Rezension zu Körper, Sexualität und Geschlecht (PDF-E-Book)
Psychoanalytische Familientherapie 05/2002
Rezension von Angela Schmidt
Basierend auf Interviews mit 13-19 jährigen Mädchen und ihren
Müttern, Vätern bzw. Stiefvätern beleuchtet Karin Flaake die
lebensgeschichtliche Phase des Übergangs von der Kindheit zum
Erwachsensein, die weibliche Adoleszenz. In den Interviews geht es
um die familialen Interaktionen, in denen deutlich wird, wie die
jungen Mädchen selbst, aber auch ihre Mütter und Väter die Phase
der Adoleszenz erleben, welche Wünsche und Phantasien diese Phase
bei ihnen auslöst, welche Beziehungsdynamik zwischen Mutter und
Tochter, zwischen Vater und Tochter und zwischen den Erwachsenen
entsteht. Die Autorin arbeitet die darin enthaltenen unbewussten
Motive und die latenten Phantasien bei den Mädchen und den
Erwachsenen heraus und widmet diesen unbewussten Dynamiken
besondere Aufmerksamkeit.
Karin Flaake geht davon aus, dass die körperlichen
Veränderungsprozesse einerseits eingebunden sind in kulturelle und
gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge des Zur-Frau-Werdens,
andererseits gemäß den innerpsychischen Konstellationen der jungen
Frauen verarbeitet werden. Beide Aspekte – die gesellschaftliche
Dimension und die individuellen Verarbeitungsmuster – stehen nicht
unvermittelt nebeneinander, sondern bedingen sich gegenseitig.
Dementsprechend nimmt die Autorin sowohl die soziologische als auch
die psychoanalytische Perspektive ein und vermittelt beide als
miteinander verbunden.
Im Anfangsteil widmet sich die Studie der Bedeutung und dem Erleben
der ersten Menstruation unter verschiedenen Gesichtspunkten:
Es geht zum einen in den Interviews mit den jungen Frauen um die
Erlebensweise und die Gefühle, die die erste Menstruation bei ihnen
selbst ausgelöst hat.
Des weiteren geht es um die Bedeutung der Menstruation für die
Mutter-Tochter-Beziehung. Hierbei stützt sie sich neben den
Interviews mit den Jugendlichen auf Gespräche mit deren
Müttern.
Schließlich beleuchtet die Studie die Veränderungen, die die
Vater-Tochter-Beziehung durch die erste Menstruation erfährt.
Es wird in den Auswertungen der Interviews deutlich, wie stark die
jungen Mädchen erschüttert sind und in welchem Ausmaß die bis dahin
erreichte psychische Balance zerstört werden kann. Für die jungen
Mädchen wesentliche – auch unbewusste – Bedeutungsgehalte liegen in
der unwiderruflichen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, in
der neuen Beziehungsgestaltung zu Vater und Mutter, in der Symbolik
der Menstruation als Zeichen sexueller Lust und Erregung sowie in
dem Unkontrollierbaren der Vorgänge im Körperinneren.
Charakteristisch im Erleben scheint die Spaltung zu sein zwischen
einem rationalen, zur Kontrolle des Lebens fähigen Selbst und der
Eigendynamik des Körpers, die passiv erlitten wird. Um die damit
verbundene Angst und Bedrohung bewältigen zu können, ist es
wichtig, den jungen Mädchen ermutigende Botschaften zu vermitteln,
die Lust machen, den eigenen Körper zu erkunden und den Mädchen
Raum zu geben, ihre neue Phase des Erwachsenwerdens zwischen
Zulassen von Lust und innerer Kontrolle schrittweise zu
verarbeiten.
Weibliche Körperlichkeit und Schönheitsvorstellungen – Wünsche,
Verunsicherungen, Bestätigungen lautet der Titel des folgenden
Kapitels.
Während die erste Menstruation plötzlich und unübersehbar eintritt,
vollziehen sich die übrigen Wandlungsprozesse der Pubertät
kontinuierlich und über einen längeren Zeitraum. Oft ist den jungen
Mädchen dieser Wandlungsprozess zunächst gar nicht bewusst; die
Aneignung der körperlichen Veränderungen erfolgt allmählich.
Wesentlich ist für diese Aneignung die Einbettung der individuell
stattfindenden Entwicklungen – Wachsen der Brüste, Schamhaare und
Achselhaare, Entwicklung einer weiblichen Figur in eine
Gemeinsamkeit unter Klassenkameradinnen und Freundinnen. So
entsteht eine Normalität als Bezugspunkt, der den Mädchen
Stabilität in den psychischen Verunsicherungen geben kann.
Hochinteressant für Leserin und Leser dürfte sein, inwiefern Flaake
den Aneignungsprozess der körperlichen Veränderung im
gesellschaftlichen Kontext sieht. Sie betont hier die Bedeutung der
gesellschaftlichen Weiblichkeitsdefinition und der kulturell
festgeschriebenen Körperbilder, an denen sich die Mädchen in der
Entwicklung ihres Selbstbildes messen.
Zweierlei wird in beeindruckender Weise herausgearbeitet:
Die Aneignungsprozesse der Mädchen haben viel mit dem Blick des
anderen Geschlechts zu tun; vermittelt über den männlichen Blick
auf ihre sich verändernden Formen werden sie sich erst ihrer
körperlichen Entwicklung bewusst. Nicht ohne Einfluss auf das
eigene Erleben ist die Tatsache, dass in unserer Kultur der
männliche Blick mit dem Begehren verbunden ist, wohingegen der
angeschauten Frau, dem Objekt des Blicks, das passive Begehrtwerden
zugeschrieben wird. In der Entwicklung ihrer Selbstbilder müssen
sich die jungen Mädchen und Frauen mit dieser Beurteilung durch den
Blick des anderen Geschlechts – zustimmend oder ablehnend –
auseinandersetzen. Zum anderen ist der Aneignungsprozess dadurch
beeinflusst, dass in unserer Kultur die Schönheitsvorstellungen
prinzipiell nie ganz erreichbar sind, dass somit bei den jungen
Mädchen und Frauen immer ein Gefühl von Nichtgenügen und
Nichterreichbarkeit zurückbleibt.
Sexualität und sexuelle Beziehungen
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Handlungsspielräume für
Mädchen in den westlich-industriellen Gesellschaften sehr
erweitert: Die Verbote vorehelicher Sexualität sind weitgehend
entfallen; die Mädchen haben Freiräume für sexuelle Erfahrungen;
die Empfängnisverhütung ist sicher geworden. Damit einher geht eine
Familiarisierung der ersten sexuellen Beziehungen, da diese
heutzutage zunehmend im Kontext des Familienlebens stattfinden. So
kann an die Stelle früherer Ängste und Heimlichkeiten heute eine
>Domestizierung< treten. Möglich sind Folgen für die
Autonomieentwicklung.
Anhand der Interviews kommt Flaake zu dem Ergebnis, dass für die
jungen Mädchen Normen für die Gestaltung ihrer Sexualität
wesentliche Bedeutung haben. Vor allem geht es um die Gruppennormen
der Peergroup hinsichtlich der Ausgestaltung der sexuellen
Beziehungen, um den Zeitpunkt für >das erste Mal< und um die
eindeutige Orientierung an heterosexuellen Beziehungen.
In den beiden folgenden Kapiteln geht es um die Körperlichkeit und
Sexualität in der Mutter-Tochter und in der
Vater-Tochter-Beziehung.
Deutlich wird das besondere Spannungsverhältnis zwischen Mutter und
Tochter oszillierend zwischen Abgrenzung und innerer Bindung. Die
Ambivalenz zwischen Bindung und Loslassen ist bei beiden, bei
Mutter und Tochter, vorhanden. Für die Mutter scheint es eine
besondere Herausforderung zu sein, der Tochter eine eigenständige
lustvolle Sexualität zuzugestehen. Ist die Mutter selbst mit ihrem
eigenen sexuellen Erleben unzufrieden, so betrachtet sie diese
ungelebte Seite bei der Tochter mit Faszination, Angst und Neid.
Oder aber die Projektion eigener ungelebter Anteile versperrt den
realen Blick auf die Tochter.
Oft fällt es den Müttern schwer – so zeigen es die Interviews – den
Mut zum Ja‑Sagen, den Mut zu einem lustvolleren Leben zu
vermitteln.
Gerade die Lektüre dieses Kapitels kann erwachsene Leserinnen dazu
ermutigen, sich mit ihren eigenen Anteilen in der Beziehung zur
adoleszenten Tochter zu beschäftigen und so der nächsten Generation
den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu ebnen.
In der Beziehung zum Vater oszillieren die jungen Frauen in ihren
Gefühlen zwischen Abgrenzungsbedürfnissen und
Verführungsphantasien, die Väter zwischen Abschiedsgefühlen und
Begehren. Misslingende Abgrenzungen des Vaters von der Tochter kann
zu beidem führen, zu abrupter Distanz ebenso wie zu verstrickender
Nähe.
Beeindruckend für Leserinnen und Leser ist es, die Analyse der
Interviews mit Hilfe der Methode der tiefenhermeneutischen
Interpretation nachzuvollziehen. Die Autorin lässt den
Originalzitaten direkt ihre Interpretationen folgen.
Die Methode, über Besonderheiten des Textes, die irritierend
wirken, Zugang zu den latenten Gehalten zu bekommen, wird so für
die Leserinnen und Leser schlüssig nachvollziehbar.
Da werden Widersprüche in zwei aufeinanderfolgenden Äußerungen
herausgearbeitet, da werden Ambivalenzen in der Wortwahl erkannt,
da werden in scheinbar belanglosen Füllwörtern tiefere Bedeutungen
gesehen. Auffällige Formulierungen bieten ebenso einen Schlüssel
zum Verständnis wie Versprecher, Auslassungen, bestimmte
Verknüpfungen von Themen oder Brüche in den Darstellungen.
Faszinierend an dem Ansatz von Flaake ist die durchgängige
Verknüpfung der drei Aspekte: körperliche Veränderungen –
psychische Verarbeitung dieser körperlichen Veränderungen –
gesellschaftlich bedingte soziale Bewertungen der Veränderungen. Am
Beispiel der weiblichen Adoleszenz zu zeigen, inwiefern diese drei
Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind, ist ein wesentliches
Anliegen der Studie. Was das bedeutet, möchte ich an dieser Stelle
zumindest andeuten:
Die körperlichen Veränderungen der jungen Mädchen in der Adoleszenz
signalisieren eindeutig die endgültige Zugehörigkeit zum weiblichen
Geschlecht. Das psychische Erleben dieser endgültigen Zuordnung ist
abhängig von den bisherigen Beziehungen und den darin enthaltenen
Bewertungen. Hier greift die historisch-gesellschaftliche
Komponente, die eine Höherbewertung des männlichen und eine
Geringerbewertung des weiblichen Geschlechts beinhaltet. Die
Kränkung für die Mädchen liegt also darin, nur dem weiblichen
Geschlecht anzugehören. Dementsprechend sind ihre
Körperwahrnehmungen, Körperempfindungen und das Körpererleben
unlösbar verbunden mit sozialen Bedeutungszuschreibungen.
Ich selbst habe das Buch als Gruppenanalytikerin, die mit
adoleszenten Gruppen arbeitet, aus berufsbezogenem Interesse
gelesen; ich habe das Buch aber auch als Pädagogin, die in der
Schule mit dieser Altersgruppe mal Frust mal Lust empfindet, mit
viel Neugier für das, was die jungen Menschen in meinen
Schulklassen bewegt gelesen; und ich habe das Buch als Mutter einer
adoleszenten Tochter mit großer Nachdenklichkeit und wachsender
Bereitschaft zur Selbstreflexion gelesen.
Es genügt schon, wenn Sie aus einer einzigen Perspektive – sei es
als Therapeut, als Pädagoge, als Elternteil, als erwachsener Freund
einer Adoleszentin, als Bekannte einer betroffenen Mutter – einen
vertieften Blick auf die weibliche Adoleszenz werfen möchten – die
Lektüre der vorliegenden Studien werden Sie nicht bereuen.