Rezension zu Freuds Lektüren (PDF-E-Book)
literaturkritik.de, Nr. 1 / Januar 2006
Rezension von Jan Süselbeck
Bücher für die Couch
Michael Rohrwasser hat Sigmund Freuds Lektüren noch einmal
nachgelesen
»Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine
Verfassung eingeführt zu haben«, schrieb einst Karl Kraus über
Sigmund Freud. Und er fügte hinzu: »Aber es geht darin zu, wie in
Österreich«.
Dem kann man, nachdem man Michael Rohrwassers Buch über »Freuds
Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler«
durchgelesen hat, nur zustimmen. Wobei es gerade das Schöne an
dieser Studie ist, dass sie uns aus kritischer Perspektive daran
erinnert, wie inspirierend es ist, sich in dieses Österreich
zurückzuversetzen. War die in der Tradition der k.u.k-Monarchie
stehende Gesellschaft doch nach 1900 noch hochgradig durch
(ost-)jüdisches Kultur- und Literaturverständnis bereichert.
Auch der assimilierte Mediziner Freud begann bald, die junge
Wissenschaft der Psychoanalyse auf die Literatur (seiner Zeit)
anzuwenden – Werke, die er seit seinen Jugendtagen als »Bücherwurm«
verschlungen und in sich aufgesogen hatte.
Nach dem Erscheinen seiner epochalen »Traumdeutung« (1900) gewinnen
Freuds Interpretationen neue Qualität. »Sie erheben einen
spektakulären Anspruch, weil sie verheißen, dem literarischen Text
sein verborgenes Geheimnis zu entlocken, weil sie den Schlüssel
versprechen, der den latenten Sinn des Werks und dessen andauernde
Wirkung erst erschließt«, referiert Rohrwasser. Eine geradezu
detektivische Deutungsschule fand hier ihren Ursprung, deren
letztendliches Scheitern Rohrwasser beim Durchforsten der
Schriften, Briefe und Lieblingslektüren Freuds immer wieder
interessiert – samt all ihren wichtigen Erkenntnissen und
Teilerfolgen.
Rohrwasser beobachtet Freud »in den Rollen des Entzifferers, des
Detektivs, des Übersetzers und des Archäologen«, und er liest ihn
damit dezidiert als »modernen Autor«. Einen Schriftsteller also,
der »nicht nur Enträtseler, sondern auch Konstrukteur des Rätsels
ist«, wie es in der Einleitung der Studie heißt.
Freuds Fallgeschichten nahmen schon früh selbst den Charakter
literarischer Erzählungen an, wie er auch umgekehrt die Versuche
der von ihm behandelten Neurotiker, ihre inzestuösen Neigungen mit
Abwehrfantasien zu kaschieren, kurzerhand als »Familienroman«
beschrieb. Rohrwasser nimmt Freuds Bemerkung aus einem Brief an
Wilhelm Fließ ernst, in der er sich mit Sherlock Holmes vergleicht,
und er nimmt diesen Anhaltspunkt zum Anlass, die Geschichte der
Freudschen Psychoanalyse noch einmal als intertextuellen Krimi zu
lesen. Dabei betont er gerade auch die frühe zeitgenössische
Wahrnehmung der Psychoanalyse als eher dubiose Modeerscheinung,
nicht zuletzt wegen ihrer anfänglichen Liebäugelei mit der obskuren
Hypnose.
Den hier entstehenden Topos des Psychiaters als eines unheimlichen
Magnetiseurs, der mit seinen Patienten mittels Mesmerismus Böses im
Schilde führt, griff das Kino des Expressionismus und Surrealismus
dankbar auf – so etwa Fritz Lang in »Dr. Mabuse« (1922) oder Robert
Wienes in »Dr. Caligari« (1919). Rohrwasser leitet Freuds
demonstrative Ablehnung des neuen Mediums, die so nachhaltig war,
dass er 1925 ein Angebot der UFA, an einer seriösen filmischen
Darstellung seiner Wissenschaft mitzuarbeiten, »mit Abscheu und
demonstrativer Verachtung« ausschlug, von der These ab, dass Freud
im Kino nichts weniger als ein »Konkurrenzsystem« erkannt haben
könnte.
Der Film vermöge die Welt der Träume immerhin direkter zu evozieren
als die Literatur, stellt Rohrwasser fest: Das »Kino, ›Traumwelt‹
genannt, entpuppt sich als die bessere psychoanalytische Technik
und als ein ideales Instrument zur ›Massenbezwingung‹«. Den
Lustcharakter aber, den die Unterwerfung unter die Macht solcher
(medialer) Massenphänomene auch beinhaltet, hatte Freud in der Tat
ignoriert, wie seine berühmte Studie »Massenpsychologie und
Ich-Analyse« (1921) zeigt. Sie kapriziert sich auf die Untersuchung
der Macht des Führerprinzips, während sie die unheimliche
Eigendynamik der Masse »familiarisiert«, wie Rohrwasser es
formuliert, sie »auf die vertrauten libidinösen Bindungen« des
Individuums beschränkt.
Wer nun jedoch glaubte, Freud sei deshalb trivialen Kunstwerken wie
dem Kino generell abhold gewesen, den belehrt Rohrwassers Buch
eines Besseren. Freud wird uns hier nämlich als begeisterter – um
nicht zu sagen: identifikatorischer – Leser der
»Sherlock-Holmes«-Stories Arthur Conan Doyles vorgestellt. Nicht
zuletzt widmet sich Rohrwasser einer genaueren Relektüre von Freuds
Studie über Wilhelm Jensens trivialen Erfolgsroman »Gradiva. Ein
pompejanisches Phantasiestück« (1907). Freuds noch im selben Jahr
entstandenes Buch »Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹«
entpuppt sich dabei weniger als schlüssige Analyse des Romans, denn
als autarke Erzählung, die sich in der nachfolgenden
Literaturgeschichte kuckucksgleich an die Stelle des Jensenschen
Romans setzte. Jensens drittklassiges Buch wäre schließlich ohne
Freuds Schrift längst vergessen: »Literatur nach Freud«, das heißt
für Rohrwasser zugespitzt: »die Literatur Freuds«.
Damit nicht genug. In akribischen, keinesfalls aber langweiligen
Exkursen über Freuds Lektüren von E. T. A. Hoffmanns »Sandmann«
(1815), Conrad Ferdinand Meyers historischer Novelle »Die
Richterin« (1885) und Arthur Schnitzlers »Weissagung« (1905) wird
uns das literaturgeschichtliche Hirn bei Rohrwasser endlich einmal
wieder ordentlich durchgepustet. Spannend daran ist vor allem, wie
er die analytischen Urteile Freuds in eigenen Interpretationen zu
verifizieren versucht und dabei allerhand Widersprüche neu zu Tage
fördert.
Freuds in seinem berühmten Vortrag »Der Dichter und das
Phantasieren« (1907) popularisierter Fehlschluss, im Werk des
Künstlers die Träume und die fantasierten Wünsche des Autors selbst
wiedererkennen und herausarbeiten zu können, schlug demnach am Ende
auf den Analytiker zurück. So war sich Freud beispielsweise im
Briefwechsel mit seinem Freund und Kollegen Fließ unter der Hand
schnell einig, in dem Schweizer Schriftsteller Meyer einen
typischen Neurotiker vor sich zu haben, der seine inzestuöse
Beziehung zur Schwester in der »Richterin« zu camouflieren
suchte.
Rohrwasser arbeitet jedoch heraus, wie wenig dieser literarische
Text tatsächlich den ›Skandal‹ zu verbergen sucht, über den man
seinerzeit in den Salons munkelte, ohne dass eine sexuelle
Beziehung Meyers zu seiner Schwester jemals wirklich nachgewiesen
worden wäre. Freuds Analyse erweist sich zudem als unzugänglich für
die gekonnte Konstruktion des untersuchten Werks: Der Psychiater
entpuppt sich mithin als pathologisierender Detektiv, der in der
Literatur nur noch bloße »Schutzdichtungen« und »Fallgeschichten«
wahrzunehmen vermag. Auch hier schreibt Freud laut Rohrwasser
letztlich eine neue, eigene Novelle, um sie an die Stelle des
untersuchten Textes zu setzen.
Den krönenden Schlusspunkt der Studie setzt die Untersuchung der
klandestinen Freud-Rezeption des großen Psychoanalysehassers Elias
Canetti – ein Autor, den Rohrwasser besonders genau gelesen hat. Er
weist dem Nobelpreisträger nach, wie wichtig Canetti die
stillschweigende Auseinandersetzung mit Freud gewesen sein muss, um
seine eigenen Lebensthemen – vor allem das von »Masse und Macht«
(1960) gegen die Hypothesen des großen Vaters der Psychoanalyse zu
profilieren.
Canetti opponierte leidenschaftlich gegen Freuds Massenpsychologie,
indem er die am eigenen Leib erfahrene Urmacht der Masse selbst zu
ergründen suchte: »Sie brodelt, ein ungeheures, wildes,
saftstrotzendes und heißes Tier in uns allen, sehr tief, viel
tiefer als die Mütter. [...] Wir wissen von ihr nichts; noch leben
wir als vermeintliche Individuen«, mutmaßt Canetti in seinem
genialischen Roman »Die Blendung« (1935). »Manchmal kommt die Masse
über uns, ein brüllendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in
dem jeder Tropfen lebt und dasselbe will«.
Hier wird also aus »Freuds Lektüren« zum Ende des Buchs doch noch
die Analyse einer fruchtbaren Rezeption von Freud, um den
hermeneutischen Zirkel zu schließen. Und: Das alles ist nicht etwa
graue literaturwissenschaftliche Theorie. Es ist zumindest
passagenweise selbst so etwas wie eine fesselnde Erzählung, wobei
Rohrwasser eine angenehm weitgreifende Belesenheit an den Tag legt,
ohne jedoch den Leser damit zu nerven.
Gewiss: Die fragwürdige Manie, ein überbordendes »Netzwerk« von
Verbindungen sowohl in Fuß- als auch Endnoten auszulegen, hat sein
Buch mit den Mammutstudien seines Kollegen Klaus Theweleit gemein.
Allerdings muss man sagen, dass Rohrwasser die Geduld des
Umblätterers summa summarum weit weniger strapaziert, als der Autor
der »Männerphantasien« (1977/78) es zuletzt in seinem
»Pocahontas«-Projekt tat.
So pirscht man sich denn mit Rohrwasser tapfer weiter in das Herz
des dunklen Kontinents der Psychoanalyse vor. Eine fast so
schwierige Exkursion, wie die in Joseph Conrads »Heart of Darkness«
(1926), wo der Protagonist über seinen Weg ins Innere Afrikas
einmal sagt: »Mir kommt es vor, als versuchte ich euch einen Traum
zu erzählen, versuchte es vergebens, denn niemals kann die
Erzählung eines Traumes das Traumhafte wiedergeben [...]. Wir leben
und wir träumen – allein...«.
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