Rezension zu Empirische Forschung in der Psychoanalyse (PDF-E-Book)
Psychoanalyse und Körper 02/2006
Rezension von Peter Geißler
Die Psychoanalyse im Wiener Raum ist überwiegend traditioneller
Natur. Neuere Forschungen, wie z. B. solche aus dem Bereich der
Säuglings- und Bindungsforschung, der Neurowissenschaften oder der
Affektforschung, werden in den hier stattfindenden Ausbildungen
entweder gar nicht oder nur zögerlich zur Kenntnis genommen. Es
gibt natürlich Ausnahmen, wie die Wiener Selbstpsychologen, aber im
großen und ganzen habe ich im Laufe der Jahre den Eindruck
gewonnen, dass man hierzulande insgesamt sehr »kleinianisch«,
»bionianisch« und »lacanianisch« unterwegs ist – und sich dann
wundert, warum Ausbildungen eher stagnieren. Denn es spricht sich
offensichtlich herum, dass eine solche Psychoanalyse sich zu wenig
am Puls der Zeit orientiert, sondern ein Insider-Leben zelebriert.
Und das gerade in Wien – der Geburtsstätte der Psychoanalyse! Im
Übrigen ist dieses Manko nicht auf Wien beschränkt – in einer
psychoanalytischen Fortbildung in Südösterreich, an der ich
unlängst teilnahm, erstaunte es mich doch zu bemerken, dass der
Großteil der Kollegen beispielsweise die Säuglingsforschung Daniel
Sterns gar nicht zur Kenntnis genommen hatte.
Dem Herausgeber des hier vorgestellten Buches – einem der Begründer
der »Klagenfurter Psychoanalytischen Mittwochgesellschaft e.V.« ist
es ein Anliegen, auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer
Forschungskultur hinzuweisen, die über die psychoanalytische
CouchSituation hinausgeht. Er macht klar, dass eine empirische
Forschungsausrichtung nicht die Unterwerfung unter eine
positivistische Doktrin meint, sondern die Entwicklung von
Methoden, die psychoanalytische Konzepte intersubjektiv
nachvollziehbar untersuchen – d. h. es geht um den Versuch,
Standards von Wissenschaftlichkeit zu erfüllen, wie z. B. auch sich
mit eigenen Grenzen auseinanderzusetzen, aber eben auch wichtig! –
das methodische Vorgehen für Dritte transparent zu machen, ohne
jedoch die Spezifika der Psychoanalyse preiszugeben! Ebenso legt
eine so verstandene Forschung Wert darauf, den gesamten
Forschungsprozess kritisch zu reflektieren.
Einleitend setzt er sich mit wichtigen Forschungstraditionen
auseinander und entwickelt als Fazit für eine wissenschaftliche
Psychoanalyse einige Faustregeln empirischer Forschung, die eine
Bereitschaft zum interdisziplinären Dialog explizit einschließen.
Er kann sich dabei u.a. auf Martin Domes berufen, der sich in
seinem Artikel mit der mittlerweile schon legendären Debatte
zwischen André Green und Daniel Stern auseinandersetzt. Für mich
besonders interessant waren zwischen den Zeilen die
unterschiedlichen Persönlichkeiten von Green und Stern zu erspüren,
die ein Charisma unterschiedlicher Art besitzen. Green wirkt auf
mich wie ein phallisch-narzisstischer Kämpfer, der nach dem Motto
agiert »Angriff ist die beste Verteidigung«, und sich nicht scheut
seinen Gegner auch auf grobe Weise anzugreifen um Wirkung zu
erzielen. Stern hingegen »kommt gewissermaßen auf leisen Sohlen und
ist von einer liebenswürdigen, einladenden, nicht überwältigenden
Natur« (S. 152). Und – so Domes – eine weitere Sternsche Qualität,
der ich mich ausdrücklich anschließen kann: »Seine Stimme, ihre
Modulation, seine Körpersprache, alles Nonverbale an ihm ist von
einer beeindruckenden Musikalität... Stern ist einer der wenigen
Redner – vielleicht sogar der einzige, den ich kenne – dem es
gelingt, in Sprache zu fassen, was sich in Sprache letztlich nicht
vollständig fassen lässt: vorsprachliches Erleben« (ebend.).
Genau mit diesem vorsprachlichen Erleben setzen sich einige andere
Beiträge des Buches auseinander: »Körperliches Verhalten und das
interaktive Geschehen im psychotherapeutischen Behandlungszimmer«
(U. Streeck), »Klinische Emotions- und Interaktionsforschung« (E.
Bänninger-Huber), sowie Befunde zur Affektforschung, die auf das
Gegenwartsunbewusste als kleinstem gemeinsamen Nenner aller
Techniken hinauslaufen (R Krause). Die Gliederung des Buches in
»Grundpositionen der Debatte«, »Psychoanalytische
Experimentalforschung« (z. B. zu Widerstand und Verdrängung in
einem Beitrag von T. Köhler), »Psychoanalytische
Entwicklungsforschung« (mit einem Beitrag von P. Fonagy und M.
Target zur klinischen Relevanz der Entwicklungspsychopathologie)
sowie »Psychoanalytische Therapieforschung« lässt auf die Breite
der hier behandelten Themen schließen.
Fazit: Es freut mich, dass G. Poscheschnik sich offensichtlich mit
ähnlichen Wünschen, Fragen und Hoffnungen herumschlägt wie viele
Kolleginnen und Kollegen an der Schnittstelle von Psychoanalyse und
Körperpsychotherapie auch. Das Buch ist daher ihnen, sowie allen
Psychoanalytikern und Psychotherapeuten, die gerne über den eigenen
Tellerrand hinausblicken, wärmstens zu empfehlen.