Rezension zu »Mit den Mitteln der Psychoanalyse …« (PDF-E-Book)
Journal für Psychoanalyse 1/2003
Rezension von Johann Schülein
Dieser Band schildert, reflektiert und dokumentiert die Geschichte
bzw. viele Geschichten von verschiedenen Themen, die allerdings eng
verflochten sind. Da ist zunächst ein stabiles, wenngleich nicht
unbedingt konventionelles linkes Selbstverständnis und politisches
Engagement. Es hat deutliche mediterrane Wurzeln, bezieht sich auf
klassische Topoi linker Politik (»Organisationsfrage«), ist aber
genauso tief geprägt von den Erfahrungen und Zielen der Jahre
1968ff. Zugleich geht es um ein Stück Geschichte der Psychoanalyse
sozusagen in voller Breite – um Schwächen und (ideologische)
Einseitigkeiten der Theorie, sklerotisierte Institutionen,
Opposition und Autonomie, den Kampf um Anerkennung in der
Öffentlichkeit, speziell in der Medizin (und insbesondere seitens
der Krankenkassen). Es geht um Therapie: Um die Möglichkeiten
psychoanalytischer Praxis, Leistungen und Grenzen traditioneller
Formen und möglicher Alternativen. Und, last not least, um die
Selbstreflexion von exzentrischen Formen des Lebens mit Gegnern,
Freunden, Mitstreitern, Umwelt; um politisches Selbstverständnis
mit großen Zielen und (teils recht heftigen) Erfahrungen.
Kurz: Es geht um eine Züricher Institution. Es gibt sie seit mehr
als zwanzig Jahren. Sie hat und hatte – wahrscheinlich wegen der
Heterogenität des Ganzen – viele verschiedene Namen: Plattform,
Psychoanalytisches Seminar Zürich, Stiftung für Psychoanalyse und
Psychotherapie, Praxisgruppe, Projektgruppe, Projekt Kritische
Psychoanalyse. Auf dem Buch steht der Name Emilio Modena. Und das
zu Recht – er ist die Seele des Ganzen. Er ist es auch, der den
Band zusammengestellt und die meisten Beiträge geliefert hat.
Unterteilt hat er den Band in 5 Teile. Der erste heißt
»Wahlverwandtschaften: Zum geistigen Umfeld der Stiftung« und lässt
vor allem Vorbilder und Freunde zu Wort kommen. Der zweite lautet:
»Mit den Mitteln der Psychoanalyse: Subjektivität und
Klassenkampf«. Er enthält eine Reihe von Texten zu den empirischen
Forschungen der Stiftung und einige methodologische Überlegungen
zum empirischen Verfahren. Im dritten geht es um »Die Erfindung und
Durchsetzung der delegierten Psychotherapie in der Schweiz«. Mit
Vergnügen wird dargestellt, wie es gelang, durch Nutzung der
Gesetzeslage neue Arbeitsmöglichkeiten für Psychotherapeuten zu
schaffen. Im vierten geht es »Zurück zu den Wurzeln:
Psychoanalytische Theorie und Praxis« umkreisen teils enger, teils
weiter linke und psychoanalytische Politik. Im letzten Teil sind
Dokumente der Stiftung und ihrer Projekte abgedruckt.
Ein »Jubiläumsband« ist, aus Lesersicht, meist zwiespältig. Er
demonstriert Zuneigung und Anerkennung, andererseits ist es
gelegentlich nervtötend, wenn alles Mögliche (und Unmögliche)
zwischen Buchdeckel geklemmt wird. Manche Autoren möchten dabei
sein, aber sich keine zusätzliche Arbeit machen und greifen dann in
die Schublade. Auch dieser Band ist nicht frei von eher
improvisierten, nicht immer ganz neuen und letztlich disparaten
Texten. Schon deswegen macht es wenig Sinn, Text für Text zu
beschreiben. Ich greife daher einige Themen heraus und lasse andere
ganz beiseite. So etwa die interessanten Ausführungen und
Vorschläge zur Revision und Weiterentwicklung psychoanalytischer
Theorie – sie sind ein Kapitel für sich. ‑ Ein Herzstück des Bandes
ist das empirische Projekt »Subjektivität und Klassenkampf«. Es
handelt sich um den Versuch, mit Hilfe psychoanalytischer Konzepte
in der Form empirischer Sozialforschung Aufklärung darüber zu
gewinnen, »was denn eigentlich im Kopf und Herzen einer Arbeiterin
oder eines Arbeiters vorgeht, warum sie sich oft nicht so
verhalten, wie sie es gemäß der marxistischen Theorie eigentlich
sollten« (5. 291). Zu diesem Thema gibt es statt einer
einheitlichen Darstellung eine ganze Reihe von Annäherungen,
Verarbeitungen. Manches passt nicht zusammen, vieles blieb
unvollendet oder bricht ab. Dies ist kein Zufall. Denn die Texte
zeichnen über weite Strecken das Bild einer mühseligen Passion.
Schon der Kontakt mit dem Management der Firma, die sich zur
Kooperation bereit erklärt hatte, erwies sich als Unterfangen
voller Missverständnisse und doppelbödiger Interaktionen. Noch
schwieriger war es, den gewünschten Kontakt mit Arbeitern
herzustellen. Trotz ausdauernder Bemühungen meldeten sich gerade
mal 4 Interessenten. Diese vier »zwei rebellische 20-jährige
Maschinenmechaniker am Ende ihrer Lehrzeit, ein depressiver
40-jähriger Hubstapelfahrer kurz vor der Entlassung und ein
aufstrebender Kontrolleur/Vorarbeiter Ende 20« (5. 261) –
entsprachen kaum der Erwartung/Hoffnung der Forscher, sozusagen den
»Durchschnittsarbeiter« kennen zu lernen. Zudem erwies sich der
Kontakt mit den Probanden als schwierig: keiner machte alle
vorgesehenen Schritte des Forschungsmodells mit; alle stiegen
vorher aus und/oder erwiesen sich streckenweise als unkooperativ.
Man ging sich gegenseitig auf die Nerven, die Arbeiter waren ȟber
die Interviewführung ungehalten« (280), den Interviewern ist etwa
in einem Fall die »penetrante Identifikation mit dem
Unternehmerstandpunkt« (S. 280f) unangenehm. Gemeinsame Arbeit kam
nur punktuell zustande. Und am Ende der Untersuchung ergaben sich
kaum verallgemeinerungsfähige Befunde zum »Klassenbewusstsein« und
»Alltagsbewusstsein« der Arbeiter. Die Belastungen, die das Projekt
bedeutet, zeigt sich bei alle Beteiligten, die Manager bemühten
sich sichtlich irritiert, es in ihrem Weltbild unterzubringen und
den Nutzen des Ganzen zu erkennen; die »Beforschten« konnten sich
auf die ihnen fremde Welt der Therapie und der Wissenschaft nicht
richtig einstellen; den Forschern ging am Ende die Luft aus. Das
Projekt hinterließ daher prima vista Enttäuschungen auf allen
Seiten. – Ist es deshalb gescheitert? Keineswegs. Das Projekt ist
ein mutiges und risikofreudiges Beispiel moderner Sozialforschung
in Bereichen, die schwer zugänglich sind und von der
mainstream-Forschung eher gemieden werden. Dazu kommt, dass es im
Rahmen seines theoretischen Ausgangskonzepts dem Modell der
»grounded theory« folgt, also den Prozess der Forschung als
eigentliches Medium der Erkenntnis behandelt und präsentiert.
Dadurch – und vor allem durch den Einsatz psychoanalytischer
Methoden – wird vieles sichtbar, was sonst unsichtbar bleibt oder
retuschiert wird. Deutlich wird dadurch das komplexe Zusammenspiel
von subkulturellen Differenzen, Erwartungen, Problemen. Was sich
die Arbeiter vom Projekt versprochen hatten, wird nicht im
Einzelnen diskutiert, aber deutlich wird, dass es für sie die
Fortsetzung einer Geschichte von »enttäuschten Hoffnungen« (5. 264)
ist – suchten sie Hilfe und soziale Unterstützung und fanden statt
dessen eine fremde Welt des Denkens und Forschens? Die Enttäuschung
der Forschung wird deutlicher. Sie bekamen die projektive Seite
ihrer Bemühungen vor Augen geführt. »Wir haben es also mit zwei
Aus- einem Ab- und einem Aufsteiger zu tun. Welche Enttäuschung! Es
ist uns ganz offensichtlich nicht gelungen, den heiß ersehnten
›Normalarbeiter‹ in den Griff zu bekommen . ... Es wurde uns
bewusst, dass wir einer Idealisierung aufgesessen waren und unsere
Enttäuschung und die entsprechenden Schamgefühle ... dem
Zusammenbruch der Idealisierung (und der dahinter stehenden
Größenphantasien) entsprachen. Erschüttert wurde wieder einmal der
(unserer) Proletkult . ... Wir haben Proletarier gesucht ‑ und es
kamen Menschen.« (S. 262) Und sie erwiesen sich im Licht
psychoanalytischer Betrachtungsweise als problembeladene Menschen,
deren innere Konflikte im Zusammenspiel mit den Umweltbedingungen
keine lineare politische Gleichung ergaben.
Enttäuschungen sind jedoch auch ein Ergebnis – vielleicht sogar
wichtiger als Bestätigungen. Man lernt, die Dinge genauer und
realistischer zusehen, was immer ein Vorteil ist. Auch methodisch
bleibt ein Gewinn. Man sieht, dass das Modell psychoanalytischer
Sozialforschung trotz des empirischen Scheiterns systematisch seine
Qualitäten beweisen kann. Der Weg, den die Projektgruppe gegangen
ist, ist in mancher Hinsicht extrem aufwändig und belastend, aber
er hat sich gelohnt. Er öffnet einen wichtigen Zugang zu
Dimensionen des Geschehens. Sichtbar wird Einiges von dem
Unsichtbaren, was gleichwohl soziales Geschehen massiv beeinflusst
– unbewusste Motive, von Übertragung und Gegenübertragung
gesteuerte Interaktion, latente Strukturen. Man kann aber auch
lernen, dass ein solches Projekt – anders als konventionelle
Forschung, die meist risikoarm und enttäuschungsfest funktioniert –
viele Tücken hat. Schade, dass die Autoren und Autorinnen nicht
mehr zu methodologischen Auswertungen gekommen sind. Ich könnte mir
vorstellen, dass man sowohl den Prozess als auch das Setting noch
optimieren kann (beispielsweise indem man andere Zugänge zum Feld
wählt, und indem man die Methoden lebensweltnäher gestaltet), aber
man wird die Probleme nicht »lösen« können.
Das Projekt und sein Schicksal regt aber auch an, über Probleme der
Theorie nachzudenken. Das Buch trägt dazu nicht nur in Bezug auf
die Selbstreflexion des Forschungsprozesses, sondern auch in
Hinsicht auf Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung einiges bei.
Wichtig finde ich beispielsweise die Überlegungen von Emilio Modena
zum Thema »Religiosität«. Ausgangspunkt sind die Enttäuschung über
den Zusammenbruch der Sowjetunion (und vor allem: über die Art des
Zusammenbruchs) und seine eigene Überraschung über dieses
erwartbare Ereignis. »Ich begriff ..., dass ich all diese
Missstände im real existierenden Sozialismus zwar kritisch
wahrgenommen hatte, dass aber zugleich in meinem Inneren starke
emotionale Kräfte dafür gesorgt hatten, dass ich die schlechte
Realität verleugnete.« (S. 378) Dafür bietet die Psychoanalyse
Erklärungen: »Dank dem psychischen Abwehrmechanismus der
Verleugnung konnte ich kritisch bleiben und zugleich auch meinen
Glauben an die sozialistischen Ideale aufrecht erhalten.« (a. a.
0.) Diese Einsicht ist der Anstoß zu systematischen Überlegungen
zum Verhältnis von Glauben und Wissen, die weit über Marx und Freud
hinaus führen. Das Ergebnis ist eine Unterscheidung zwischen der
sozialen Institution »Religion« und der psychologischen Kategorie
»Religiosität«, der ein basales Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu
Grunde liegt – ein Bedürfnis, dass als Teil der psychischen
Entwicklung formiert und deformiert wird, das an jedem Engagement
(ob religiöser oder politischer Art) beteiligt ist und dessen
Niveau mitbestimmt. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen:
»Für eine neue Praxis der Linken bedeutet (dies) ..., dass der
politische Kampf ... niemals als ein Kampf gegen Religiosität an
und für sich geführt werden darf. Wer fundamental gegen die
religiösen Gefühle und tiefen Erlebnisse des anderen ankämpft, kann
sich den Andersdenkenden nur zum Feind machen . ... Man muss im
politischen Kampf auf den Grundlagen der eigenen Religiosität
überzeugen können, indem man an Werte glaubt, die besser als die
überlieferten Religionen den in einer bestimmten Gesellschaft
vorherrschenden materiellen und ideellen menschlichen Bedürfnissen
entsprechen.« (S. 384) Dazu reicht jedoch simples Besser-Wissen
(bzw. Besser-Glauben) nicht aus. »Im Wissen um die unbewusst und
triebhaft ablaufende Dialektik von Glaube und Wissen ist es bei der
unvermeidlichen Institutionalisierung eines Werte- und
Glaubenssystems im Sinne einer emanzipatorischen und
aufklärerischen Ethik notwendig, möglichst viel Freiräume für
Selbsterfahrung der einzelnen und Gruppen vorzusehen, denn jede
Kirche – auch die atheistische – hat, wenn sie sich mit
gesellschaftlicher Macht verbindet, die Tendenz, dogmatisch zu
erstarren. Nur die Einsicht in diese Mechanismen schafft Hoffnung,
sie allenfalls verändern zu können, weil sie die Möglichkeit zu
ihrem Durcharbeiten eröffnet. Deren Verleugnung und Verdrängung
dagegen lassen sie im Unbewussten erstarren und ungebrochen
weiterwirken.« (a. a. 0.)
Die Idee, die subjekttheoretischen Schwächen der Marxschen Theorie
mit Hilfe der Psychoanalyse zu überwinden, ist zweifellos
produktiv. Psychoanalytisches Denken erweitert den Horizont der
Kritik. Es ermöglicht ein besseres Verständnis grundlegender
psychosozialer Themen und deren Dynamik; es erlaubt damit auch
konsequente Selbstreflexion. Die damit eröffneten Möglichkeiten
werden jedoch nicht überall realisiert und durchgehalten. In
mancher Hinsicht ist die Kritik der Idealisierungen noch nicht
konsequent genug. Dies betrifft nicht zuletzt die
gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Kritik. Die im Buch
verwendeten Argumentationen stützen sich fast nur auf Marx. Bei
allen Verdiensten, die der Marxschen Theorie zukommen – eine
vollständige Theorie der Gesellschaft und vor allem der
gegenwärtigen Probleme der »Weltgesellschaft« ist sie sicher nicht.
Ein umfassendes und hinreichend differenziertes Verständnis der Art
und Weise, wie Gesellschaften überhaupt und moderne im speziellen
funktionieren, kann sie nicht bieten. Dazu ist sie zu eng
geschnitten und an Verhältnissen des 19. Jahrhunderts orientiert.
Ich meine deshalb, dass gerade eine Kritik der Gesellschaft, die
für sich in Anspruch nimmt, nicht nur vom Gefühl zu kommen, sondern
wissenschaftlich zu verfahren, ihre Theoriebasis verbreitern muss.
Es gibt keinen Grund, Gesellschaftskritik immer und nur auf den
Theorien von Marx aufzubauen. Im Gegenteil: Kritik muss mit ihrer
Zeit gehen und darf nicht auf Vorstellungen, die aus ihrer
Geschichte stammen, stehen bleiben. Wenn die Arbeiter sich nicht so
verhalten, wie dies die (Marxsche) Theorie vorhersagt, ist es also
Zeit, die Theorie weiter zu entwickeln. Die Psychoanalyse hilft,
aber es werden auch gesellschaftstheoretische Modelle gebraucht,
die erklären, woher etwa das postmoderne Denken kommt und was es
bewegt – statt es als Ideologie abzutun und sich dadurch an ihm zu
»rächen« (S. 390). Durch besseres Verständnis wird jedoch
politische Arbeit nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil: Das
erweiterte Wissen öffnet den Blick auf das Ausmaß der Probleme, die
damit verbunden sind. Das ernüchtert und versperrt die Flucht in
die Vereinfachung von Problemlagen, den Rückgriff auf primitive
Formen der Selbstidealisierung, des Denkens in einfachen
Gut-Böse-Schemen usw. Das Anspruchsniveau politischer Arbeit erhöht
sich damit allerdings und ist kaum mehr erreichbar.
Insofern überforderte sich das Projekt selbst. Das war gut so, weil
es sonst vermutlich kaum so weit gekommen wäre. Angesichts der
Probleme, die sich stellten, muss man eigentlich von einer
Erfolgsgeschichte sprechen: Dass es gelungen ist, gegen alle
Widrigkeiten so viel an eigenen Vorstellungen durch zu halten und
weiter zu entwickeln, ist eine Leistung; um so mehr, als sie in
vielen Hinsichten mit wenig Ressourcen realisiert werden musste und
auf Improvisieren angewiesen war. Vor allem wegen dieses
Stehvermögens wird aus dem Ausgangsexposé – wir wollen nicht nur
Oberschichtpatienten therapieren und halten Freud für die nötige
Ergänzung zu Marx – eine bemerkenswerte Geschichte, deren
Dokumentation Vieles verdeutlicht und zum Nachdenken anregt. Das
ist weit mehr als man üblicherweise von Projekten und deren
Dokumentation bekommt.