Rezension zu Goethe, Schiller und das Unbewusste
IASL
Rezension von Campana Alexandra
Die »Nachtseiten« narzisstischer Persönlichkeitspathologien.
Gerhard Oberlin liest Goethe und Schiller tiefenpsychologisch
Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller sind Klassiker nicht
nur im epochenspezifischen Sinn. Als integraler Bestandteil eines
wie auch immer gearteten literarischen Kanons wurden sie zum
Bildungsgut über die Generationen hinweg. In seiner
literaturpsychologischen Studie über
Goethe, Schiller und das Unbewusste stellt Gerhard Oberlin einmal
mehr die Frage nach den Ursachen hierfür: »Wie war es möglich
[...], dass Literatur von derartiger Brisanz [...] zum
Bildungskanon des Bürgertums und der Menschen bis heute wurde?« (S.
14)
Die Antwort liege genau in dieser Brisanz begründet – welche
Oberlin näher umschreibt als »Phänomene äußerster Destruktivität«
(S. 14) –, da nämlich Goethe wie auch Schiller »dazu aufforderten,
Verstecktes, Verborgenes [...] bei der Lektüre oder im Theatersaal
auszuagieren« (S. 14), und damit zu einem »öffentliche[n]
Unbewusste[n]« (S. 14) geworden seien. Zwar räumt auch Oberlin ein,
dass die Auseinandersetzung mit der Rolle der Psyche in der
Literatur viel weiter zurück geht als bis in die Goethezeit, und
verweist unter anderem auf die Dramentheorie des Aristoteles.
Dennoch habe die frühe literarische Moderne, deren Beginn er in den
Anfängen der Genieästhetik der Stürmer und Dränger ausmacht, es
vermocht, das Unbewusste in bis dahin ungekannter Art darzustellen.
Konstituierung der Subjektivität und Wissenschaften vom Menschen.
Dies sei möglich geworden, da für einen Blick nach innen die
Herausbildung der bürgerlichen Subjektivität notwendig gewesen war.
Demnach führe die Frage »nach der Entdeckung psychischer Abgründe«
(S. 12) geradezu zwangsläufig »in die Aufklärungsepoche zwischen
Leibniz und deutschem Idealismus« (S. 12), wo auch gleichzeitig der
Anfang der empirischen Humanwissenschaften anzusiedeln ist. Dem
bürgerlichen Individualismus sei jedoch schon bald »die sich [...]
anbahnende Massenuniformierung der bürgerlichen
Industriegesellschaft« (S. 33) gegenübergestanden. Dieser Umstand
ebenso wie die konfliktreiche
Kleinfamilie hätten schließlich Anpassungsleistungen gefordert, auf
welche die Psyche mit Ablehnung reagierte: »In dieser Situation
wächst mit den seelischen Konflikten und Krankheiten auch die
Wahrnehmung der ›Nachtseiten‹« (S. 33). Sowohl Goethe als auch
Schiller nahmen am anthropologischen Diskurs ihrer Zeit teil. Und
zwar gemäß Oberlin nicht nur begründet im aktiven Wissen der beiden
Dichter über den Stand der psychologischen Forschung ihrer Zeit
–bei Schiller etwa war die Auseinandersetzung »mit der
›Experimentalphysik der Seele‹« (S. 14) Bestandteil seiner
Ausbildung an der Stuttgarter Karlsschule; wobei ihn insbesondere
sein Lehrer Abel beeinflusste, der einerseits für eine Vermittlung
der psychologischen Avantgarde gesorgt und andererseits für eine
Integration des Diskurses in die Literatur plädiert habe. Sondern
auch entsprechend der Kohutschen These einer »künstlerischen
Vorwegnahme« (S. 20), der zufolge durch die Dichter bereits
psychologische Umstände angesprochen seien, die erst später zum
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung würden. Diese These
stützt Oberlin nämlich insofern, als auch er davon ausgeht, dass
die Künstler in erster Linie aus ihrem eigenen
Selbst, »aus dem Unbewussten schöpfen und es so [...] ›entdeckten‹«
(S. 21).
Was den aktuellen Bezug der Goethezeit-Literatur zur Gegenwart
betrifft, so sieht Oberlin diesen einerseits angezeigt durch die
Entsprechung des »neue[n] Interesse[s] an Charakterstörungen« (S.
15) in der Goethezeit mit der »forcierten Narzissmusforschung der
vergangenen vier Jahrzehnte« (S. 15). Andererseits bezieht sich
Oberlin, der Lehrverpflichtungen in Asien wahrnimmt, auch auf
seinen Blick von der »asiatischen ›Warte‹« (S. 9) aus, der ihn die
Werke der deutschen Literatur anders lesen lasse: Ausgehend von der
Beobachtung einer gewaltsamen Industrialisierung in Asien erhielten
die »alten« Klassiker neue Relevanz, indem nämlich »die
Veränderungen von heute den Werken von damals aktuellen Hintergrund
verleihen« (S. 9).
Bindungsparadoxa und psychische Abhängigkeit: Werther und die
Räuber Am Anfang seiner chronologisch angelegten Analyse von
Werken, denen Oberlin zuschreibt, »auf psychologischem und
ästhetischem Gebiet Pionierarbeit« (S. 17) geleistet zu haben,
stehen Die Leiden des jungen Werthers, die er betrachtet als »das
Debüt moderner psychologischer Literatur in Deutschland« (S. 58).
Grundlegend für Oberlins Werther-Lektüre ist die Identifizierung
von Werther und Lotte als »eine aporetische Bewusstseinsfigur« (S.
51); dadurch, dass sie »ein strukturelles Paradox im
Bindungskomplex« (S. 51) darstellten, sei denn auch von Anfang an
eine glückliche Beziehung zwischen den beiden ausgeschlossen.
Stattdessen werde Lotte mit ihrer Mütterlichkeit zum Ziel von
Werthers Sehnsucht, die sich als »Suche nach einem
archaisch-unpersönlichen, idealisierten Liebesobjekt« (S. 67)
manifestiere, und verschlimmere so dessen durch endlosen
Liebesbedarf gekennzeichnetes narzisstisches Mangelleiden – ohne
dass Werthers Leiden in Wirklichkeit etwas mit der Person Lottes zu
tun hätten. Dass sie also in erster Linie als die unbewussten
Anteile Werthers gedeutet werden müsse, zeige sich auch schon im
Einfluss, den ihr Verhalten auf sein Selbstwertempfinden habe:
Eindeutig zeige sich Werthers »Selbstimago als Reflex der
Partnerimago« (S. 67), wenn seine glücklichsten Momente diejenigen
sind, in denen ihm Lotte offen ihre Wertschätzung bezeugt. Während
sich Werthers Beziehung zur eigenen, »realen« Mutter insgesamt
unterkühlt zeigt – »[e]r lässt ihr ausrichten, und sie lässt ihm
ausrichten« (S. 92) –, werde Lotte mehr und mehr zur
desexualisierten Übermutter stilisiert. In Kombination mit Albert
ergebe sich so eine typische Ödipuskonstellation; »[o]b nun Modell
oder Wiederholung der infantilen Leidensgeschichte: Die
Werthertragödie zeigt mustergültig die Mechanismen der Übertragung«
(S. 74). So unterlägen denn auch »alle sinnliche[n] Reflexe in
Werther« (S. 84) einem Tabuzwang. Ebenfalls komme es zur »geradezu
klassische[n] Identifikation mit dem Aggressor« (S. 85), wobei
Werther sein freundschaftliches Verhältnis mit Albert als
lächerlich bezeichnet und damit gleich selbst die Paradoxie
verdeutlicht,
welche diese Art der Beziehung prägt. Wenn Werther zu guter Letzt
feststellt, dass einer von ihnen zu gehen habe, und er derjenige
sein wolle, so artikuliere sich darin eine Selbstverurteilung, die
in ein »Ritual der Opferhandlung« (S. 84) münden müsse. Auch in
Schillers Drama Die Räuber arbeitet Oberlin eine narzisstische
Pathologie bei den Protagonisten heraus und rückt so die
Charakterprofile von Karl und Franz Moor einander näher, als es
lange Zeit der Fall gewesen ist; damit schließt er sich der
analytischen Annäherung der beiden Figuren in der
Literaturwissenschaft erst der letzten Jahrzehnte an. Mit den
beiden Brüdern greife Schiller zwei prominente Typen auf: Den
»›erhabenen‹ Kriminellen und [...] den ›heuchlerischen
heimtückischen Schleicher‹« (S. 130). Nichtsdestoweniger unterlaufe
das Stück diese Gegensätzlichkeit zugleich. Oberlin knüpft hier an
den tiefenpsychologisch orientierten Ansatz von Gert Sautermeister
an, der im Deutungsdiskurs der 90er Jahre zeigen wollte, dass Karls
vermeintliche Heldenrolle eine in erster Linie narzisstische sei –
und zwar aufgrund der »Würdigung der sadistischen Verbal- und
Realbrutalität Karls« (S. 107). Diese trete vor allem im Räuberlied
zutage. Lange verlegte sich die Forschungsmeinung darauf, dieses
Lied aufgrund der Abwesenheit Karls als einen absichtlich gesetzten
Kontrast zu diesem zu deuten. Oberlin sieht in der Abwesenheit
Karls allerdings keine Exklusion desselben aus der Gesinnung der
Räuberbande. Der verbale Gewaltexzess des Räuberlieds bringe eine
sadistische Zerstörungswut zum Ausdruck, die psychologisch
auffällig sei – »zumal sie mit Amokszenarien und masochistischen
Straffantasien einhergeht, in denen sich Suizidwünsche verraten«
(S. 134). Auch nach den Maßstäben des 18. Jahrhunderts handle es
sich bei diesen Räubern nicht um normale Kriminelle, die es auf das
Eigentum anderer Leute abgesehen hätten. Viel eher legten sie ein
Verhaltensextrem an den Tag, bei dem es vor allem gehe, »in anderen
zu bekämpfen und zu vernichten, was in [einem] selbst [...]
vernichtet wurde« (S. 134). Karl hatte seine ganze Hoffnung auf ein
glückliches Leben an die Antwort des Vaters gebunden. Dass er
unter
einer »Selbstwert- und narzisstische[n] Störungsproblematik« (S.
149) leide, zeige sich bei Karl folglich zum einen schon an dieser
übersteigerten Erwartungshaltung, wo die Antwort des Vaters zur
Generalabsolution werden soll. Gleichzeitig offenbare sich die
Problematik auch darin, dass sich Karl in seinem Bittbrief selbst
sehr deutlich in Frage stelle. So sei es nicht die
Leichtgläubigkeit Karls, die ihn die Intrige des Bruders nicht
durchschauen lasse, »sondern der chronisch verfestigte
Selbstzweifel« (S. 155). Die in der Glorifizierung des Vaters sich
zeigende psychische Abhängigkeitskonstellation mache das Stück
schließlich auch zu einem von Schillers »Fallbeispiele[n] falscher
Erziehung« (S. 137) und weise den Dichter aus als »als intuitive[n]
Meister der Tiefenpsychologie« (S. 160). Megalomanie und
Selbstwertkonflikt:
Doktor Faust und Marienbad Mit Faust und Mephisto habe Goethe
wiederum ein dynamisches Bewusstseinsmodell geschaffen, bei dem
»Mephisto [...] nicht nur die dunkle Triebsphäre« repräsentiere und
»Faust [...] nicht nur der leuchtende Rationalist« (S. 178) sei.
Stattdessen käme es zu einer Durchmischung beider Anteile in beiden
Figuren – Oberlin deutet Mephisto als das Unbewusste, als Instanz,
die »Faust letztlich alles Verdrängte in sich ausagieren lässt« (S.
218). Und auch hier sei Goethe daran gelegen, Fausts Liebe zu den
Frauen als eine Selbstbeziehung zu gestalten. Zur Untermauerung
seines Ansatzes argumentiert Oberlin mit der Szene Hexenküche. Denn
aufschlussreich sei insbesondere, dass nicht erst der Zaubertrank
stimuliere, sondern Faust schon vor Mephistos Prophezeiung, von nun
an in jeder Frau Helene zu sehen, einen Frauenleib im Spiegel
erkennt: »Diese Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild [...]
spielt auf
den ursprünglichen Narzissmythos an« (S. 194). Und wie zuvor
dasjenige von Werther, sei auch Fausts Sehnen eines nach einem
Mutter-Ideal, was zugleich das Scheitern realer Beziehungen
bedinge. Denn das ersehnte Ideal könne niemals gefunden werden.
Eine Ausgangslage, die eine Unersättlichkeit – »Speise die nicht
sättigt« (Vs. 1678) – generiere, die dem Kohutschen Konzept »des
unstillbaren narzisstischen ›Objekthungers‹« (S. 227)
entspreche.
Dass Faust schließlich in seiner grandiosen Vision, »im irrealen
Vorgriff auf künftige Taten, Ehren und Verdienste« (S. 232) das
Glück des Augenblicks empfinde, zeige einerseits das für
Megalomanien typische Vorauseilen; wobei Oberlin deutlich macht,
dass megalomane Fantasien im Allgemeinen »zu den psychodynamischen
Folgeerscheinungen von Erfahrungen des Ungenügens« (S. 221) gehören
und der Leser also auch im Faust mit einem Selbstwertkonflikt
konfrontiert wird. Andererseits weise dieser Umstand aber auch den
wahren Grund für Fausts Sterben als einen intrinsischen aus: »weil
er nur genießen kann, was nicht ist, und dabei das
Leben ein für allemal überspringt« (S. 234). Wenn Faust die Spur
seiner Erdentage nicht in Äonen untergehen sieht, habe er den Tod
durch die Illusion einer Kontinuität überwunden. Damit sterbe Faust
auf der Höhe seines Strebens und der Therapieweg habe sich gezeigt
als »Sublimation durch Kulturleistung« (S. 237). So wie der Faust
mit dem Stoßseufzer eines gealterten Gelehrten auf dem Höhepunkt
von dessen intellektueller Karriere beginnt, gehe es auch in der
Marienbader Elegie vornehmlich um eine »Eskalation
narzisstischer
Konflikte im Alter« (S. 18), die sich nicht im Abschied von der
Geliebten erschöpfe, sondern vielmehr »einen Generalabschied vom
Leben« (S. 248) suggeriere. In der Überhöhung des Liebesobjekts
zeige sich, dass »der Partner als Selbstobjekt gesucht und benötigt
wurde« (S. 264) und das Liebesobjekt damit zu einem Mittel der
Selbstaufwertung funktionalisiert worden sei. Die im Zentrum des
Konflikts stehende »Selbstwertirritation« (S. 259) werde bereits in
den Anfangsversen der Elegie offenbart – »Zu Ihren Armen hebt sie
dich empor« (Vs. 6) –, denn das Emporheben stehe »für eine
Erlösungsapotheose, deren Essenz die Wiedergutmachung für den
Objektverlust und die Aufhebung der damit verbundenen Erniedrigung
ist« (S. 259).
Eine »Kunst des Unbewussten« Oberlin legt eine dichte Studie vor,
in der er nicht nur den narzisstischen Impetus der in den Texten
agierenden Figuren aufdeckt, sondern die Thematik des Unbewussten
auch im historischen Kontext verortet und die literarischen
Erzeugnisse so als »Aufklärung der Aufklärung« (S. 183) wertet,
unter anderem weil zur wirklichen Aufklärung auch »die Einsicht in
Dynamik und Entwicklung der Psyche« (S. 172) gehöre. Mit den
Parallelitäten zwischen den untersuchten Werken und den Biographien
Goethes und Schillers thematisiert Oberlin zugleich die Paradoxie
einer »Kunst des Unbewussten«, in der »das dynamische psychische
Geschehen in wohl organisierter Form sich selbst zu überlassen« (S.
246) sei. Mit der Betonung dieses paradoxen Tenors weist Oberlin
geschickt den Vorwurf an eine psychoanalytische Lesart zurück,
welche das Moment der literarischen Konstruktion (und Organisation)
zugunsten des immer nur spekulativ zu entfaltenden Innenlebens des
jeweiligen Autors negiert. Die tiefenpsychologischen Erklärungen
des Figurenverhaltens sind nachvollziehbar dargestellt und es ist
nicht notwendig, jedem Auslegungsvorschlag zuzustimmen, um Oberlins
souveränen Zugriff auf eine tief greifende Thematik als solchen
anzuerkennen: Die Studie setzt sich mit einem komplexen Gegenstand
in ebenso komplexer Art und Weise auseinander. Zuweilen stellt sich
diese Komplexität leider selbst ein Bein,wenn in rasendem Tempo von
einem Punkt zum nächsten und wieder zurück gesprungen wird, wobei
das Springen in beide Richtungen nicht immer eine Strategie
erkennen lässt. Auch wird ein Schlusskapitel vermisst, in dem der
Verfasser die gesammelten Erkenntnisse noch einmal ordnend
zusammenführt. Diese gelegentliche »Unordnung« vermag dem
Gesamteindruck jedoch keinen Abbruch zu tun, der sich
zusammenfassen lässt als ein sehr interessantes Lektüreerlebnis.
Die präsentierte tiefenpsychologische Auslotung der gewählten Werke
weist diese denn auch nicht nur als »alte« Klassiker neuer Relevanz
aus, sondern rückt sie in der Tat auch ins Licht als Texte, »in
denen die Nachtseiten nicht nur erlaubt, sondern kanonisiert sind«
(S. 9).