Rezension zu Einsicht in Gewalt
TOA-Infodienst Nr. 38, August 2009
Rezension von Frank Winter
»Die Integration der Aggression ist die zentrale Aufgabe des 21.
Jahrhunderts.« Svenja Taubner beginnt mit diesem Zitat des
ehrwürdigen Psychoanalytikers Ernst Federn ihre beachtenswerte
Monografie, die in der Buchreihe Forschung des Psychosozial‑Verlags
erschienen und zugleich Taubners Dissertation an der Universität
Bremen ist. »Von diesem Ziel der ›Zähmung‹ der Aggression im
sozialisatorischen und gesellschaftlichen Prozess sind wir noch
weit entfernt«, konstatiert sie und entwickelt vor dem Hintergrund
ihrer psychoanalytischen Ausbildung ihre Theorie, dass
»gewalttätiges Handeln zumeist auf ein Scheitern individueller
Entwicklungsprozesse verweist« und Strafe, wenn sie eine
,»psychische wie gesellschaftliche Desintegration nach sich zieht
... das Risiko (birgt), weitere Gewalttaten nach sich zu ziehen,
statt sie zu verhindern«. Jede psychische und gesellschaftliche
Desintegration als Folge einer strafenden Reaktion auf
jugendtypische Gewalttaten erziele keine korrigierende Wirkung,
sondern schade dem Täter zusätzlich und bedeute negative Effekte
für sein zukünftiges Verhalten.
Taubners zentrale Fragestellung an der Schnittstelle von
Kriminalwissenschaften und Psychoanalyse nimmt »in den Blick, ob
Einsicht Gewalt verhindern kann und ob der Täter‑Opfer‑Ausgleich
die Einsicht eines Beschuldigten ... fördert«. Für ihre
Betrachtungen nutzt sie psychoanalytische Objektbeziehungstheorien,
insbesondere das Konzept der Mentalisierung (Fonagy und seine
Arbeitsgruppe), das über das Konstrukt Reflexive Kompetenz einen
empirischen Zugang zum Thema Einsicht bietet. Sie stellt dabei
Einzelfallanalysen von gewalttätigen Jugendlichen mit einer oftmals
traumatischen Geschichte ins Zentrum ihrer Untersuchung.
Taubners Arbeit besteht aus einem auch für Juristen und Pädagogen
sehr leicht verstehbaren und nachvollziehbaren Theorieteil und
einem umfangreichen empirischen Teil, in dem sie mit Methoden der
psychoanalytischen Psychotherapie‑ und Bindungsforschung die
Auseinandersetzung junger Männer mit ihren Gewalttaten im Rahmen
von Täter‑Opfer‑Ausgleichs‑Verfahren im Täter‑OpferAusgleich Bremen
untersucht. Beispielhafte Zitate von jugendlichen und
heranwachsenden Beschuldigten führen in das Buch ein und machen den
Zugang zu adoleszenztypischen Gewalttaten anschaulich.
Einsichtsfähigkeit wird als eines der Hauptziele der Tätigkeit im
psychoanalytisch orientierten Täter‑Opfer‑Ausgleich in Bremen
vorgestellt, aber auch philosophische und juristische Aspekte von
Einsicht werden von Taubner insbesondere vor dem Hintergrund des
Jugendgerichtsgesetzes und der Genese von Jugendkriminalitätund
jugendtypischer Delinquenz bis hin zur antisozialen Tendenz
dargestellt.
Der empirische Teil des Buches ist umfangreich in sechs Kapitel
gegliedert. Zu Beginn werden Konzept und Planung der
VorherNachher‑Pilotstudie, Durchführung und Forschungsinstrumente
beschrieben und die Merkmale der Untersuchungsgruppe dargestellt.
Es folgt, wie es von zahlreichen anderen Studien bekannt ist, die
statistische Analyse, die Auswertung und die Diskussion der
Ergebnisse. Schlussteil des Buches bildet ein umfangreicher Anhang
mit Material zu der durchgeführten Studie.
Das Buch ist ansprechend und fundiert geschrieben und geht auf
juristische wie psychoanalytische Theorien in einer Form ein, die
seine Lektüre spannend machen. Auszüge aus den
BeschuldigtenInterviews (z.B. S. 219‑232) und die Falldarstellungen
(S. 238ff, 259‑272) lockern auch die Theorieteile immer wieder auf
und geben lebendige Einblicke in die Lebenswelt der Adoleszenten
und das Tätigkeitsfeld der Konfliktvermittler im TOA Bremen. Wie es
bei einer Pilotstudie sein sollte, wirft Taubners Arbeit aber mehr
Fragen auf, als sie Antworten gibt.
Taubner zeigt differenziert die vielfältigen Facetten des Prozesses
eines TOA-Versuchs auf und lässt für eher schlichte TOA‑Verfahren,
die aus lediglich einem Tätereinzel‑, einem Opfereinzel‑ und einem
gemeinsamen Schlichtungsgespräch bestehen, nur gering positive oder
sogar negative Effekte bzgl. gestiegener reflexiver Kompetenz der
Beschuldigten nach einem TOA‑Versuch erwarten (S. 278ff). Das wäre
für viele TOA‑Vermittler enttäuschend und daher zunächst
statistisch Valide zu belegen. Aber vor allem: es müsste, wenn die
Befunde sich erhärten sollten, Auswirkungen für eine stärkere
klinische Orientierung von Setting und Standards aller
TOA‑Verfahren haben. Reflexive Kompetenz wird im Rahmen von TOA nur
in Mehr‑Gesprächen‑Settings gefördert, wie sie im TOA in Bremen
seit 1990 praktiziert werden. Taubner weist sehr gute Effekte in
solchen Konfliktbearbeitungsversuchen nach, die in mindestens zehn
Einzelgesprächen mit Beschuldigten geführt wurden. Hingegen besteht
‑ da sind Taubners Befunde eindeutig ‑ kein statistischer
Zusammenhang zwischen erfolgreich durchgeführtem TOA und der
Rückfallwahrscheinlichkeit (S. 208ff).