Rezension zu Umgang mit Angst
Punktum. Verbandszeitschrift des Schweizer Berufsverbandes für Angewandte Psychologie
Rezension von Silja Käslin
Weg von der Okay‑Moral
Horst‑Eberhard Richter, wichtigster Psychosomatiker in Deutschland,
Psychoanalytiker, Publizist und mit dem Friedensnobelpreis
gekrönter Friedensaktivist, stellt in seinem Buch die Entwicklung
eines Gesellschaftsbildes dar, in welchem die Angst in Form eines
Todeskampfes immer mehr vom individuellen und gesellschaftlichen
Bewusstsein verdrängt wird. Beginnend im Mittelalter, zeigt er
anhand historischer Zeugnisse und unterlegt mit Zitaten namhafter
Philosophen und Psychoanalytiker auf, wie die Angst und der Tod
zunehmend tabuisiert wurden und sich stattdessen eine «Okay‑Moral»
entwickelte, in der Leiden als schwächlich deklariert wird. Er
zeigt auf, wie die Angst, je mehr sie verdrängt und verleugnet
wird, sich umso mehr schädigende Wege durch unbewusste Mechanismen
bahnt und zunehmend in einer Rationalisierung unserer Gesellschaft
mündet.
Dabei geht es ihm nicht darum, die Angst in einem
psychopathologischen Verständnis zu klassifizieren, wie sie anhand
des lCD‑b und DSM‑IX in all ihren Symptomen beschrieben wird,
sondern vielmehr um ein vertieftes psychoanalytisch geprägtes
Ergründen der Angst und darum, diese in ihrer Komplexität
systemtheoretisch auf verschiedenen Ebenen zu verstehen.
Auf der Ebene des Individuums macht Richter auf die dysfunktionalen
Auswirkungen verdrängter Ängste aufmerksam, wie sie zum Beispiel
durch Trennungs‑, Umklammerungsoder Schamangst ausgedrückt werden
kann und zwischenmenschliches Funktionieren negativ beeinflusst.
Die Auswirkungen einer verdrängten Auseinandersetzung mit inneren
Konflikten weitet er auf das System Familie, auf Gruppen bis hin zu
gesellschaftspolitischen Systemen aus, wie er sie am Beispiel des
Ost‑West‑Konfliktes in Deutschland oder des Nahostkonfliktes
schildert und um die Darstellung von Verfolgungs‑, Fremden‑,
Kriegs- und Zukunftsangst erweitert.
Horst‑Eberhard Richter geht es in «Umgang mit Angst» um einen
Aufruf zu einem offeneren Umgang mit der Angst, diese anzunehmen
und anzusprechen, statt als narzisstische Selbstbedrohung
wahrzunehmen und sich durch Projektionen oder durch eine
Externalisierung des Gewissens von innerer Spannung zu befreien.
Als Friedensaktivist geht es ihm ferner darum, eine individuelle
und politische Mitverantwortung sichtbar zu machen und seine
Umgebung dazu anzuregen, über allgemeine Grundfragen ein
ganzheitliches Denken und verantwortliches Handeln zu
entwickeln.
Das Buch zeugt von hoher fachlicher Kompetenz. Richters
jahrzehntelange Erfahrung mit Angstpatienten und seine engagierte
Mitwirkung an politischen Diskussionen und Vorträgen kommt darin
zum Ausdruck. Der Text wird nicht nur durch die klinische
Darstellung der Angst anhand von Fallbeispielen interessant,
sondern auch durch seine sozialpsychologische und
gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der Wirkung der Angst
auf individuelles und gesellschaftliches Funktionieren. Durch seine
verständliche Sprache ist das Buch nicht nur für Fachpersonen
lesenswert, sondern auch für Laien zugänglich.