Rezension zu Scheitern und Biographie
Psychotherapie im Alter 2/2006
Rezension von Dirk K. Wolter
Warum interessiert sich ein Gerontopsychiater für ein Buch über
»Scheitern und Biographie«? Wir in den Gero-Disziplinen reden
derzeit viel über Euthanasie und Sterbehilfe, die »Vergreisung der
Gesellschaft« und die Generationengerechtigkeit, über die
Rationierung von Gesundheitsleistungen, die Missstände in
Pflegeheimen und die Heraufsetzung des Rentenalters. Mit etlichen
Jahr(zehnt)en Verspätung reden wir auch über die Auswirkungen der
Traumatisierungen durch den 2. Weltkrieg.
Wir tun das in einer von Massenarbeitslosigkeit gekennzeichneten
Gesellschaft, deren Krankenstand so niedrig ist wie noch nie. Wir
machen uns Gedanken darüber, welche Auswirkungen die
Massenarbeitslosigkeit auf die materielle Altersabsicherung der
künftigen Seniorengenerationen haben wird und sehen eine neue
Altersarmut kommen.
Doch es geht nicht nur um diese volkswirtschaftliche Dimension.
»Ihr habt wunderbare soziale Sicherungssysteme für das Alter. Aber
ihr habt das Wesen des Alters noch nicht begriffen« – so eine
Kritik aus Schwarzafrika an unserem Sozialwesen, ausgesprochen im
Rahmen der Arbeiten am UN-Altenbericht (nach Andreas Kruse). Das
Wesen des Alters. Wozu ist das Alter da? Wozu sind die alten
Menschen da? Wo ist der Sinn?
Wenn da niemand mehr ist, der auf einen wartet, und wenn da nichts
mehr ist, was von einem erwartet wird, dann ist man sozial tot,
sagt sinngemäß der bekannte Schweizer Psychotherapeut Jürg Willi.
Insofern hat Arbeitslosigkeit (und schon das Gefühl, von
Arbeitslosigkeit bedroht zu sein) neben den unmittelbaren und
zukünftigen materiellen Konsequenzen und neben einer elementaren
Verunsicherung (die eine der Ursachen für die niedrige Geburtenrate
hierzulande darstellt – ein Teil des demographischen
Problemkomplexes) auch Auswirkungen auf das Selbsterleben und das
Selbstwertgefühl. Vergleichbare Auswirkungen hat sicherlich auch
eine erzwungene Frühberentung. Hier schließt sich erneut der Kreis
zur Gerontopsychiatrie: Erleben wir nicht immer wieder, wie in
psychiatrischen Institutionen ältere Berufskollegen, die das
heutige Tempo nicht mehr mithalten können, die nicht »modern« genug
denken, hinausgedrängt werden? Können wir sie wirklich nicht mehr
gebrauchen? Gehören sie wirklich schon zum »alten Eisen«, sind sie
gescheitert?
Grund genug also, sich mit dem Thema Scheitern zu beschäftigen.
Weniger vielleicht für unsere heutigen Patienten, auf jeden Fall
für die künftigen.
Und für uns selbst – weil immer mehr neue gesellschaftliche Gruppen
vom »postmodernen« Scheitern bedroht sind, weil Scheitern auf
Sicht- und Hörweite an Biographien herangerückt ist, die infolge
ihrer hohen Qualifikation, Motivation und Flexibilität bislang
zumindest offiziell als Erfolg versprechend galten (...) Und es
sind nicht allein die Dichter und Denker der philosophischen
Fakultäten, für die morsche Stellen in den Böden des Elfenbeinturms
zu biographischen Fallen werden, sondern auch (...) Betriebswirte,
Juristen und Mediziner. (S. 13)
Über Scheitern wird zunehmend geredet – in einem
sozial-geisteswissenschaftlichen Sammelband formuliert man das
natürlich anders, nämlich dass Scheitern zu einem Thema
gesellschaftlicher Diskurse geworden ist. Dass diese Diskurse
keineswegs nur akademische sind, zeigen die vor Lebenskraft und
Kreativität (fast anarchisch) strotzenden Beispiele der Show des
Scheiterns und des Clubs der polnischen Versager in der
Avantgarde-Stadt Berlin (S. 265ff). Scheitern als das große Tabu
der Moderne wird bislang weitgehend gleichgesetzt mit dem Verlust
von Erwerbstätigkeit und materiellem Besitz sowie dem Statusverlust
in der Öffentlichkeit (S. 12ff), es ist in dieser Form ein
überwiegend männliches Thema. Heute aber geht es immer weniger um
die lebenslange Identifizierung mit einem Beruf – zentrales
Kriterium für ein »gelungenes Leben« im 19. und anfangs auch im 20.
Jahrhundert-, stattdessen sind diskontinuierliche und damit prekäre
Berufsbiographien – bisher eher Kennzeichen weiblicher
Erwerbstätigkeit zunehmend die Regel (S. 270 ff).
Anhand bekannter historischer Personen (z.B. Marx, Meister im
Nichtvollenden, S. 67), aber auch anhand heutiger Beispiele, z.T.
mit eigener Betroffenheit der Autoren (Wissenschaftler scheitern
(nicht), S. 107ff, Erfolg und Scheitern im »fremden Osten«, S.
127ff oder Scheitern und Kreativität, S. 237ff) und literarischer
Vorlagen (z.B. Kästners Fabian und Regeners Herr Lehmann, S. 255ff)
wird die Thematik beleuchtet. Die Frage Gescheiterte Männer? wird
zugespitzt gestellt am Beispiel der Gefangennahme im 1. Weltkrieg
(S. 179ff) und des Bruchs der idealtypischen Männlichkeit unter
amerikanischer Besatzung nach dem 2. Weltkrieg (S. 191ff), aber
auch anhand des Umgehens mit Scheitern, Schuld und Versagen am
Beispiel der jugendbewegten »Jahrhundertgeneration« (S. 165ff). In
einem Gespräch mit dem amerikanischen Germanisten und Historiker
Sander L. Gilman wird der Frage von Scheitern in Literatur und
Kultur der USA nachgegangen (S. 207ff).
Das Buch will nach der Wirkung fragen, die Scheitern auf Menschen
hat, wobei sich allerdings das historisch-soziologische Interesse
und die Sichtweise von der psychiatrisch-psychotherapeutischen
etwas unterscheiden. Doch ein Grundgedanke verbindet beide
Perspektiven: Biographisches Scheitern isoliert den Menschen; die
Möglichkeit, durch ein »Sprechen« über Scheitern (...) seine
Erfahrungen zu verarbeiten und sich hierdurch die eigene Biographie
erneut anzueignen, entscheidet darüber, ob Scheitern zu einem
lebenslangen biographischen Problem wird oder nicht. (S. 13f).
Konsequent ist dann die Frage, ob man Scheitern lernen (S. 221ff)
kann. Der so betitelte Buchbeitrag kann diese Frage allerdings
nicht klar beantworten (da helfen auch der Hinweis auf die
Bemühungen der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft etwa in Form
des Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiels oder der Verweis auf das
Scheitern als Lebensform bei Karl Valentin nicht wirklich
weiter...); am Beispiel des Märchens vom Hans im Glück wird
allerdings die Janusköpfigkeit von Erfolg bzw. Scheitern gezeigt:
So lässt sich ahnen, dass, was manchem als Glück erscheint,
Scheitern bedeuten kann und umgekehrt, dass äußeres Glück innerlich
frei machen kann, ja die psychische Falle, in die Hans im Glück
geht, zeigt sogar schon ein drittes an: dass diese innere Befreiung
von der Last des Goldes ein Scheitern der Adoleszenz bedeutet. (S.
228) Eine Perspektive kann vielleicht das Schlusskapitel aufzeigen
mit der impliziten Aufforderung, gewissermaßen aus der Not die
Tugend zu machen, indem man Abschied von einem Lebensentwurf nimmt,
der auf berufliches Vorwärtskommen und berufliche Anerkennung
ausgerichtet ist (S. 278): Der »organization man« als
»gescheitertes« und veraltertes Lebensmodell.(S. 272) Aber
natürlich stellt sich die Frage, welche Menschen und welche
gesellschaftlichen Schichten diesen Vorrang der
Selbstverwirklichung und weniger der ökonomischen Existenzsicherung
(S. 272) realisieren oder überhaupt nur bewusst antizipieren
können. Womit wir wieder bei Marx angelangt wären
Für mich (wie wohl für die meisten Psychiater und
Psychotherapeuten) ist das von Soziologen, Historikern und
Philosophen verfasste Buch zunächst etwas fremd, z.B. wenn im
Einführungskapitel das Sprechen über das Scheitern nicht im Sinne
unseres psychotherapeutischen Sprechens, sondern im Sine von
Wittgensteins Sprachspielen betrachtet wird. Das Buch ist auch
nicht genau das, was ich mir unter dem Titel Scheitern und
Biographie erhofft habe angesichts der o. a. Fragestellungen.
Doch diese Ent-Täuschung ist vielleicht gar nicht unnütz. Sie lenkt
das Denken in neue, ungewohnte Bahnen. Die Gerontopsychiatrie von
morgen wird eine andere sein als die von heute – nicht nur, weil
die gesundheits- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen sich
verändern, sondern auch, weil das Leiden unserer Patienten sich
wandelt, indem sie mit anderen Lebensumständen konfrontiert sind,
in anderen Lebensformen leben. Diesen Wandel aufzunehmen, helfen
Bücher wie das vorliegende. Sie helfen uns, wie gesagt, eher im
Umgang mit künftigen gerontopsychiatrischen Patienten. Aber auch im
Umgang mit heutigen gerontopsychiatrischen Patienten, indirekt,
indem sie uns verstehen helfen, unter welchen Bedingungen ihre
Kinder (die berühmten »Angehörigen«) leben.
Vielleicht kann man das Buch auch nehmen als Angebot zu einem
unkonventionellen Umgang mit der Zeit. Wir sind es doch gewohnt,
bei unseren alten Patienten von heute, von einer aktuellen
Symptomatik aus rückwärts zu denken: Was könnte dahin geführt
haben? Denken wir nun einmal von heute aus vorwärts: Welche
Ausdrucksformen könnte die Psyche (von Menschen z.B. des Jahrgangs
1975) später im Alter finden für die Auswirkungen, die das Leben in
einer Gesellschaft hat, in der die Möglichkeit des Scheiterns so
sehr an der Tagesordnung ist?
Mit einem etwas anderen unkonventionellen Zeit-Spiel beginnt ein
Beitrag über Erfahrungen des Scheiterns im Prozess der
Identitätsfindung: Der konvertierte ehemalige Rabbiner Christian
Salomon Duitsch und der jüdische Philosoph Salomon Maimon sitzen,
mit Hilfe einer Zeitmaschine aus dem 18. ins 21. Jahrhundert
katapultiert, zusammen im Kino und sehen sich den Film »Die
fabelhafte Welt der Amelie« an (5. 145) Zwischen beiden entzündet
sich ein heftiger Streit, als im Film der folgende Satz fällt, der
auch endlich diese (gelungene oder gescheiterte?) Rezension beenden
soll: Das menschliche Schicksal erfüllt sich im Scheitern, und von
Scheitern zu Scheitern gewöhnt man sich daran, dass man nie über
die Rohfassung hinauskommen wird.