Rezension zu Sitzweise sinnlich

psychosozial 3/1999

Rezension von Iris Klein

Der Mensch ist erst Mensch, wenn er sitzt. Sitzend bewegt er sich fort: im Flugzeug, im Auto, mit der Bahn. Sitzend gestaltet er seinen Tag: in der Schule, im Büro, im Restaurant. Hat er dort erst einmal Platz genommen, sitzt er fest, bis ihn sein Rückgrat plagt. Warum hat sich die Menschheit gesetzt? Weshalb erfand sie den Stuhl?

Einige Antworten auf diese Fragen gibt der Katalog »Sitzweise sinnlich« mit Beiträgen von Friedheim Häring, Hartmut Schneider, Hans Goswin Stomps, Hans-Jürgen Wirth, Jochen Thormann und Gerhard Kilger. Aus kunsthistorischer, medizinischer, psychologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive haben sie sich mit dem Phänomen Stuhl auseinandergesetzt. Anlaß dazu gaben die Skulpturen des in Hessen lebenden Bildhauers Gerhard Burk, der in einem langfristigen und bisher noch nicht beendeten Projekt 366 Resonanzkörper der täglichen Befindlichkeit entwickelt hat – für jeden Tag des Jahres ein Unikat, den Schalttag mitgerechnet. In mehr als 130 Fotografien zeigt der Katalog einen Ausschnitt des umfassenden Werkes sowie Burks Leitmotive für die Deutsche Arbeitsschutzausstellung 92.

Historisch betrachtet bilden Königsthrone die Vorläufer heutiger Stühle: Sie waren Herrschaftszeichen und Mittel der Selbstdisziplinierung zugleich. 1859 gab es den ersten ›Thron der Masse‹, den seriell gefertigten Thonet-Stuhl Nr. 14. Seither sind Stühle im Besitz eines jeden, und sowohl das Objekt wie auch der Mensch unterliegen einem Funktionszwang. Sitzen diszipliniert Körper und Sinne, engt die natürliche Vitalität des Sitzenden ein.

Was unterscheidet die Resonanzkörper Gerhard Burks von solch funktionellen Möbeln? Dazu der Kunsthistoriker und Gießener Museumsdirektor Friedhelm Häring: »Bei Gerhard Burk haben die Stühle ihre Besitzer abgeworfen. Sie plazieren nicht, ordnen nicht, fesseln nicht, quälen nicht.« Gerhard Burks künstlerische Werke sprengen die üblichen Besetzungen des Objekts Stuhl. Viele von Burks Stühlen sind sinnlicher Natur, Klangkörper, deren individuelle Formen und Materialien die Sinne anregen, statt sie zu drangsalieren und zu zähmen.

Und so lassen Burks Stühle letztendlich den vom Sitzen besessenen Menschen wieder aufleben – was ihm mittels Bürostuhl oder eingezwängt zwischen Steuerrad und Autositz nur selten gelingt. Statt die Sinne festzusetzen, ermöglichen sie ein Fest der Sinne und stellen Objekte dar, in denen die Benutzer sich selbst als Menschen wiedererkennen.

Die Textbeiträge der Autoren des Kataloges wie auch die Skulpturen Gerhard Burks wecken Verständnis dafür, dass Stühle niemals nur reine Gebrauchsgegenstände sind: Häufig sind sie zur zweiten Natur des Menschen geworden. Umso wichtiger ist es, sich auch mit den uns umgebenden Sitzmöbeln zu befassen, denn gerade in ihnen spiegelt sich unsere Haltung wider.

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