Rezension zu Mathilde Freud
psychosozial 2/2004
Rezension von Bernd Nitzschke
Aus Günther Göddes Abhandlung über Mathilde Freud ist ein Buch
geworden, wie es widersprüchlicher nicht sein könnte: Vorn, auf dem
Umschlag, ist ein Halbportrait (oder sollte ich besser sagen: ein
gehälftetes Portrait?) der ältesten Tochter Sigmund Freuds zu sehen
– und drinnen, im Buch, spielt der Vater eine Rolle als bessere
Hälfte. Im »Dokumentarischen Anhang« sind knapp sechzig »Briefe«
(und Postkarten) der Tochter versteckt, die sie zwischen 1903 und
1910 an den zwei Jahre älteren Eugen Pachmayr schrieb, den sie als
13jährige bei einem Familienurlaub am Thumsee (Bad Reichenhall)
kennen gelernt hatte. Außerdem sind dort »Selbstzeugnisse«
nachzulesen, womit ein »Concert- und Theater-Merkbüchlein« –
beziehungsweise ein »Haushaltungsbuch für den Geist und das ideale
Leben« – gemeint ist, in das Mathilde von 1899 bis 1909
stichpunktartig Kunst- und Bildungserlebnisse notierte. So wissen
wir nun, dass sie Gustav Kadelburgs »In Zivil« »furchtbar lustig«,
Gustav Kadelburgs »Familientag« hingegen »riesig lustig« fand. Den
Hauptteil des Buches aber macht ein über 200 Seiten langer
Schriftsatz aus (oder sollte ich besser sagen: eine Einleitung zum
Anhang?), der Göddes Belesenheit unter Beweis und alles in den
Schatten stellt, worüber er sonst noch schreibt: zum Beispiel über
Mathilde Freud.
Deren Geburtsdatum (16. Oktober 1887) wird in einer dem Anhang
vorauseilenden »Zeittafel« an siebter Stelle erwähnt. Die sechs
Einträge zuvor betreffen in erster Linie den Vater. Nun gut, es
hätte auch schlimmer kommen können: die »Zeittafel« hätte bei Adam
und Eva beginnen können. In rororo-Bildbiographien beginnt sie
beispielhaft – mit dem Geburtstag der Portraitierten. Dadurch wird
deren Zentralität unterstrichen. Bei Gödde setzt sich hingegen »die
Definitionsmacht des pater familias in der sozialen Konstruktion
von Wirklichkeit durch«, wie er an einer Stelle schreibt, an der er
Freuds patriarchale Attitüde gegenüber der Tochter kritisiert, ohne
zu bemerken, wie oft er sie selbst kopiert. Die Tochter ist auch
für ihn oft Vor-Wand. Dahinter verbirgt sich sein Interesse,
Mathildes Jugend-Briefe als »neue historische Quelle für die
Freud-Forschung« zu erschließen. Dieser Vor-Satz misslingt jedoch.
Denn die posierliche Schriftstücke offenbaren zwar viel vom
jugendlichen, in Ironie verpackten Weltschmerz der Tochter, aber
wenig über den Vater. Der sah Mathilde als »chronisch Invalide, die
sich wunderbar normal verhält« – und sie gab ihm auf ihre Weise
recht: von allen Freud-Kindern lebte sie am längsten.
Bis zur Aufbereitung durch Gödde lagerten Mathildes Briefe im Haus
der Nachkommen der Familie Pachmayr am Thumsee, in dem das Ehepaar
Freud vor hundert Jahren mit seinen Kindern Urlaub gemacht hat. Im
Anschluss daran dankten Oliver, Ernst, Sophie und Anna Freud Eugen
für all »die guten Sachen, die Du uns geschickt hast«. Und »Thilde«
fügte diesem Brief vom 12. September 1903 die Bemerkung hinzu, die
Sachen hätten »allseitig ausgezeichnet geschmeckt«. Als einziges
der Freud-Kinder siezt sie (an dieser Stelle und in allen folgenden
Briefen) Eugen. Das gehörte sich so fir eine gut erzogene junge
Dame – auch wenn sie erst 13 Jahre alt war. Eugen benimmt sich
ebenfalls korrekt. Bisweilen verhält er sich gar zu reserviert, so
dass Mathilde ihn drängen muss, rascher und häufiger zu antworten.
Ähnliche Klagelieder sind aus der Korrespondenz ihres Vaters mit
Wilhelm Fließ bekannt. Der Wunsch, im Briefpartner ein alter ego zu
finden, ist denn auch hier (bei der Tochter) wie dort (beim Vater)
zu spüren. Im Laufe der Zeit finden Mathilde und Eugen dann
zunehmend Halt aneinander. Schon im dritten Brief (vom 28.
September 1903) berichtet sie von ihrer großen Liebe zum Wiener
»Centralfriedhof«, den sie »wunderschön« findet, aber leider nicht
öfter und als Mädchen schon gar nicht allein besuchen kann. Er
vertraut er ihr daraufhin kleine Geheimnisse an – soll heißen:
alterstypische Kümmernisse, zum Beispiel Schüchternheit. Und sie
gesteht ihm weitere Leidenschaften, zum Beispiel Tanzen oder
Tennisspielen. Im Frühjahr 1907 besucht Eugen sie; er kommt im
»Hotel« Freud unter. 1908, kurz vor ihrer Verlobung mit Robert
Hollitscher, den sie zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren
keimt, erwidert Mathilde den Besuch. Sie kommt nach München, wo
Eugen zuhause ist. Den letzten (erhaltenen) Brief schreibt sie ihm
aus einem »Sanatorium, wo ich zur Abwechslung wieder einmal
operiert worden bin« (16. April 1910).
Eugen ist jetzt mit Regine Steinhaus verlobt, die er (mindestens)
seit Sommer 1908 kennt. Sie stammt aus einer in Wien ansässigen
jüdischen Familie. 1913 heiraten die beiden. Zu diesem Anlass
erhalten sie Post aus San Martino di Castrozza: Freuds Ehefrau
Martha übermittelt die »herzlichsten Glückwünsche«. Und damit ließe
sich der Kreis schließen, der von einem Urlaubsort (in den Alpen
1903) bis zum anderen Urlaubsort (in den Dolomiten (1910),
beziehungsweise vom »Centralfriedhof« bis zum »Sanatorium« reicht,
gäbe es da nicht noch eine Bemerkung, die nach einem Kommentar
verlangt. Gödde schreibt: »Legt man allein die Jugendbriefe
Mathildes zugrunde, so kann man schwerlich beurteilen, wie weit
ihre auf Eugen bezogenen Liebesgefühle und Heiratsphantasien
gingen.« Richtig! Ich will dennoch ein Urteil wagen: Von
»Liebesgefühlen« in Bezug auf Eugen ist, im herkömmlichen
(erotischen) Sinn verstanden, in Mathildes Briefen keine Rede. Gut,
ich weiß, es gilt (unter Psychoanalytikern als ausgemacht), dass es
sie doch irgendwo (im Unbewussten?!) und irgendwie (abgewehrt?!)
gegeben haben muss. In den Briefen sind auch keine
»Heiratsphantasien« in Bezug auf Eugen zu finden. Das ist aber
wiederum kein Grund, an deren Existenz zu zweifeln. Sie könnten ja
irgendwie durch irgendwen überliefert worden sein.
Richtig! Gödde weiß vom Hörensagen, nämlich von einem Neffen
Mathildes (Anton Walter Freud), ja sogar von Eugen Pachmayrs Söhnen
aus der (geschiedenen) Ehe mit Regine, die es ihrerseits gehört
haben: Mathilde Freud wollte Eugen Pachmayr heiraten! Dieser Plan
scheiterte – am Einspruch des Vaters. Das nennt man »oral history«
und damit ist der Vor-Satz eingelöst, mit Hilfe der Analyse der
Briefe der Tochter einen gewichtigen Beitrag zur
Forschungsliteratur über den Vater geliefert zu haben. Doch schon
Freud wusste, dass sich in mündlicher Überlieferung Fakten und
Fiktionen in recht wunderlicher Weise mischen, sodass sie, wenn
überhaupt, nur unter Mühen voneinander zu trennen wären.
Was aber hat Freud nicht alles für seine Älteste getan! Lesen wir
weiter bei Gödde: »Wenn sich Sigmund Freud gegen Eugen Pachmayr als
künftigen Schwiegersohn ausgesprochen hat, so lag das maßgeblich
daran, dass dieser kein Jude war. Der Kontakt zu Nichtjuden war für
die Freuds als typisch jüdischer Familie die große Ausnahme und
entwickelte sich erst im Rahmen der expandierenden
psychoanalytischen Bewegung.« Nun gut: Wann war C. G. Jung erstmals
bei Freud zu Gast? Wann kam Eugen Pachmayr nach Wien? Und was heißt
hier überhaupt »typisch jüdisch«? Liegt dieser Phrase eine »typisch
deutsche« Phantasie zugrunde? Oder um die Frage ironisch noch
einmal zu stellen: Warum sollte Freud, der assimilierte Jude, der
im Urlaub so gern Trachtenanzüge trug, dem Gedanken abgeneigt
gewesen sein, seine Tochter könnte künftig Pachmayr heißen?
Warum also hatte Vater Freud nicht interveniert, als seine Tochter
den angeblich künftigen und angeblich so unerwünschten
nicht-jüdischen Schwiegersohn in der Berggasse einquartierte?
Verfolgte er schon damals eine Strategie von »shock and awe«? Der
Erfolg hätte ihm Recht gegeben. Nach der Abreise schrieb Mathilde
an Eugen: »Lieber Freund, Sie sind ein ganz merkwürdiger Kauz
(...).«
Gelegentlich sorgte sich Mathilde auch, »nicht schön genug zu sein
und darum keinem Mann zu gefallen«, wie es in einem Brief des
Vaters (vom 26. 3. 1908) an die Tochter heißt, in dem er sie mit
den Worten zu trösten versucht: »Der Spiegel wird Dich belehren,
daß nichts Gemeines oder Abschreckendes in Deinen Zügen liegt, und
Deine Erinnerung wird Dir bestätigen, daß Du Dir noch in jedem
Kreis von Menschen Respekt und Einfluß erobert hast.« So war es
wohl auch im Wald von Lavarone, in dem Mathilde 1906 einem
schneidigen Infanterieoffizier begegnete. Der sah das Mädel und
setzte alle Armeeregeln außer Kraft, als er »seine Männer rasch in
Hab-Acht-Stellung rief und >Augen rechts< kommandierte, als
der Zug an ihr vorbeikam«. So steht es im Erinnerungsbuch ihres
Bruders (Martin Freud: »Mein Vater Sigmund Freud«, 1999), in dem es
weiter heißt, Vater Freud habe den »jungen Offizier« (den er zuvor
hoffentlich nach seiner Religions- und Volkszugehörigkeit gefragt
hatte!) zu »gemeinsamen Mahlzeiten ins Hotel du Lac« eingeladen, wo
die Familie in jenem Jahr Urlaub machte.
Sigmund Freud war bisweilen also ein origineller Vater. Göddes
Nacherzählung bekannter Fakten und Fiktionen aus der
Freud-Biographie ist hingegen auf weiten Strecken konventionell. So
wiederholt er- zum Beispiel – noch einmal die (längst widerlegte)
Mär, Freud habe 1885 die Gesellschaft der Ärzte in Wien mit der
Neuigkeit geschockt, Hysterie gebe es auch bei Männern. Freud sei
deshalb »bei den lokalen Autoritäten auf Skepsis und Ablehnung«
gestoßen – schreibt Gödde. Die Wiener Ärzte, in deren Kliniken
damals längst Fälle von männlicher Hysterie behandelt und
beschrieben worden waren, hatten Freud jedoch vor allem
vorgeworfen, er habe wenig Neues berichtet.
Die Methode, Altbekanntes neu zu verpacken, beherrscht auch Gödde.
So lesen wir bei ihm über Freuds Praxiseröffnung beispielsweise:
»Im April 1886 gab er in den Tageszeitungen und medizinischen
Zeitschriften die Eröffnung seiner Privatpraxis bekannt. Die
Anzeige lautete: >Dr. Sigmund Freud, Dozent fir Neuropathologie
an der Universität Wien, ist von einem sechsmonatigen Aufenthalt in
Paris zurückgekehrt und ordiniert jetzt Rathausstraße 7<.«.
Dankenswerterweise teilt Gödde in einer Anmerkung auch noch mit, wo
die Original-Formulierung zu finden ist: in der Freud-Biographie
von Jones (1962, Bd. 1, 5. 175). Anders als Gödde nennt Jones an
dieser Stelle aber auch noch wenigstens eine der »Tageszeitungen«,
in denen Freuds »Anzeige« erschienen sein soll. Für das Inserat in
der Neue Freie Presse habe Freud »20 Gulden« bezahlt – behauptet
Jones. Unter dem Datum vom 24. April 1886 ist dort in der Rubrik
»Kleine Chronik« jedoch nur eine (kostenpflichtige?) Nachricht zu
lesen. Sie lautet: »Herr Dr. Sigmund Freud, Docent fir
Nervenkrankheiten an der Universität, ist von seiner Studienreise
nach Paris und Berlin zurückgekehrt und ordinirt I., Rathausstraße
Nr. 7, von 1 bis 2 Uhr.« Sehr ähnlich klingt die Meldung, die in
den »medizinischen Zeitschriften« erschienen ist sprich: in der
Wiener Medizinischen Wochenschrift (Bd. 36, S. 666). Aus diesen
beiden Meldungen hat Jones (wahrscheinlich) die eine (oben
zitierte) »Anzeige« kombiniert, deren Text Gödde als unhinterfragte
Tatsache weitergibt Traditionspflege, wie sie für eine bestimmte
Art von Freud-Literatur symptomatisch ist.
Zuletzt gibt Gödde auch noch eine Antwort auf die »zentrale Frage«
seines Buches, nämlich »inwieweit dieses Frauenschicksal für viele
Frauen ihrer (Mathildes – B. N.) Zeit repräsentativ sein musste«.
Viele Frauen – welche Frauen? Gödde beantwortet auch diese Frage
so, wie er sie gestellt hat: suggestiv. Mathilde Freud sei nach dem
»Höhere-Töchter-Modell« erzogen worden. Deshalb sei sie das Opfer
der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung geworden, »wie sie für
das jüdische Bürgertum der Jahrhundertwende typisch war«. Deshalb
habe sie keine Berufsausbildung erhalten. Deshalb habe sie kein
Studium absolviert. Deshalb habe sie nicht »an einer Frauengruppe«
teilgenommen. Arme Mathilde! Noch nicht einmal unter ihresgleichen
konnte sie sich vom Einfluss des Vaters befreien. Im Text des
Buches hatte Gödde diesem Fazit seiner Untersuchung allerdings
schon widersprochen, als er eine Äußerung Mathildes zitierte, in
der sie darlegt, sie sei durch vielfältige Erkrankungen gehindert
worden, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Von »einer
Frauengruppe« spricht sie an dieser Stelle erst gar nicht.
Stattdessen wurde sie Teilhaberin eines Modegeschäfts in Wien und –
später, nach ihrer Emigration – in London. Schließlich gab sie die
Briefe ihres Vaters mit heraus.