Rezension zu Versteckte Kinder
Psychoanalytische Familientherapie 11/2005
Rezension von Gerhard S. Barolin
Die nationalsozialistisch ungeheuerliche Mordmaschinerie war wohl
organisiert und auch ideologisch fundiert. Himmler, der
Hauptorganisationsverantwortliche für den millionenfachen Judenmord
formulierte ausdrücklich (Wannseekonferenz, etc.), dass unbedingt
auch alle jüdischen Kinder zu töten seien, um nicht Rächer heran zu
ziehen! Ein kleiner Anteilsatz jüdischer Kinder konnte aber dem
allgemeinen Morden entgehen. Das Buch untersucht erstens, wie es
möglich wurde, zweitens was weiter aus diesen Menschen wurde. Die
Belastungen des »großen Sich-verstecken-müssens« sind aus Anne
Franks Tagebuch weit bekannt geworden, aber neben diesem einen
Schicksal gab es völlig Unterschiedliche und diese werden hier
anhand einer Anzahl von über 50 Interviews von Überlebenden wieder
gegeben. Es liegt also nicht (wie heute schon vielfach in der
Holocaustliteratur vorhanden) die Geschichte von KZ-Überlebenden
vor; sondern von solchen, die »gerade noch« als Kinder dem KZ und
der Massentötung entgangen sind. Und was ist aus ihnen
geworden?
Die Autorin ist eine Gymnasialprofessorin für Deutsch und
Geschichte, die anlässlich eines psychologischen Zweitstudiums
dissertiert hat. Es liegt also keine Anfängerdissertation vor,
sondern ein Buch mit großer Zusammenschau historischer und
psychologischer Kenntnisse, geschrieben in ausgezeichnetem Stil, in
lebendiger Mischung von persönlicher Betroffenen-Aussage und kurzer
Zusammenfassung durch die Autorin.
Ist es ein politisch zeitgeschichtliches oder ein psychologisches
Buch?
Vieles zeitgeschichtlich kaum Bekannte kommt zum Ausdruck, darüber
hinaus aber ist es gerade in unserer Zeit, die das Psychotrauma
stärker zu fokussieren gelernt hat, bedeutsam zu sehen, wie
unterschiedlich sehr ähnliche Traumen von einzelnen Personen
verarbeitet werden können. Von der Rückkehr ins normale Leben bis
zur lebenslangen Schädigung und allen Zwischenstufen. Einiges
Geschichtliche scheint aber so interessant, dass es auch erwähnt
werden soll.
Der ständige Begleiter dieser Kinder auf ihren oft vielfachen
Überlebens- und Fluchtstationen war die Angst und die Einsamkeit.
Diese Letztere konnte so groß werden, dass sich eines der Mädchen
freiwillig der Gestapo stellen wollte. Aber sie wurde vom Torposten
(wahrscheinlich wegen ihres verwahrlosten Aussehens) weggejagt und
überlebte so trotzdem. Es ergab sich vielfach eine »Patchwork
identity«, denn manche der Kinder kamen bei liebevollen
Pflegeeltern oder fürsorglichen Klosterschwestern unter und wurden
dann mit Gewalt von einer »Jewish organisation« dort gegen ihren
Willen heraus gerissen, was ihr Leben erst in komplettes Chaos
stürzte. Besonders in Belgien und Frankreich konnten Manche in
Klöstern Erziehung finden, eine wurde eine so fundamentalistische
Christin, dass sie es verweigerte anschließend mit ihren jüdischen
Verwandten zusammen zu kommen. Die Klöster handelten durchaus
verschieden, ein Priester weigerte sich, ein Kind – trotz dessen
Wunsch – zu taufen, mit der Begründung, dies solle erst ordentlich
überlegt werden und wenn es größer geworden ist, entschieden. In
anderen Klöstern wurde die Taufe zur Bedingung. Dabei erhielten die
Kinder aber auch andere »nicht jüdische« Namen zu ihrem Schutz.
Andere Klöster wieder warfen die Kinder brutal hinaus, wenn deren
Verwandte oder Pflegeeltern nicht mehr zahlen konnten.
Das erste Trauma für diese Kinder war meist der Schulausschuss der
Juden zugleich mit der Grausamkeit der Mitschüler, der Grausamkeit
fanatisierter Kinder. Sehr unterschiedliche Menschen gaben in sehr
unterschiedlicher Weise Asyl. Ganz flüchtige Bekannte der Eltern
zeigten sich plötzlich als verlässliche Annehmer der Kinder und
gingen damit eine beträchtliche eigene Lebensgefahr ein.
Randgruppen der Gesellschaft wie Prostituierte halfen häufig und
retteten manchen das Leben. Das Verstecken der Judenkinder geht in
Deutschland, Frankreich und Belgien leichter als in Polen, denn der
dortige Antisemitismus ist stark. Hier hatten Juden allgemein die
geringsten Überlebenschancen, gefolgt von den Niederlanden, weil
dort der Beamtenapparat sehr »korrekt« mit den deutschen Behörden
zusammenarbeitete. Wieder andere versuchten aus den Versteckten
(respektive ihren Angehörigen) heraus zu pressen, was möglich war,
bis zu Prügeln und ständiger Drohung der Enttarnung.
Die tragische Stellung der Judenräte in den Ghettos kommt einmal
mehr zum Ausdruck. Sie waren ja verpflichtet, Juden für die
Deportation zu nominieren. Einige versuchten damit zu leben, andere
begingen Selbstmord. Wir erfahren auch von einem Judenrat, der sich
selbst komplett zur Deportation meldete, um dadurch keine anderen
nominieren zu müssen.
Deutlich ist bei den Überlebenden auch die Tendenz zur Toleranz, ja
Hilfsbereitschaft und zum Mitgefühl mit den Unterprivilegierten zu
finden, auch hinsichtlich der Palästinenser und hinsichtlich der
alten Nationalsozialisten.
Das Buch ist also neben seiner hohen zeitgeschichtlichen Relevanz
auch menschlich-psychologisch hoch interessant. Denn aus den
geschilderten Extremsituationen können wir für die allgemeine
Psychologie und Psychotherapie ableiten:
Es gibt kein einheitliches Psychotrauma, sondern die Auswirkung ist
völlig unterschiedlich von lebenszerstörend bis
Lebenseinstellungs-verbessernd.
Es gibt weder einen absoluten Altruismus noch eine absolute
Schlechtigkeit im Menschen. Das Verhältnis des einen zum anderen
macht das Individuum erst (relativ) gut oder schlecht.
Hoffentlich lesen viele das hervorragende Buch. Es mag manche
Dogmatik, manche Vorurteile und manche starren Überzeugungen
bessern helfen.