Sicht eine missglückte Analyse, in der Freud ›blind‹ seinen eigenen
Gedanken folgte ohne darauf zu achten, was Dora dazu zu sagen
hatte. In diesem Fall funktionierte Freuds Konstruktion besser.
Unterdessen findet man alles Mögliche in diesen Anmerkungen. Wie
zentral die Sexualität stand: die eingeführte Patientin notiert in
ihrer ersten Aufzeichnung bereits etwas über ihre Onanie als Kind.
Wie Freud mit Träumen umgeht, seien Patienten darin den Weg weist
und oft symbolische Deutungen benutzt wie: Ungeziefer bedeutet
kleine Kinder. Wie Freund keine Zweifel zu kennen scheint und
literarische Vergleiche benutzt. Wie er die Übertragung – Patientin
verknallt sich in ihren Analytiker – direkt auf den Vater bezieht;
negative Aspekte und Ambivalenz werden weniger thematisiert. Wie er
Dinge, die ihn momentan theoretisch interessieren, zur Diskussion
bringt. Wie er Patientinnen freundlich ermahnt, sich nicht auf
Abenteuer mit Männern einzulassen:»Wenn es möglich ist, lassen Sie
die Abenteuer sein. Dulden Sie und entbehren Sie, sodasz alles
desto deutlicher in der Stunde zum Vorschein kommt.-« (p.45)
Übrigens war Freud durchaus nicht ‚abstinent‘ während seiner
Arbeit. Er konnte »spontan, moralisch, gekränkt, wütend, liebevoll,
belehrend oder aufbrausend« reageren. (p.179)
Nach der Behandlung schreibt Freud Pfister, der sie überwiesen
hatte: »Die kleine G[uggenbühl] wurde voll durchsichtig und ist
eigentlich fertig: was aber jetzt das Leben mit ihr machen wird ,
kann ich nicht wissen.« (p.37) intellektuell war die Sache für ihn
glasklar. Sie hatte ihm keine neuen Erkenntnisse vermittelt.
Aber therapeutisch gesehen ist damit das Wichtigste noch nicht
erzählt, denn was berichtet Anna später ihrer Tochter? »dass es vor
allem Freuds Präsenz, seine Anwesenheit im gleichen Raume gewesen
sei, die gewirkt habe – die Worte seien sekundär gewesen.«(S.36).
Die Analyse war also vor allem eine emotionale, relationale
Erfahrung. Freuds Theorie und seine Worte werden einen Rahmen
geboten haben um die Erfahrungen einzugliedern, aber es war seien
persönliche Ausstrahlung, die die Veränderung zustande brachte.
Für die Enkelin, Psychoanalytikerin und Herausgeberin des Tagebuchs
bleibt eine Frage: Warum wurde Großmutter keine
Psychoanalytikerin?
Ein hochinteressantes Buch.