Rezension zu Das weibliche Genie - Melanie Klein
querelles-net
Rezension von Prof. Dr. Lilli Gast
Julia Kristeva auf den Spuren der Psychoanalytikerin Melanie
Klein
»From Klein to Kristeva« war der Titel eines Buches, das 1993 in
den USA erschien und erstmals Melanie Klein und Julia Kristeva
nicht nur in einem Atemzug nannte, sondern beide in ein im weiteren
Sinn genealogisches Verhältnis zueinander setzte. Nur sechs Jahre
später, 1999, war es Julia Kristeva selbst, die die Blickrichtung
umkehrte und sich der Psychoanalytikerin Melanie Klein in einer
fulminanten Studie selbst zuwendete. Die Schneisen, die sie auf dem
Weg zu deren Denken schlägt, die Blickachsen, die sie freilegt, die
Fragen, denen sie in der Erkundung des Kleinschen Denkuniversums
folgt, sind fest verankert in Kristevas ureigenen und
hochspezifischen Denkbewegungen: von Kristeva zu Klein.
Weibliche Genies
Kristevas Klein-Buch, das nach langen Jahren des Wartens nun
endlich in einer soliden, wenn auch mitunter ein wenig »holperigen«
deutschen Übersetzung vorliegt, ist der zweite Teil ihrer Trilogie
über »Le Genie Feminin«. Es steht zwischen einer Studie über Hannah
Arendt und einer dritten über Colette, mit der sie, einen Blick
zurück auf das ausklingende 20. Jahrhundert werfend, die Fähigkeit
der Frauen zur Grenz- und Selbstüberschreitung – eben dies ist
Kristevas Definition des Genies – als zwar grundsätzliche
Potentialität, aber auch als individuelle Leistung beschreibt,
deren Singularität sie anerkannt und gewürdigt wissen will. Jede
der drei Frauen, die Kristeva in ihrer Trilogie weiblicher Genies
vorstellt und dabei, gleichsam als Subtext, der Frage nachgeht,
worin deren Einzigartigkeit gründet und welcher
Möglichkeitsbedingungen sie bedarf, hat neue Denkhorizonte
erschlossen, Perspektivwechsel eingeleitet und dergestalt einen
wesentlichen Beitrag zu unserem gegenwärtigen kollektiven wie
individuellen Selbstverständnis geleistet. Kristeva erkennt in den
Lebensleistungen ihrer Protagonistinnen »drei Erfahrungen, […] drei
Werke einer enthüllenden Wahrheit«, die sich »inmitten des
Jahrhunderts und zugleich an dessen Rändern [realisierten]«
(Kristeva 2008, S. 19). Diese Frauen, so fährt sie in der
Skizzierung ihres Projektes, das sie dem ersten Band über Hannah
Arendt voranstellt, fort, »machten sich zu hellsichtigen und
leidenschaftlichen Erkunderinnen, indem sie ihre Existenz ebenso
wie ihr Denken einbrachten und die Hauptfragen unserer Zeit
aufgrund ihres besonderen Blickwinkels für uns erhellten« (ebd., S.
20).
Julia Kristeva, selbst praktizierende Psychoanalytikerin, aber auch
Kulturtheoretikerin, Linguistin, Semiotikerin und
Literaturwissenschaftlerin, nähert sich dem Leben und Werk Melanie
Kleins gleichsam von der Innenseite ihres, Kristevas, eigenen
Denkens her. Trotz der prima vista erheblichen Unterschiede der
drei von Kristeva untersuchten weiblichen Genies, ist ihnen allen,
neben der genannten Transgressionen und der daraus hervorgehenden
Provokation des Bestehenden, die Identifizierung von Denken und
Leben gemeinsam, ihr Denken als sinnlicher, leidenschaftlicher
Vorgang. Doch das, was alle drei Frauen verbindet, wird nur von
einer, der Psychoanalytikerin Klein, direkt thematisiert. Die
Dialektik von Denken und Leben, die Triebgegründetheit des Denkens,
die Konstitutionsbedingungen der Denkentwicklung, aber auch ihrer
Störungen (etwa Denkhemmungen), die Ausgeliefertheit ans
Wissenwollen (Kleins Wisstrieb) und deren unterschiedliche
Schicksale in den Geschlechtern sind Gegenstand ihres
Erkenntnisinteresses und werden zum Grundpfeiler ihrer
theoretischen und klinischen Arbeit. Kristeva, an Lacan geschult,
begegnet Klein, indem sie ihre eigenen Theorien anhand der
Kleinschen Konzeptionen überdenkt, sie an Klein heranträgt. Von
besonderem Interesse sind ihr hier natürlich Kleins Symbolbegriff
bzw. ihre Arbeiten zur Symbolentwicklung und deren Implikationen
für die Konzeptualisierung der Kreativität.
Von Freud zu Klein und von Klein zu Kristeva
Sehr subtil verflicht Kristeva die ungewöhnliche, für
Psychoanalytikerinnen zu Freuds Zeiten jedoch nicht untypische
Biographie Kleins mit ihrer Gedankenwelt. So blieb sie zwar eng an
Freuds Grundlegungen orientiert, oftmals sogar, wie etwa im Fall
des Todestriebs, enger als andere Weggefährten und Schüler.
Zugleich aber ging sie »mit ihm über ihn« hinaus und eröffnete auf
diese Weise neue Perspektiven. Eine dieser neuen Perspektiven ist
der Blick auf die Bedeutung des Mütterlichen, die sie Freuds
Betonung des Vaters zur Seite stellte, sowie die zeitliche
Vorverlegung des ödipalen Konflikts in die früheste phantasmatische
Objektwelt des Infans. Gerade Letzteres, die eminente Rolle des
Phantasmatischen, für Klein radikaler noch als für Freud das
Konstituens des Psychischen und des Subjekts, trifft auf Kristevas
semiotisches Interesse und ihre Beschäftigung mit
Symbolisierungsprozessen. Denken, so Klein, setzt ein, wenn das
primäre Objekt in Verlust gerät bzw. zerstört wird, wenn das Ich
sich im Rahmen der depressiven Position als Urheber seiner
Phantasien und Handlungen erkennt, sein Schuldig-Gewordensein
anerkennt und das verlorene Objekt betrauert. Dies ist die
Schnittstelle zwischen Klein und Kristeva, an der Kristevas
Konzeption des Abjekts steht, jene Konzeptfigur des abwesenden,
verlorenen, zerstörten Objekts, das, und hier ist Kristeva ganz nah
bei Klein, auch in derem Denken für die Entwicklung und
Ausgestaltung von Wissen, Kreativität und Identität von elementarer
Bedeutung ist.
Mit großer Souveränität führt Kristeva die Leserin/den Leser durch
Kleins Werk, präsentiert, hält inne, erklärt und ordnet manches
neu, vermeidet Vereinfachungen, lässt Widersprüchliches bestehen.
Die bereits erwähnte Verknüpfung von Biographie und Theorie ist in
vielen Werkbiographien ein Quell der Peinlichkeit, wird doch
oftmals allzu kurzschlüssig biographisches Material kausal zur
Erklärung dessen herangezogen, was sich doch so vieler anderer
Zuflüsse verdankt, so dass theoretische Erkenntnis fast als ein
Agieren lebensgeschichtlicher Mikrotraumen missverstanden, ja
denunziert wird. Kristeva kommt ohne derlei Verkürzungen aus, kann
aber doch plausibel ableiten, wie Kleins Geschichte zum Objektiv im
Sinne Blumenbergs für ihr Erkenntnisinteresse wurde, den Fokus
ihrer Perspektive justierte und das Insistieren jener Fragen
befeuerte, die sie ein Leben lang beschäftigen sollten.
Von der klinischen Erfahrung zur psychoanalytischen Theorie: die
Funktion des Spiels und die Dimension des Mütterlichen
Kristeva unterläuft die Chronologie und folgt den Fragen selbst.
Auch wenn das Freudsche Diktum vom Junktim zwischen Forschen und
Heilen vielleicht eher zu den Mantren des psychoanalytischen
Selbstverständnisses gehört als zu deren wissenschaftlicher
Realität, ist Kleins Theorie ohne die klinischen Aspekte und vor
allem ohne die Veränderungen, die sie am psychoanalytischen Setting
vorgenommen hat, kaum darstellbar. Die wohl markanteste Veränderung
dürfte Kleins direkte Anwendung der Psychoanalyse auf Kinder sein –
eine Veränderung, die in ihren Augen tatsächlich lediglich das
Setting, nicht aber die Grundidee selbst betraf. An die Stelle der
Träume bei Freuds erwachsenen Patienten trat nun das Spiel als via
regia zum Unbewussten, insofern es Einblick in die innere
phantasmatische Objektwelt der kindlichen Patienten gewährte.
Kristeva erweist allen wichtigen Beiträgen Kleins zur
psychoanalytischen Metapsychologie ihre Reverenz, indem sie sie in
ihrer ganzen Vielschichtigkeit und theoretischen Komplexität
darlegt und Kleins Denkbewegungen nachzeichnet: Kleins Beitrag zur
negativen Übertragung, das so wertvolle Konzept der projektiven
Identifizierung, die Rolle der Angst(-abwehr) und die archaische
Verfasstheit des frühen Über-Ichs, Kleins Rezeption des Todestriebs
und ihre Konzeptualisierung von Destruktivität, Vernichtungsangst,
Neid und Gier sowie, für Kristevas eigene Arbeiten essentiell, die
Rolle des Mütterlichen und die Bedeutung der Mütterlichkeit für
Frauen. Weder Klein noch Kristeva lassen einen Zweifel daran, dass
die mütterliche Dimension und ihre spezifischen Funktionen nicht
nur für die Persönlichkeitsentwicklung von zentraler Bedeutung
sind, sondern die conditio sine qua non dafür, an die Stelle der
Angst die Fähigkeit zu denken und Symbolisierungen zu setzen.
Denken als Abwehr von Angst
Diese von Klein in der psychischen Verfasstheit des Subjekts
untersuchten Fähigkeit, Angst durch Denken zu begegnen, Konflikte
und Destruktivität durch Symbolisierung zu bekämpfen, zeichnet
Melanie Klein selbst in ihrem lebenslangen Ringen mit dem
Unbewussten und ihren oft heftigen Auseinandersetzungen mit der
psychoanalytischen scientific community aus. So bemerkt Kristeva
angesichts der von seelischen Tiefen geprägten Lebensgeschichte
Kleins, sie habe »unter ihrer offenbaren Selbstgewißheit eine
außergewöhnliche Durchlässigkeit für die Angst« verborgen, und zwar
für die Angst »der anderen wie auch für die eigene.« Dies erst habe
es ihr ermöglicht, sich dem Zerstörerischen, dem
Psychotisch-Wahnhaften mit offenem Visier zu stellen und sie der
Analyse zugänglich zu machen. Alle ihre Arbeiten reagieren auf die
zugrunde liegende Frage, wie die Ängste, die uns zerstören,
symbolisierbar werden können (vgl. Kristeva 2008, S. 17). Das
Ergebnis sei, so Kristeva, eine Reformulierung der analytischen
Problematik, »was ihr Werk ins Zentrum der Humantität und der
modernen Krise der Kultur« (ebd.) stelle. Und diese
Unerschrockenheit, der Mut, sich auf die Abgründe jener
psychotischen Zerrüttetheit an der Basis unserer conditio humana
einzulassen, verbinde sie zugleich mit dem anderen Genie Hannah
Arendt, die sich auf den Spuren des »Bösen« ebenfalls mit der
Zerstörung des Denkens befasste, und mit der sie, als
intellektuelle Frau ihrer Zeit, eine ähnliche Geschichte teilt:
»Dissidenten ihrer Herkunfts- wie ihres professionellen Milieus,
Beute der Feindseligkeit von normativen Cliquen, aber auch fähig,
schonungslos zu kämpfen, um ihre eigenen Ideen zu entwickeln und zu
verteidigen, sind Arendt und Klein Widerspenstige, deren Genie es
war, sich im Denken zu riskieren« (ebd., S. 18).
»Julia Kristeva auf den Spuren der Psychoanalytikerin Melanie
Klein« von Lilli Gast steht unter einer Creative Commons
Namensnennung 3.0
Deutschland Lizenz und ist in der Zeitschrift querelles-net
unter
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-qn102169 erschienen.