Rezension zu Mythos Regression

Psychoanalyse und Körper 1/2002

Rezension von Tilmann Moser

eele vorwärts, Seele rückwärts

Zu Peter Geißlers umfassendem Werk über Regression

Umfassend ist ein großes Wort und bedarf der Rechtfertigung: Geißler schreibt selbst, es sei die Frucht von 25-jähriger Arbeit von Sammeln und Durchdenken. Er gibt einen staunenswert belesenen Überblick über die Geschichte eines zentralen Begriffs der Psychotherapie, der dennoch nie in einer kohärenten Theorie gefasst wurde. Aber was Geißler liefert, sind zumindest, neben der Summe der Einzelteile, die Prolegomena zu einer solchen Theorie, und wir wissen, dass so mancher große Geist wichtige Teile seines Werkes nicht in den Hauptteil, sondern in dicke Wälzer der vorläufigen Ausarbeitungen gesteckt hat. Dick ist der Wälzer nicht, aber die etwas mehr als 300 Seiten hinterlassen doch den Eindruck, man habe sich durch einen riesigen Stoff hindurch gekämpft, zumal viel Kleingedrucktes an langen Zitaten und anschaulichen Fallgeschichten eingebaut ist.

Nun zum Inhalt: Regression ist in jedem menschlichen Leben ein wichtiges Faktum, und jedermann weiß, dass sie mit einer »Rückkehr« zu früheren Stufen der eigenen Entwicklung verbundenen ist. Eins der bekanntesten Beispiele: Ein Vierjähriger bekommt ein Geschwister, und fortan meint er, nicht ohne ein Babyfläschchen zum Überleben auszukommen. Er verliert einige »progressive«, aber vielleicht noch unstabile Eigenschaften oder »Ich-Funktionen« und verhält sich wie ein Kleinkind. Gelassene Eltern sehen dies mit mildem Lächeln und füttern ihn auch ein paar Mal mit dem kostbaren Utensil, andere aber reagieren mit Tadel und Befremden, ja vielleicht sogar mit Liebesentzug, und schon kann ein mittleres Trauma gesetzt sein, weil man ihm einen hilfreich Mechanismus zum Umgang mit der ungewohnten Situation verstellt hat.

Psychotherapeuten haben es kontinuierlich mit allen möglichen Formen der Regression ihrer Patienten zu tun. Freud fand sie eher schädlich, er wollte nicht aus seiner Vaterrolle heraus, in der er deutete und am Widerstand arbeitete. Spätere Forscher wie Balint oder Winnicott reagierten eher mütterlich und geduldig und sahen in der Regression auch eine segensreiche Fähigkeit, um so mehr, als sie fanden, die Patienten holten sich dort Kraft und regedierten im Sinne erneuter Reifungsschritte. Aber natürlich sind beide Haltungen von Fallstricken bedroht: Den stark regredierten Patienten erreichen keine Deutungen mehr, weil er in den Abgründen der Vorsprachlichkeit verweilt, und wer zu viel Regression zugestanden bekommt, wird süchtig und will gar nicht mehr ins realitätsgetragene Dasein zurück. Dann stößt man, bei den so genannten kompensatorischen, also entstellten und oft unersättlichen Bedürfnissen, auf einen möglichen Drang nach Entschädigung, Trost, Verwöhnung, bessere Elternschaft, aus der sie nicht wieder herausfinden.

Regression in einer Psychotherapie oder Psychoanalyse kann vieles bedeuten: ein Sich-Entziehen, ein Stagnieren aus Angst vor dem nächsten Reifungsschritt, Rückkehr zu Stärkung, Geborgenheit, Regeneration, ein Wieder-Anknüpfen an eine früh gestörte Beziehung usw. Der Umgang mit ihr, soll sie produktiv werden, erfordert mütterliche Qualitäten, ein Mitschwingen, Einfühlung, ein sicheres Verstehen früher Affekte nach dem Augenschein, nach der Stimme oder nach der entstehenden Atmosphäre. Es gibt Regressionen, die die ganze Person zu umschlingen scheinen, oder solche, die nur eine oder wenige Ich-Funktionen umfassen. Es gibt Regressionen, die sich spontan einstellen, oder solche, die lange auf sich warten lassen, bis der Patient sicheren Boden spürt, oder solche, die gezielt und mit mancherlei Aktionen und auch Manipulationen ins Werk gesetzt werden. Fast jede therapeutische Schule hat ihre eigene Praxis und manchmal sogar ein eigenes Theoriefragment im Umgang mit diesen Phänomenen.

Im Bereich der tiefenpsychologischen Schulen beachtet und behandelt man Regression immer als Ausdruck der Übertragungsbeziehung, also interaktionell, und meist meldet sie sich zuerst im inneren Raum des Analytikers als dessen Gegenübertragung, mit der er zum Beispiel die Tiefe der Regression einschätzen lernt.

Was Geißler bei allem Reichtum der Perspektiven, nicht erwähnt, ist die Kapazität des einzelnen Therapeuten, mit Regression umzugehen, und ihre Faktoren. Wenn jemand sie selbst in seiner Lehrtherapie nicht erlebt hat, erleben durfte, darin gestört wurde oder im Niveau seiner seelischen Existenz überfordert wurde, vermag er viel schwerer die Toleranz entwickeln, seine Patienten zu »halten« bei ihrem Pendeln zwischen Regression und Progression. Geißler dankt seinen Lehrern für vieles, unter anderem die Möglichkeit zu wohlwollend gewährter Regression.

Das hat es ihm wohl auch erleichtert, aus orthodoxer Bioenergetik und orthodoxer Analyse heraus einen eigenen Weg zu finden, in der auch die Entwicklung zum analytischen Körperpsychotherapeuten möglich war. Insofern hat seine Monographie auch mehrere Stränge: Er untersucht die Bedeutung von Regression in den verschiedensten Theoriefragmenten; daneben aber auch den Fortschritt der psychotherapeutischen Haltungen, die aus einem gewandelten Regressionsbegriff resultierten, sowie die Bedeutung des neuen wissenschaftlichen Kontinents der Kleinkindforschung. Mit leichtem Ärger und Enttäuschung verzeichnet er die Abkapselung der klassischen Psychoanalyse in ihren orthodoxen Ausformungen, weil sie an einem starren Verständnis des Abstinenzbegriffs fest hält. Nach ihm wird der neu erworbene Reichtum vieler Behandlungsformen nicht zur Kenntnis genommen, zum Beispiel averbale Kommunikationsweisen oder die Einbeziehung von Handlungssequenzen innerhalb der Therapie. Sie werden noch immer mit dem Ausdruck »Agieren« disqualifiziert, weil Berührung und Handeln dem hohen Ziel der reinen Verbalisierung nicht genügen.

Seine Liebe gilt der Babyforschung und ihren frühen Vorläufern Balint und Winnicott, ihren zeitgenössischen Pionieren Daniel Stern und dem Theoretiker Martin Domes. Stern postuliert, dass die ersten beiden Lebensjahre sich weitgehend in averbalen, auch körperlichen Erinnerungsspuren niederschlagen. Sie müssen folglich erst einmal auf averhalem Wege wieder aufgesucht werden. Sie sind nicht verdrängt, wie die Psychoanalyse meint, sondern in anderen seelischen Depots aufbewahrt. Diese Spuren sind lebenslänglich wirksam, oft zerstörerisch, wenn ihnen therapeutisch nicht beizukommen ist. Der Begriff der Regression nimmt bei Geißler also gegen Ende eine etwas reduzierte Rolle ein, weil er sich wegbewegt von der so genannten »zeitlichen« Regression, also einem phasenspezifischen und trieborientierten Zurücksinken auf ganz bestimmte fixierte Kindheits-Epochen. Er vertraut sich einem Konzept an, das mit seelischen Systemen rechnet, die zwar in der Kindheit angelegt sind, aber sich durchs ganze, auch das erwachsene Leben ziehen können.

Was man sich wünscht auf der Basis dieses Geißlerischen Panoramas durch ein Jahrhundert Regressionsforschung, ist der Versuch einer Systematik des therapeutischen Umgangs mit Regression. Es gibt zwar eine Reihe verstreuter Fallgeschichten, auch in dem Buch von Geißler selbst und von Gisela Worm. Aber es fehlt noch der Versuch einer theoretischen und behandlungspraktischen Fundierung, vielleicht auch der Brückenschlag zur Gehirnforschung, der vermutlich ein Maximum von Evidenz der inneren Vorgänge erbringen würde. Aber wir wollen nicht mäkeln, sondern die Leistung Peter Geißlers würdigen, die einen so soliden Grundstock für jede weitere Forschung erbracht hat.


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