Rezension zu Joseph Beuys: Künstler, Krieger und Schamane

Punktum. Verbandszeitschrift des Schweizer Berufsverbandes für Angewandte Psychologie

Rezension von Heidi Aeschliemann

Im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main wurde ich vor einigen Jahren zum ersten Mal nachhaltig mit einem Werk von Joseph Beuys konfrontiert. «Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch, 1958‑1985» heisst das Werk. Ich fühlte mich ohnmächtig und dumm. Ich verstand nichts. Dann stieg Wut in mir hoch, und ich fand Beuys einfach nur überheblich und arrogant. Ich überwand die Lähmung und fand bei Sandro Bocola («Die Kunst der Moderne», 1997) interessante psychoanalytische Hypothesen. Dies liest sich wie eine Heilung nach Traumatisierung: Heilung durch Verstehen, Zuordnen und letztlich den Umgang mit dem Phänomen. Zufall ‑ oder hat das etwas mit dem Menschen Beuys zu tun?

Rolf Famulla hat ein packendes und sorgfältig recherchiertes Buch über das Leben und Werk von Joseph Beuys geschrieben. Aber offenbar auch eines mit bedrohlichem Inhalt! Der Nachlass verbot den Abdruck aller Werke von Beuys im Buch. Rolf Famulla lässt sich nicht lähmen, sondern spart den Platz der Bilder aus und beschreibt und kommentiert die «Bilder» und gibt Hinweise, in welchen Werken die Abbildungen zu finden sind. Schade, dass damit ‑ auch 2009 noch ‑ eine kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung behindert, aber glücklicherweise nicht verhindert wird. Auch hier: Zufall oder eben nicht?

Welches die künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen auf unsere Zeit seien, fragt FamulIa engagiert. Denn: «Kunst ist nicht zuletzt auch notwendig, um die Ungeheuerlichkeiten eines Stalin, Hitler, Mao, Milosevic usw. zu verstehen. Ohne Kunst ist eine demokratische Gestaltung und Selbstreflexion der Gesellschaft nicht denkbar.»

Rolf Famulla begegnet dem Menschen und Werk Beuys respektvoll. Beuys (1921‑1986) ist zwölf, als Hitler die Macht ergreift. Mit 20 Jahren zieht er in den Krieg. Er überlebt im Kampf einen Sturzkampfbomber‑Absturz in Sibirien. Dieses Ereignis ‑ ein Ohnmachtserlebnis ‑ gilt bei den Biographen Beuys als «Schlüsselereignis». Im Buch von Famulla finden sich die Deutungen Bocolas, der die von Beuys erzählten Details als Deckerinnerung versteht. Die Bildsprache von Beuys veränderte sich während der Kriegsjahre radikal. Doch Zeit seines Lebens blieb er völkischem Gedankengut verbunden: nordische Götter, Zwerge und Elfen.

1955/56 erkrankte Beuys an einer schweren Depression. Kurz zuvor hatte ihn seine Freundin verlassen. Beuys als Inkarnation, als Menschwerdung des Göttlichen; Beuys, der Künstler, als Schamane und damit «Auserwählter»: Diese Rollen lassen unweigerlich an Allmacht und Grössenphantasien denken. Und damit stellt sich die Frage des Realitätsbezuges von Beuys. 1982 erinnert er sich: «Unsere Schulbücher, soweit ich sehen kann, waren in vieler Hinsicht besser als unsere heutigen Schulbücher. Wenn ich die Schulbücher meiner Kinder sehe, könnt ich wirklich sagen, dass unsere Schulbücher besser waren. Wie man überhaupt sagen kann: Der Zugriff des Staats, wie er heute ist, war ja längst nicht so stark damals. Die Autonomie der Schule war relativ gross.» Und: «Die Menschen hatten im Inneren doch mehr Hoffnung auf die Zukunft.»

Dieses Buch empfehle ich allen, die sich einerseits mit Beuys und seiner Zeit und andererseits mit dem Bild einer narzisstischen Persönlichkeit auseinandersetzen möchten.

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