Rezension zu Im Schatten des Ruhms
Psychoanalytische Familientherapie
Rezension von Ulfried Geuter
Er war ein weltberühmter Psychoanalytiker, dessen Bücher auch
außerhalb seines Fachgebietes viel gelesen wurden, war Professor an
der Harvard Universität und brachte es auf das Titelblatt der
Newsweek. Doch in der Familie von Erik Erikson lebte im Schatten
dieser überlebensgroßen Figur eine unglückliche Tochter, verwirrt
und überwältigt von der Aura, die den Vater in der Öffentlichkeit
umgab. Kurz nach dem Tod ihrer Eltern schrieb die mittlerweile über
60-jährige Sue Erikson Bloland ihre Erinnerungen nieder, einfühlsam
und getragen von Respekt und Verständnis, für ihre Eltern und für
sich selbst.
Die Tochter erlebte den allseits verehrten psychoanalytischen
Theoretiker als Märchenfigur, die seine Bewunderer aus ihm machten,
und als Vater, der nicht wusste, wie man den Tisch deckt und in
dessen Familie niemand über seine Nöte sprechen konnte. Sie musste
lernen zu unterscheiden, was Märchen und was Wirklichkeit ist.
Die tragische Wirklichkeit hieß, dass fünf Jahre nach Sue, die
schon zwei ältere Brüder hatte, noch ein viertes Kind geboren
wurde. Es litt an einem Down-Syndrom. Gleich nach der Geburt beriet
sich Erikson mit zwei Kollegen, als seine Frau noch in Narkose lag,
und entschied, das Kind sofort wegzugeben. Mutter und Geschwister
bekamen es nie mehr zu sehen. Sue erzählte man, das Kind sei
gestorben, doch es gab keine Beerdigung. Fragen traute sich niemand
zu stellen. Von dem Bruder wurde fortan nicht mehr gesprochen. Doch
lag über der Familie eine gespannte und gedrückte Atmosphäre. Die
Tochter spürte lebenslang den Groll der Mutter, die aber die
Entscheidung des Vaters niemals antastete.
Sue erfuhr die wahre Geschichte mit 13 Jahren. Sie lebte fortan in
Angst: Vielleicht werde auch ich weggegeben, wenn ich nicht genüge.
Vielleicht bin ich schuld daran, dass meine Eltern traurig sind.
Sie lernte vor dem Vater, dem andere ihr Herz öffneten, ihr Unglück
zu verbergen.
Was die Tochter damals spürte, versucht sie heute in ihrem Buch zu
verstehen. Vor allem die alte kindliche Trauer, an der ihre Eltern
litten. Erik Erikson selbst wusste nicht, wer sein Vater war. Seine
Mutter hatte ihrem späteren Mann versprochen, es dem Sohn niemals
zu sagen. Beide Elternteile, meint Bloland, fühlten sich als Kinder
ungeliebt, beide waren Außenseiter und versuchten tiefen
Selbstzweifeln durch Größenphantasien und Bestätigung durch andere
zu entkommen.
Blolands Buch ist daher auch eine Psychologie des Ruhmes, und zwar
der Suche und Sucht nach Ruhm von Menschen, die als verwundete und
zugleich besonders begabte Kinder der Welt ihre Größe zeigen, um
ihren Seelenschmerz zu bewältigen. »Verzweifelt« stürzten sich die
Eltern in Arbeit, heißt es in dem Buch. Erikson verließ die
Gesellschaft der Familie oder von Freunden, um in sein
Arbeitszimmer zu gehen, wenn ihm die Nähe zu viel wurde. Wohl habe
er sich nur gefühlt, wenn er über seine Theorien sprechen konnte.
Zufrieden mit sich selbst erlebte die Tochter ihn nur, wenn andere
ihn verehrten. Sein großer Mangel an Selbstsicherheit blieb hinter
der Fassade des Ruhms versteckt.
Da die Tocher mit dieser Grandiosität nicht mithalten konnte und da
sie gleichzeitig Angst davor hatte, in ihrem Glück von Ruhm
abhängig zu sein, verweigerte sie Leistung. Sie brach ihre Studien
ab und wurde Sekretärin. Und blieb darin doch die Tochter, die die
Manuskripte anderer, gelegentlich auch die ihres Vaters tippte.
Erst spät gelang ihr über lange psychoanalytische Einzel- und
Gruppentherapie die Befreiung. Dort erfuhr sie etwas, das die
Eltern nie erfuhren, die therapeutische Hilfe selbst nicht in
Anspruch nahmen: Sie konnte sich dem Gefühl überlassen, vollkommen
verloren zu sein, sie konnte ihre schlimmsten Ängste, Befürchtungen
und Phantasien offen legen, sie konnte ihre Schuldangst äußern,
illoyal gegenüber diesen weltbekannten Eltern zu sein, wenn sie
Familiengeheimnisse offenbarte. Dennoch wurde sie von anderen
akzeptiert. So lernte sie sich selbst anzunehmen.
Der Weg der Psychotherapie half Sue Erikson Bloland so sehr, dass
sie im fortgeschrittenen Alter selbst Analytikerin werden wollte.
Mit Ende 40 holte sie einen Universitätsabschluss nach und begann
eine psychoanalytische Ausbildung. Nun konnte sie einen eigenen Weg
gehen, die Theorien des Vaters lesen und achten und selbst anderen
Ansätzen des Denkens folgen. Noch einige Jahre dauerte es, bis sie
sich auch öffentlich mit der Geschichte der Familie
beschäftigte.
Ruhm heilt nicht frühe Verletzungen, er erleichtert allenfalls das
Leben. Das ist der Unterschied zum Märchen, so lautet Blolands
Botschaft. Der Ruhm lastete auf ihrer Familie als Druck, immer mehr
sein zu müssen als das, was man dem Erleben nach war. BIoland
schreibt, sie sei nicht frei davon. Aber ihr Buch heischt nicht
nach Bewunderung. Das macht es wohltuend zu lesen.