Rezension zu Mathilde Freud

Psychoanalytische Familientherapie 8/2004

Rezension von Michael B. Buchholz

Die historische Beschäftigung mit der Person Freuds hat uns mit der Erscheinung wichtiger Biographien ein ausgezeichnetes Bild Freuds hinterlassen. Wir meinen, ihn als Person und als Wissenschaftler zu kennen, viele Detailfragen beschäftigen die Historiker der Psychoanalyse noch weiter. Zu dieser raren Spezies gehört der Autor dieses Buches, der sich bisher mit Schopenhauer und Nietzsche als Vorläufern Freuds kenntnisreich befasst hat. Jetzt liegt seine neue Studie vor, die uns Freud in einem ganz neuen Licht, als Familienvater, und damit aber auch seine Familie erschließt.

Gödde steht ein feines Material zur Verfügung, die Briefe von Freuds Tochter Mathilde, die diese von 1903-1910 mit ihrem Jugendfreund Eugen Pachmayr austauschte. Mathilde und Eugen hatten sich bereits 1901 in einem der Ferienaufenthalte der Freudfamilie am Thumsee kennengelernt, etwas später beginnt der briefliche Austausch. Er liest sich eine zeitlang wie der zwischen zwei jungen Leuten, die auf eine Verlobung zusteuern oder auch zugesteuert werden. Der Autor fügt immer wieder Material aus den kommentierenden Beobachtungen des Vaters ein.

Ein bürgerlicher Familienvater musste sich Gedanken um die Heiratspolitik mit seinen Töchtern machen, und so erfahren wir nicht nur etwas über die pubertäre und adoleszente Entwicklung einer jungen Frau um die Jahrhundertwende, sondern können auch einen intimen Blick in eine großbürgerliche Familie werfen. Dazu gehört eine zweite historische Quelle, die Gödde erschließen konnte. In ihrem »Concert- und Theatermerkbüchlein« hielt Mathilde, teils mit kleinen Kommentierungen fest, welche Stücke gegeben wurden (insgesamt nahezu 200!), was ihr zusagte und was nicht, welche Schauspieler sie beeindruckten – kurz, welch ungemeiner Bildungshorizont ihr erschlossen wurde. Drei bis vier Theaterbesuche wöchentlich standen in einer Welt ohne TV und PC nicht selten auf dem Programm höherer Töchter.

Nicht allein diese allgemein interessanten Aspekte machen das Buch reizvoll. Es sind vielmehr auch die individuellen, die sehr persönlichen Seiten, die Gödde uns zeigt. Als Eugen Pachmayr seiner Freundin mitteilt, dass er eine Ehe mit Regine Steinhaus ins Auge fasst, hat Mathilde so etwas wie Liebeskummer; es ist nicht ganz klar, denn an manchen Lektürestellen meinte man auch schon vorher, auch auf ihrer Seite nachlassendes Interesse zu verspüren.

Aber hier mischt sich nun der Vater mit sehr warmherzigen Zeilen ein, die hier zitiert seien, um einen Eindruck von der Tonlage zu vermitteln: »Du knüpfest wahrscheinlich an den gegenwärtigen unzureichenden Anlaß eine alte Sorge, von der ich gerne einmal mit Dir sprechen wollte. Ich ahnte längst, daß Du bei all Deiner sonstigen Vernünftigkeit Dich kränkst, nicht schön genug zu sein und darum keinem Mann zu gefallen. Ich habe lächelnd zugeschaut, weil Du mir erstens schön genug schienst, und weil ich zweitens weiß, daß in Wirklichkeit längst nicht mehr die Formenschönheit über das Schicksal des Mädchens entscheidet, sondern der Eindruck ihrer Persönlichkeit
Deine Erinnerung wird Dir bestätigen, daß Du Dir noch in jedem Kreis von Menschen Respekt und Einfluß erobert hast. Somit war ich über Deine Zukunft, soweit sie von Dir abhängt, beruhigt, und Du kannst es auch sein
Es täte mir schrecklich leid, wenn Du Dich mit Deiner Verzagtheit auf einen anderen Weg begeben würdest, aber es ist hoffentlich nur ein flüchtiger Anfall in einer Situation, zu welcher vielerlei zusammengetroffen ist.«

Jedes Wort dieser brieflichen väterlich-therapeutischen Operation zur Behandlung von Mathildes Liebeskummer stimmt. Freud hat nicht »beobachtet«, was eine objektivierend-wissenschaftliche Ausdrucksweise wäre, er hat vielmehr »lächelnd zugeschaut«; und mit dieser Formulierung vermeidet er die neue Kränkung, die »Beobachtet-Werden« für seine Tochter bedeutet hätte. Er stellt fest, dass er beruhigt sein könne und fügt dann an: »Du kannst es auch sein«, und das geschieht in einer Weise, die Mathilde ihre Sorgen nicht ausredet, sondern ihr anbietet, an seiner größeren Gelassenheit teilzuhaben. Mit ästhetischem Feingefühl reguliert Freud den angeschlagenen Narzissmus seiner Tochter, und deswegen spricht uns dieser Brief heute noch an. Man meint zu spüren, wie Freud seine Tochter aus der Kränkung auf ein höheres psychisches Funktionsniveau emporzieht – nicht Formenschönheit entscheidet, sondern der Eindruck der Persönlichkeit. Daraus spricht Wärme und eine tiefe Verbundenheit.

Freud zeigt sich aber auch sonst in überraschender Weise. Am Thumsee kam es dazu, dass die beiden Freud-Söhne Ernst und Martin von Antisemiten beschimpft wurden. Als sie diesen gemeinsam mit ihrem Vater erneut begegneten und wieder beschimpft wurden, schwang Freud, wie Martin in einem Gedenkband erzählt, »seinen Stock und ging auf die feindliche Menge zu, die ihm den Weg freigab, ihm Durchgang gewährte und sich dann auflöste. Das war das letzte, was wir von diesen unangenehmen Fremden sahen.»

Das ist deshalb bedeutsam, weil Freud in der Traumdeutung eine ähnliche Szene erinnert, die er als Knabe von seinem Vater gehört hatte. Seinem Vater war von einem Antisemiten die Mütze heruntergeschlagen worden, und er sei angeherrscht worden: »Jud, runter vom Trottoir.» Der Knabe Sigmund fragte seinen Vater, was er denn getan habe, und erhielt die Antwort, er habe die Mütze aufgehoben. Der erwachsene Sigmund ergeht sich in der Traumdeutung dann darin, wie sehr ihn diese wenig heldenhafte Reaktion seines Vater gekränkt hat, und jetzt erfahren wir eine beinahe gleichlautende Szene aus der Zeit längst nach der Traumdeutung – aber Freud reagiert »heldenhaft». Man meint, die Wirkung der Selbstanalyse ebenso zu verspüren wie im zitierten Brief an Mathilde. Analyse kann sozialen Immunschutz gegen üble Diffamierungen gewähren, manchmal erleichtert sie etwas im Generationenverhältnis. Beide Male ist das mehr, als nur intellektuelle Einsichten zu vermitteln.

Wir aber sehen nicht nur Freud in überraschendem Licht, wir erfahren auch weit mehr über das Leben Mathildes über ihre Pubertät hinaus, über ihre Ehe mit Robert Hollitscher, den von Freud geschätzten Schwiegersohn. Beide nehmen das »Heinerle», den Sohn von Sophie Freud zu sich, als Sophie 1920 an der damaligen Grippe-Epidemie stirbt. Ihr Tod mag mit ein Anlass für Freuds Todestriebhypothese gewesen sein. Heinerle war Freuds Lieblingsenkel, sein früher Tod trotz Mathildes Obhut hat ihn enorm deprimiert. Mathilde aber kann sich aus den sozialen Beschränkungen, die einer jungen Frau damals auferlegt waren, lösen. Trotz vieler Bildungshemmnisse und trotz der Vertreibung durch die Nazis 1938 baut sie sich in der Londoner Fremde ein erfolgreiches Unternehmen in der Modebranche auf.

Für die dafür notwendigen Recherchen gebührt Gödde Anerkennung. Hier wie im ganzen Buch zeigt sich, was die Arbeit eines Historikers der Psychoanalyse vermag, wenn sie sorgfältig die Quellen respektiert. Der zurückhaltende Ton in der Bewertung dieser Quellen und ihre kenntnisreiche Einbettung in biographische und umfassendere Kontexte machen das Buch zu einer angenehmen Lektüre. Seine Besonderheit liegt darin, dass es zugleich über die Ursprünge der Psychoanalyse als auch über den Anfang des 20. Jahrhunderts aus einer besonderen Perspektive informiert, ein allgemeines Interesse befriedigt und zugleich das Typische einer sehr individuellen Erfahrung artikuliert. Es erinnert daran, was Psychoanalyse war, zum Ziel hat und vermag.

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