Rezension zu Psychoanalyse und Politik
Psychoanalytische Familientherapie 7/2003
Rezension von Roland Kaufhold
Als Sigmund Freud 1910 mit einer kleinen Anzahl von Mitstreitern
die »Internationale Psychoanalytische Vereinigung« gegründet und
somit die organisatorischen Grundlagen für eine Ausbreitung seiner
beunruhigenden Erkenntnisse gelegt hatte, benannte er offen die
massiven Gegenkräfte, die sich seinen Bemühungen entgegenstellen
würden. Er betrachtete diese Gegenkräfte nicht als böswillig,
sondern als notwendig. Dementsprechend formulierte er: »Die
Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen.
Sie muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten
uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der
Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hatte«, um
anschließend mit »kühner Selbstsicherheit» (5. 19)
hinzuzufügen:
»Die einschneidendsten Wahrheiten werden endlich gehört und
anerkannt, nachdem die durch sie verletzten Interessen und die
durch sie geweckten Affekte sich ausgetobt haben. Es ist bisher
noch immer so gegangen, und die unerwünschten Wahrheiten, die wir
Psychoanalytiker der Welt zu geben haben, werden dasselbe Schicksal
finden. Nur wird es nicht sehr rasch geschehen; wir müssen warten
können.» (S. 19 f., Hervorhebung d. Verf.)
Horst-Eberhard Richter, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag
feierte, stellt diese Äußerung Freuds an den Ausgangspunkt seines
sehr lebendig geschriebenen Buches. Der Titel »Psychoanalyse und
Politik» verweist auf seine kulturkritische Intention. Er
unternimmt den weitgreifenden Versuch, sowohl historisch
verwurzelte als auch aktuell gesellschaftlich bedingte Tendenzen zu
eruieren, die uns zu bedenklichen, letztendlich tendenziell
entmündigenden Anpassungsleistungen an bestehende Verhältnisse
veranlassen. Seine Grundhaltung ist hierbei von Behutsamkeit
geprägt, gepaart mit ansteckendem Engagement.
Zum Inhalt: Die ersten Kapitel sind historisch orientiert. Von den
Studien Fallends, Reichmayrs, und Mühlleitners ausgehend entfaltet
Richter das emanzipatorische, sozialistisch orientierte Bemühen
zahlreicher Pioniere der Psychoanalyse sowie der Psychoanalytischen
Pädagogik. Diese wurden vor allem von Bernfeld, Reich, Simmel und
Fenichel vorangetrieben, »bis deren Aktivitäten unter der Bedrohung
und Verfolgung durch die Nazis vorläufig erstickt wurden« (S. 23).
Die Überschriften der ersten Kapitel entsprechen diesem
Ansatzpunkt: »Die Psychoanalyse muß die Gesellschaft
herausfordern«, »Versuche, die Psychoanalyse mit dem Sozialismus zu
verbinden«, »Zwei publizieren gegen Hitler – die anderen bleiben
stumm« und »Zugeständnisse bis hin zur Selbstverleugnung«. Richter
erinnert an die Bemühungen insbesondere in den 20er und 30er
Jahren, die Psychoanalyse mit dem Marxismus zu verbinden. Manche
kamen zur Psychoanalyse, weil diese ihnen als eine Ergänzung ihres
sozialreformerischen Engagements erschien. In einer gewissen Weise
teilte Freud dieses Engagement, was sich u. a. in seiner
Unterstützung von zwei pazifistischen Manifesten zeigte, in denen
die Abschaffung der Wehrpflicht gefordert wurde.
In »Zwei publizieren gegen Hitler- die anderen bleiben stumm«
erinnert Richter an zwei Autoren, die es nicht bei eher allgemein
bleibenden Bemühungen beließen, sondern die die Gefahr des
heraufriehenden Faschismus sehr bewusst erkannten und öffentlich
wissenschaftlich analysierten: Wilhelm Reich und Georg Simmel.
Simmel, dessen Schriften seit einigen Jahren wieder allgemein
zugänglich sind, veröffentlichte 1932 den mutigen
sozialpsychologischen Aufsatz »Nationalsozialismus und
Volksgesundheit«, in dem er schrieb:
»Die Hitler-Bewegung ist nun, psychologisch gesehen, eine
Wiederherstellung des Kriegszustandes für ihre Anhänger. Es
herrscht wieder absolute Befehlsgewalt des einen unverantwortlichen
Führers, der allen anderen die Verantwortung und damit ihre
Schuldgefühle abnimmt. Der Feind steht wieder außerhalb der
Gemeinschaft. Diesmal ist es der Jude, der Marxist, der
Andersdenkende – er ist das Ziel, in Wirklichkeit das Phantom für
die Abreaktion aggressiver kannibalischer Strebungen.» (S. 33)
Solche Studien erregten innerhalb der psychoanalytischen Zunft
bekanntlich keineswegs ungeteilte Freude. Sie stießen in Wien und
Berlin vielmehr »teils auf betretenes Schweigen, teils auf heftige
Ablehnung« (S. 36). Es kam zur Maßregelung Wilhelm Reichs, 1934 zum
Ausschluss.
Für Richter stellt der »Präzedenzfall Reich« (S. 40) einen
Wendepunkt in der Geschichte der Psychoanalyse dar, der zur
Marginalisierung gesellschaftskritischer Bestrebungen führte, deren
Folgewirkungen bis heute – wie Richter im Buch immer wieder
herauszuarbeiten sucht – nachweisbar sind.
Die reale gesellschaftliche Gewalt wurde damals von der Majorität
der Analytiker nicht »bearbeitet«, sondern mit einem
Diskussionsverbot belegt, tabuisiert. Es kam zu einer Anpassung an
den »Zeitgeist«, einer schleichenden Deformation des ehemals
selbstkritischen Impetus. Richter betont:
«Man warf den Mann hinaus, der offen und unmißverständlich
klarmachte, daß die Leitvorstellung einer durch Autoritätsgehorsam
gleichgeschalteten »Volks- und Rassengemeinschaft dem Menschenbild
der Psychoanalyse unversöhnlich gegenüberstand. (...) Nicht als
einer, der eine gefährliche Wahrheit publiziert hatte, sondern als
ein Abtrünniger wurde Reich eliminiert.« (S. 37f.)
Dass dies keineswegs eine »historische« Diskussion ist, hat sich
spätestens in den 8oerJahren gezeigt. Eine »offizielle«
Entschuldigung für den Hinauswurf Reichs, eine Rehabilitation
Wilhelm Reichs, habe es niemals gegeben (s. Fallend/Nitzschke
2002).
In dem Kapitel «Willy Brandt, Wilhelm Reich und die Psychoanalyse«
greift Richter dieses Thema erneut auf. Er schildert die Motive
seines Engagements für Willy Brandt Anfang der 70er Jahre. Richter
war beeindruckt von dessen Glaubwürdigkeit. Dieser berichtete ihm
einmal, dass er als begeisterter Zuhörer an Wilhelm Reichs
Seminaren während ihrer gemeinsamen Emigrationszeit in Oslo
teilgenommen habe. Dessen psychoanalytischen Deutungen des
Faschismus erschien Brandt als hochinteressant und überzeugend.
Richter schildert nun eine Szene, die seinen Versuch, Spuren der
progressiven Ursprünge der Psychoanalyse auch noch in der Gegenwart
glaubwürdig wirksam werden zu lassen, konkretisiert:
»Daß er übrigens, noch als Kanzler, nach einem sonntäglichen
Telefongespräch die schon gestrichenen Gelder für die
Psychiatrie-Reform Finanzminister Matthöfer doch noch abgerungen
hat, sei nur nebenbei erwähnt. So war Wilhelm Reich als eine Art
Katalysator am Ende doch noch indirekt an einer sinnvollen
gesundheitspolitischen Initiative in dem Land beteiligt, das ihn
vertrieben hatte. Es dürfte in seinem Sinne gewesen sein.« (S.
174)
Zurück zum chronologischen Aufbau des Buches. Richter erinnert an
das von Simmel organisierte Antisemitismus-Symposium 1944 in San
Francisco, wo einige vertriebene Psychoanalytiker und Soziologen
inmitten des Krieges noch einmal klarsichtige Analysen des
Antisemitismus vortrugen. Diese kulturkritische Tradition der
Psychoanalyse trat jedoch innerhalb der analytischen
Standesorganisationen immer mehr in den Hintergrund (s. Fisher
2003). Unter Bezugnahme insbesondere auf die Erfahrungen der
Emigranten Bruno Bettelheim, Ernst Federn und Rudolf Ekstein (s.
Federn 1999, Kaufhold 2001) mit der Psychoanalyse sowie der
Psychoanalytischen Pädagogik in den USA zeichnet er in
»Amerikanische Mißverständnisse», »Die Medizinalisierung der
Psychoanalyse» sowie »Der Untergang des Gründergeistes» sehr
eingängig und überzeugend den weiteren historischen Prozess der
Etablierung, aber eben auch der gesellschaftskritischen Entsagung
der Psychoanalyse in Deutschland und den USA nach. Richter
betont:
»Die Geschichte kennt unzählige Beispiele dafür, daß revolutionäre
geistige Bewegungen nicht nur erlahmen oder erstarren, sondern
schließlich Züge annehmen, die ihren ursprünglichen oder vielleicht
sogar nach wie vor verkündeten Absichten zuwiderlaufen. Das führt
zu Identitätskrisen, deren Verarbeitung um so weniger zu gelingen
pflegt, je hartnäckiger sie verleugnet werden.
Die Psychoanalyse ist in eine solche Krise hineingeraten,
vorbereitet durch das Zusammenwirken äußerer Verfolgung und innerer
Anpassung. Die Medizinalisierung war nur ein Symptom, nicht die
Ursache der Veränderung. Die Analytiker wurden braver, sie suchten
fir ihre Institute bravere Kandidaten aus. Leidenschaftlich
engagierte junge Leute vom Schlage eines Siegfried Bernfeld oder
eines Wilhelm Reich hätte man nach dem Kriege sicher nicht mehr
aufgenommen.« (S. 77)
In diesem Sinne stellt Richter bereits im Vorwort seines Buches
ernüchtert fest: »Viele Kollegen wünschen es eben nicht, außer der
Auseinandersetzung mit Kostenträgern und Berufsverbänden jemals
wieder in politische Konflikte verwickelt zu werden» (S. 13). Und:
»Von einer psychoanalytischen Bewegung kann man jedenfalls
schwerlich noch sprechen» (5. 10).
In einigen weiteren Kapiteln, etwa in »Eigene Suche nach
Orientierung«, zeichnet Richter die Entwicklung der Psychoanalyse
in der Bundesrepublik der Nachkriegsperiode nach, wie er sie selbst
erlebt hat. Danach folgen drei Kapitel über die »Wiedergeburt einer
politischen Psychoanalyse«. Richter porträtiert in knappen Zügen
das Leben und Werk von Alexander Mitscherlich, Marie Langer und
insbesondere Paul Parin sowie Goldy Parin-Matthey, welche er als
ermutigende Gegenkräfte gegen die beschriebene Entpolitisierung der
Psychoanalyse erlebt hat. So wie Bernfeld, Fenichel, Simmel und
Reich, aber auch Bettelheim, Federn und Ekstein für Horst-Eberhard
Richter historisch bedeutsame Persönlichkeiten sind, die die
kulturkritische Substanz der Psychoanalyse sowie der
Psychoanalytischen Pädagogik mitformuliert und authentisch gelebt
haben, so repräsentieren Mitscherlich, Langer sowie die Parins für
ihn den emanzipatorischen »Gründergeist« der Psychoanalyse. Richter
hebt hervor: »Alle vier hatten inmitten von Nazi- und
faschistischem Terror die Fähigkeit bewiesen, sich durch
Anpassungsverweigerung vor der Wehrlosigkeit gegenüber den
unbewußten Anpassungsmechanismen zu bewahren.« (S. 13) Und im
Kapitel »Unterschätzte Anpassungsmechanismen«, Parins (s.
Parin/Parin-Matthèy 2000) Studien entlehnt, hebt Richter
hervor:
»Mir imponierten sie durch ihre besondere politische
Standhaftigkeit, die ich in einem engen Zusammenhang mit einigen
ihrer wichtigsten psychoanalytischen Fragestellungen sehe. (...)
Selbst Widerständler bzw. Widerständlerin inmitten von Ohnmacht und
Anpassung, waren sie dafür prädestiniert, den großen Problemkreis
des unbewußten Konformismus zu bearbeiten.» (S. 141)
Für mich ansprechend ist Horst-Eberhard Richters Offenheit und
Ehrlichkeit. Er beschreibt seinen eigenen Entwicklungsprozess,
seine Suche nach einer sozialpolitischen Identität, die ihm, wie er
im Buch verschiedentlich durchschimmern lässt (S. 13, S. 199),
Feindschaft, Ächtung durch seine privilegierte Standesorganisation
einbrachte. So bemerkt Richter im Porträt Mitscherlichs:
»Was mich selbst von Mitscherlich trennte, war damals vor allem der
Abstand zu seinem gewaltigen Mut, sich nahezu pausenlos mit großen
Teilen der Ärztezunft und den konservativen Medien anzulegen. Es
sah manchmal so aus, als bereiteten ihm die vielen Schlachten mit
seinen Widersachern so etwas wie Genugtuung. Daß ich je bereit sein
würde, mir ähnliche Feindschaften zuzuziehen, erschien mir vor
dreißig Jahren noch als absolut unvorstellbar.» (S. 125)
In der zweiten Hälfte des Buches beschreibt Richter einige
exemplarische gesellschaftliche Felder sowie sozialpolitische
Streitthemen, in die er selbst handelnd und gestaltend involviert
war.
Historischer Ausgangspunkt für die sich schrittweise verändernden
gesellschaftlichen Diskussionen sind für Richter die Jahre der
Studentenbewegung. Dementsprechend leitet er diesen Themenbereich
mit dem Aufsatz »Der Beziehungskonflikt zwischen den
Antiautoritären und der Psychoanalyse» ein. Richter befand sich
damals beruflich in einer »Zwischenposition«. Er war der
Studentengeneration entwachsen, hatte in Gießen Führungspositionen
erlangt, vermochte jedoch innerlich noch eine Beziehung zur
rebellierenden Generation herzustellen. Er erkannte rasch, dass das
Thema der historisch gewachsenen Schuld an den »unbearbeiteten»
Verbrechen der Nazis einen wesentlichen Motor für die seinerzeit
scheinbar eruptiv aufbrechenden gesellschaftlichen Diskussionen
darstellte. Um so enttäuschter war er, dass gerade die
psychoanalytische Standeszunft, die sich eine methodisch betriebene
Selbstreflexion als Spezifikum ihrer Profession auf ihre Fahnen zu
schreiben berechtigt fühlt, sich betont distanziert gegenüber den
gesellschaftlichen Veränderungswünschen verhielt: »Es waren
Erfahrungen, die meinen schrittweisen Rückzug aus aktiver Mitarbeit
in Funktionen der Vereinigung einleiteten« (S. 160f.). Nach seiner
Erinnerung gelang es ihm und analytischen Kollegen in Gießen (s.
Wirth 2002), die aufbrechende Kritik nicht nur als bedrohlichen
Angriff, sondern als wachrüttelnde Anregung zur Bearbeitung eigener
verdrängter Anteile zu nutzen. Das Einmünden eines Teils der
kurzzeitigen revolutionären Stimmung in soziale Reformprojekte war
ganz in Richters Sinne:
»Als die Bewegung allmählich mehr und mehr ihren ideologischen
Fundamentalismus und ihren revolutionären Allmachtsanspruch verlor,
sich statt dessen konkreten Erneuerungsvorhaben zuwandte, gewann
ich vollends Anschluß an solche Initiativen. Dabei glaubte ich zu
erkennen, daß in den sozialen Projekten, in denen ich mit
Enthusiasmus mitwirkte, auch ein sinnvoller Teil von
Erinnerungsarbeit geleistet werden konnte.» (S. 161)
Die konkrete Ausformung dieser Arbeit mittels des »introspektiven
Konzeptes« (5. 162) beschreibt Richter anhand seiner knapp
zehnjährigen Arbeit in einer Obdachlosensiedlung, seiner Arbeit in
der Friedens- und Ökologiebewegung sowie seiner Begegnung mit einem
ehemaligen führenden Rechtsextremisten.
Die existentielle Bedeutung der menschlichen Destruktivität erwies
sich für Richter hierbei als zentrale Bestimmungsgröße. Aus
psychoanalytischer Sicht betont er immer wieder in Varianten:
»Soziale Destruktivität kommt nicht erst von fremden Mächten,
schlimmen Politikern oder falschen Ideologien, sondern noch zuvor
aus uns selbst. Also steckt sie auch in denen, die sie untersuchen.
Destruktivität läßt sich nicht wegschaffen, nur besserer Kontrolle
unterwerfen. Sie kann um so weniger Unheil anrichten, je wachsamer
man ihr nachspürt und sich mit ihr zuallererst in den eigenen
sozialen Zusammenhängen kritisch auseinandersetzt.» (5. 17)
Dies könnte auch als Motto über diesem Buch stehen.
Mein bleibender Eindruck von dieser neuen Studie Horst-Eberhard
Richters ist: Frei von moralisierendem Unterton erinnert uns dieser
»liebenswürdige und zurückhaltende Mensch« mit seinem
»illusionslose(m) Blick und seine(r) nie versagende(n) Hoffnung«
(Paul Parin, 1991) daran, was die Psychoanalyse sowie die
Psychoanalytische Pädagogik einmal waren und was sie immer noch
bewirken könnten – sofern die gesellschaftlichen Verhältnisse dies
zulassen und wir dies wirklich wollen.