Rezension zu Freuds Lektüren
Jungle World, Nr.41
Rezension von Jan Süselbeck
Lesen und auf der Couch liegen
Michael Rohrwasser hat Sigmund Freuds Lektüren noch einmal
nachgelesen
Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine
Verfassung eingeführt zu haben«, schrieb einst Karl Kraus über
Sigmund Freud. Und er fügte hinzu: »Aber es geht darin zu, wie in
Österreich.«
Dem kann man, nachdem man Michael Rohrwassers Buch mit dem Titel
»Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler«
durchgelesen hat, nur zustimmen. Wobei es gerade das Schöne an
dieser Studie ist, dass sie uns aus kritischer Perspektive daran
erinnert, wie inspirierend es ist, sich in dieses Österreich
zurückzuversetzen. War die Wiener Gesellschaft der k.u.k.-Monarchie
doch nach 1900 noch hochgradig durch (ost-)jüdisches Kultur- und
Literaturverständnis bereichert.
Auch der assimilierte Mediziner Freud begann bald, die junge
Wissenschaft der Psychoanalyse auf die Literatur (seiner Zeit)
anzuwenden Werke, die er seit seinen Jugendtagen als
selbsternannter »Bücherwurm« verschlungen und in sich aufgesogen
hatte.
Nach dem Erscheinen seiner epochalen »Traumdeutung« (1900) gewinnen
Freuds Interpretationen neue Qualität. »Sie erheben einen
spektakulären Anspruch, weil sie verheißen, dem literarischen Text
sein verborgenes Geheimnis zu entlocken, weil sie den Schlüssel
versprechen, der den latenten Sinn des Werks und dessen andauernde
Wirkung erst erschließt«, referiert Rohrwasser. Eine geradezu
detektivische Deutungsschule findet hier ihren Ursprung, deren
letztliches Scheitern Rohrwasser beim Durchforsten der Schriften,
Briefe und Lieblingslektüren Freuds immer wieder interessiert;
zugleich beschäftigt er sich mit ihren wichtigsten Erkenntnissen
und Teilerfolgen.
Rohrwasser beobachtet Freud »in den Rollen des Entzifferers, des
Detektivs, des Übersetzers und des Archäologen«, und er liest ihn
damit dezidiert als »modernen Autor«. Einen Schriftsteller also,
der »nicht nur Enträtseler, sondern auch Konstrukteur des Rätsels
ist«, wie es in der Einleitung der Studie heißt.
Freuds Fallgeschichten nahmen schon früh selbst den Charakter
literarischer Erzählungen an, wie er auch umgekehrt die Versuche
der von ihm behandelten Neurotiker, ihre inzestuösen Neigungen mit
Abwehrphantasien zu kaschieren, kurzerhand als »Familienroman«
beschrieb. Rohrwasser nimmt Freuds Bemerkung aus einem Brief an
Wilhelm Fließ ernst, in der er sich mit Sherlock Holmes vergleicht,
und Rohrwasser nimmt diesen Anhaltspunkt zum Anlass, die Geschichte
der Freudschen Psychoanalyse noch einmal als intertextuellen Krimi
zu lesen. Dabei betont er gerade auch die frühe zeitgenössische
Wahrnehmung der Psychoanalyse als eher dubiose Modeerscheinung,
nicht zuletzt wegen ihrer anfänglichen Liebäugelei mit der obskuren
Hypnose.
Den Topos des skrupellosen Psychiaters, der seine Patienten
manipuliert, griff das Kino des Expressionismus und Surrealismus
dankbar auf so etwa Fritz Lang in »Dr. Mabuse« (1922) oder in
Robert Wienes »Dr. Caligari« (1919). Rohrwasser leitet Freuds
demonstrative Ablehnung des neuen Mediums Film, die so nachhaltig
war, dass er 1925 ein Angebot der Ufa, an einer seriösen filmischen
Darstellung seiner Wissenschaft mitzuarbeiten, »mit Abscheu und
demonstrativer Verachtung« ausschlug, von der These ab, dass Freud
im Kino nichts weniger als ein »Konkurrenzsystem« erkannt haben
könnte.
Der Film vermöge die Welt der Träume immerhin direkter zu evozieren
als die Literatur, stellt Rohrwasser fest: Das »Kino, ›Traumwelt‹
genannt, entpuppt sich als die bessere psychoanalytische Technik
und als ein ideales Instrument zur ›Massenbezwingung‹«. Den
Lustcharakter aber, den die Unterwerfung unter die Macht solcher
(medialer) Massenphänomene auch beinhaltet, hatte Freud in der Tat
ignoriert, wie seine berühmte Studie »Massenpsychologie und
Ich-Analyse« (1921) zeigt. Sie kapriziert sich auf die Untersuchung
der Macht des Führerprinzips, während sie die unheimliche
Eigendynamik der Masse »familiarisiert«, wie Rohrwasser es
formuliert, sie »auf die vertrauten libidinösen Bindungen« des
Individuums beschränkt.
Allerdings schätzte Freud durchaus auch triviale Kunstwerke. So
wird er uns hier als begeisterter Leser der
»Sherlock-Holmes«-Stories von Arthur Conan Doyle vorgestellt. Nicht
zuletzt widmet sich Rohrwasser einer genaueren Relektüre von Freuds
Studie über Wilhelm Jensens triviale Novelle »Gradiva. Ein
pompejanisches Phantasiestück« (1907). Freuds noch im selben Jahr
entstandenes Buch »Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹«
entpuppt sich dabei weniger als schlüssige Analyse des Romans denn
als autarke Erzählung, die sich in der nachfolgenden
Literaturgeschichte an die Stelle der Jensenschen Erzählung setzte.
Jensens drittklassige Novelle wäre schließlich ohne Freuds Schrift
längst vergessen. »Literatur nach Freud«, das heißt für Rohrwasser
zugespitzt: »die Literatur Freuds«.
Damit nicht genug. In akribischen, keinesfalls aber langweiligen
Exkursen über Freuds Lektüren von E.T.A. Hoffmanns »Sandmann«
(1815), Conrad Ferdinand Meyers historischer Novelle »Die
Richterin« (1885) und Arthur Schnitzlers »Weissagung« (1905) wird
die Literaturgeschichte noch mal neu aufgerollt. Aufregend daran
ist vor allem, wie Rohrwasser die analytischen Urteile Freuds in
eigenen Interpretationen zu verifizieren versucht und dabei
allerhand Widersprüche neu zu Tage fördert.
Die These, die er in seinem berühmten Vortrag »Der Dichter und das
Phantasieren« (1907) vertrat das Werk des Künstlers spiegele die
Träume und Wünsche des Autors; der Analytiker könne anhand des
Textes die Phantasien erkennen und herausarbeiten , schlug am Ende
auf Freud zurück. So war sich Freud beispielsweise im Briefwechsel
mit seinem Freund und Kollegen Fließ schnell einig, in dem
Schweizer Schriftsteller Meyer einen typischen Neurotiker vor sich
zu haben, der seine inzestuöse Beziehung zur Schwester in der
»Richterin« zu camouflieren suchte.
Rohrwasser arbeitet jedoch heraus, wie wenig der Text tatsächlich
den »Skandal« zu verbergen sucht, über den man seinerzeit in den
Salons munkelte, ohne dass eine sexuelle Beziehung Meyers zu seiner
Schwester jemals wirklich nachgewiesen worden wäre. Freuds Analyse
erweist sich zudem als unzugänglich für die gekonnte Konstruktion
des untersuchten Werks: Der Psychiater entpuppt sich als
pathologisierender Detektiv, der in der Literatur nur noch bloße
»Schutzdichtungen« und »Fallgeschichten« wahrzunehmen vermag. Auch
hier schreibt Freud Rohrwasser zufolge letztlich eine neue, eigene
Novelle, um sie an die Stelle des untersuchten Textes zu
setzen.
Den krönenden Schlusspunkt der Studie setzt die Untersuchung der
klandestinen Freud-Rezeption des großen Psychoanalyse-Hassers Elias
Canetti ein Autor, den Rohrwasser besonders genau gelesen hat. Er
weist dem Nobelpreisträger nach, wie wichtig Canetti die
stillschweigende Auseinandersetzung mit Freud gewesen sein muss, um
seine eigenen Lebensthemen vor allem das von »Masse und Macht«
(1960) gegen die Hypothesen des großen Vaters der Psychoanalyse zu
profilieren.
Canetti opponierte leidenschaftlich gegen Freuds Massenpsychologie,
indem er die am eigenen Leib erfahrene Urmacht der Masse selbst zu
ergründen suchte: »Sie brodelt, ein ungeheures, wildes,
saftstrotzendes und heißes Tier in uns allen, sehr tief, viel
tiefer als die Mütter. (...) Wir wissen von ihr nichts; noch leben
wir als vermeintliche Individuen«, mutmaßt Canetti in seinem
genialischen Roman »Die Blendung« (1935). »Manchmal kommt die Masse
über uns, ein brüllendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in
dem jeder Tropfen lebt und dasselbe will.«
So mündet Rohrwassers Untersuchung doch noch in eine fruchtbare
Rezeption Freuds. Und: Das alles ist nicht etwa graue
literaturwissenschaftliche Theorie, wobei Rohrwasser eine angenehm
weitgreifende Belesenheit an den Tag legt, ohne jedoch den Leser
damit zu nerven.
Gewiss: Die fragwürdige Manie, ein überbordendes »Netzwerk« von
Verbindungen sowohl in Fuß- als auch Endnoten auszulegen, hat sein
Buch mit den Mammutstudien seines Kollegen Klaus Theweleit gemein.
Allerdings muss man sagen, dass Rohrwasser die Geduld des
Umblätterers summa summarum weit weniger strapaziert, als der Autor
der »Männerphantasien« (1977/78) es zuletzt in seinem
»Pocahontas«-Projekt tat. So pirscht man sich denn mit Rohrwasser
tapfer weiter in das Herz des dunklen Kontinents der Psychoanalyse
vor.