Rezension zu Verletzte Seelen
Psychoanalytische Familientherapie
Rezension von Dirk K. Wolter
raumatisch bedingte psychische Störungen haben Konjunktur,
Traumatherapie ist »hip«. Die Herausgeber des vorliegenden Buches –
Seidler leitet die Sektion Psychotraumatologie der
Psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg, Eckart ist dort
Ordinarius für Medizingeschichte – fühlen sich allerdings nicht als
Modemacher. Sie warnen vor einer »zu vorschnellen« Theorie- und
damit Dogmenbildung, durch die die Chancen des noch jungen Fachs,
»zu einem neuen Paradigma für die Psychosomatische Medizin« zu
werden, verspielt werden können (S. 36).
Das Buch stellt die Frage nach dem historischen Kontext in
mehrfacher Weise: Warum entstand die Psychotraumatologie als
Disziplin erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, obwohl
die in ihr thematisierte Realität schon sehr alt ist? Und
umgekehrt: Welche Auswirkungen hatte es z. B. für die deutsche
Nachkriegsgeschichte, »dass es – wahrscheinlich – Mitte 1945 eine
Unzahl psychisch traumatisierter Menschen in Deutschland gab«?
Selbstverständlich muss diese Frage auch gestellt werden für andere
Epochen und Regionen, etwa den Dreißigjährigen Krieg. »Sind
Kulturen und einzelne kulturelle Phänomene vielleicht in einem viel
stärkeren Ausmaß, als es manchem verträglich ist, dieses zu
akzeptieren, mitunter auch als kollektive Bewältigungsformen
individuell erlittener Gewalt verstehbar zu machen? Was sind die
Transmissionsvorgänge zwischen individuellen Gewalterfahrungen und
kulturell geronnenen Phänomenen?« (S. 38).
Spannend sind die verschiedenen Beiträge zur Entstehung und
Wandlung des Traumabegriffes in der Medizin, instruktiv, teilweise
aber auch beschämend, was der emeritierte Göttinger
Psychiatrie-Ordinarius Venziaff zur Geschichte der Traumatherapie
aus seiner eigenen Erinnerung zusammenträgt (z. B. dass eine
unwissenschaftliche Polemik des NS-Reichsarbeitsministriums 1953 in
der Schriftenreihe des Bundesarbeitsministeriums wieder aufgelegt
wurde). Außerdem geht es um die Traumatisierung von Kindern in den
Kriegen der Gegenwart und das Vergewaltigungstrauma und das Problem
der Glaubwürdigkeit, aber auch um kollektive Reaktionen am Beispiel
des 11. September sowie um Zusammenhänge von kollektivem Trauma und
kollektiver Identität am Beispiel der Serben und des Serbenführers
Milosevic.
Kern der Psychotraumatologie ist für Seidler, dass ein einzelnes
Ereignis einen Menschen zerstören, zumindest aber »wesentlich«
verändern kann. Damit ist ein fundamentaler Widerspruch formuliert
zu herkömmlichen Konzepten überdauernder psychischer Strukturen;
Seidler kritisiert aber auch die Psychoanalyse, obwohl diese die
Psychotraumatologie wesentlich befördert hat, er wirft ihr vor,
»dass im Rahmen eines herkömmlichen psychoanalytischen Ansatzes
alles, was von außen auf das Subjekt einwirkt, unmittelbar in eine
ihm unterstellte Wunsch(oder Trieb- oder Antriebs-) Dynamik
übersetzt wird», woraus die Frage nachdem »eigenen Anteil» am
Geschehen folgt. Der Psychoanalytiker Seidler brandmarkt die
Psychoanalyse als »Täterpsychologie par excellence», denn sie
ignoriere, dass Menschen jenseits aller Psychodynamik bloßes Objekt
anderer Menschen, aber auch Spielball von traumatisierenden
Großereignissen sein können, »dass Menschen Widerfahrnissen
ausgesetzt sind, die ob ihrer Ungeheuerlichkeit keine Repräsentanz
im vorher bestehenden Wunschsystem aufweisen können». (S. 20ff.,
28ff.)
Das Buch wirft eine Reihe von äußerst wichtigen und z.T. brisanten
Fragen auf, z. B. die nach den »Grenzen der Behandelbarkeit«, die
»in allen Bereichen der Medizin gern ausgeklammert« wird zugunsten
einer »Illusion der All-Heilbarkeit« (S. 33f). Diese »praktischen«
Fragen stehen allerdings nicht im Zentrum des Buches. Schwerpunkt
ist vielmehr, wie Kultur bzw. Gesellschaft (die Medizin als Teil
davon) das individuelle Erleben von Traumatisierungen zur Kenntnis
nimmt und bearbeitet. Einige Beiträge fallen hierbei sehr
geisteswissenschaftlich-theoretisch aus (Erwartungsangst und
Schmerzgewissheit. Traumatische Aspekte im Werk von E. Jünger und
Zur dissoziativen Intellektualität in der Nachkriegszeit)
Gleichwohl ist das Buch als Propädeutik allen
PsychotherapiePraktikern dringend zu empfehlen, die sich an die
Psychotraumatologie heranwagen wollen: damit Traumatherapie nicht
zur Modeerscheinung verkommt! Schade nur, dass man entgegen allen
üblichen Gepflogenheiten nichts über die Autoren erfährt.