Rezension zu Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft
psychosozial 4/1999
Rezension von Johann August Schülein
Robert Heim gehört schon seit langem zur Gruppe der
Psychoanalytiker, die Freuds Einschätzung der sozial- und
kulturpsychologischen Relevanz der Psychoanalyse ernst nehmen und
sich darum bemühen, sie auf der Höhe der Zeit zu halten. Der Band
»Melancholie und Utopie. Zur Sozialpsychologie der vaterlosen
Gesellschaft« (Gießen 1999) enthält eine Reihe seiner Arbeiten, die
inhaltlich um das Konzept der »vaterlosen Gesellschaft« zentriert
sind, wie es vor allem von Mitscherlich in Anknüpfung an P. Federn
entwickelt wurde. Es handelt sich jedoch keineswegs um eine bloße
Rekapitulation und kritische Würdigung der wichtigsten
sozialpsychologischen Arbeit von Mitscherlich. Heim nutzt diesen
Fokus für Blicke in viele verschiedene Richtungen: Er beschäftigt
sich mit der Entwicklung der Psychoanalyse, mit ihrem Verhältnis zu
neueren gesellschaftlichen Entwicklungen; er diskutiert das
Verhältnis von Gesellschaftskritik und Psychoanalyse, untersucht
konfliktträchtige soziale Bewegungen, interpretiert Literatur und
behandelt in einer Reihe von Auseinandersetzungen Fragen der
Methode und Theorie.
Dabei erweist sich Heim als Autor, dem es immer wieder gelingt, die
spezifischen Erfordernisse psychoanalytischen Denkens mit
gesellschaftlichen und diskursiven Auseinandersetzungen in Kontakt
zu halten. Das thematische Spektrum der Texte, aber auch die Fülle
der nicht nur zitierten, sondern auch eingearbeiteten Materialien
und Angebote imponiert. Das Ergebnis ist eine Sammlung von ungemein
anregenden Diskursen, deren Hauptfragen immer wieder die nach dem
Wie und dem Warum psychoanalytischer Sozialpsychologie sind.
Durch seinen Aufbau hat das Buch den Charakter eines Umkreisens von
Themen und Theorien, so daß ein lineares Nach-Erzählen nicht
sinnvoll erscheint. Ich möchte im Folgenden daher einige der
inhaltlichen und methodischen Argumente aufgreifen und
weiterentwickeln. Die Wahl der zentralen Metapher der »vaterlosen
Gesellschaft« ist alles andere als zufällig. Für Heim hat sie von
Anfang an die Doppeldeutigkeit der Moderne charakterisiert: daß die
»Fortschrittsgewinne« mit »Traditionsverlusten« untrennbar
verbunden sind. Heim ergänzt diese »Ambivalenz« um die Dialektik
von Melancholie und Utopie. Der Kampf gegen den Vater ist ohne
Utopie gar nicht zu führen, und der Ausgang des Kampfes bringt
unweigerlich die Erfahrung von Verlust und Enttäuschung mit sich.
»Es ist dies ... das Doppelgesicht eines Vexierbildes, das zur
Heraldik der vaterlosen Gesellschaft gehört. In deren Wappen, auf
deren Banner reichen sich patriarchalische Unterdrückung und
solidarische Befreiung, Aufklärung, Emanzipation und ihr Scheitern
stets die Hand.« (S. 8) Dies verdeutlicht die Schlüsselfunktion,
die das Konzept auch in Heims Arbeiten hat: »Die Rede von der
vaterlosen Gesellschaft ist das psychoanalytische Echo auf die
Dialektik der Aufklärung, und als dieses Echo möchte sie sich hier
nochmals Gehör verschaffen.« (a. a. 0.) Mit »Dialektik der
Aufklärung« spielt Heim nicht nur auf das zentrale Werk von
Horkheimer und Adorno an, er meint damit die Fülle der strukturell
tiefgreifenden Modernisierungseffekte, die Identitätsbalance,
Familie und Sozialisation, die Art der Arbeit und des
Zusammenlebens, kurz: alle relevanten Lebensbereiche betreffen.
»Die vaterlose Gesellschaft ist der sozialpsychologische
Oberbegriff oder eben: heuristische Basismetapher und Idealtypus
dieser Wandlungen.« (S. 142)
Mitscherlich hatte vor allem zwei Punkte hervorgehoben: Den
Strukturwandel der Arbeit, der dazu führt, daß die
Vater-Sohn-Beziehung sich strukturell ändert, weil die konkrete
Figur des tätigen Vaters verblaßt und an Bedeutung verliert, und
das Problem der Massenpsychologie, das sich in modernen –
»vaterlosen« – Gesellschaften anders stellt. Mitscherlich spricht
von »Entindividualisierung«, die das Abstraktwerden des »Systems«
begleitet, von einer Ablösung des ,»Vater-Sohn«-Paradigmas durch
die »Geschwistergesellschaft«, von der »Regression in die
Stillordnung«. Heim nutzt diese Vorgaben für die Analyse dessen,
was seit Mitscherlichs Arbeit an Themen und Problemen deutlich
geworden ist. So interpretiert er den »neuen« Antisemitismus als
»Neid des narzißtischen Ichs auf das Fremde und seine
Repräsentanten« (153) und verweist auf die Weiterentwicklung der
Geschlechterproblematik: »In Mitscherlichs Riesenheer neidischer
Geschwister reagiert die männliche Fraktion ... auf die Vorstöße
der Frauen mit mehr oder minder offenem Neid.« (5. 157)
Es steht außer Frage, daß Mitscherlichs Theorie (oder besser:
begriffliche Metapher) ungemein anregend und produktiv nicht nur
war, sondern noch ist – das zeigen nicht zuletzt Heims
Anknüpfungen. Es muß allerdings gefragt werden, ob denn der
Gebrauch von Metaphern tatsächlich als Grundlage einer
psychoanalytischen Sozialpsychologie gesehen werden kann und wenn
ja: ob die ödipale »Basismetapher« diese Funktion erfüllt. Die
erste Frage führt in das heikle Problemfeld psychoanalytischer
Theoriebildung generell und der gesellschaftstheoretischen
Verwendung psychoanalytischer Konzepte. Heim setzt sich mit diesen
Problemen auseinander und betont zunächst die Differenz zwischen
praktischer psychoanalytischer Erfahrung und Umgang mit
sozialpsychologischen Themen: »Unbewußte Strukturen als erklärte
Erkenntnisobjekte in der psychoanalytischen Sozial- und
Kulturforschung verfügen in der Regel nicht über (die)
Empfänglichkeit (von Patienten). Sie verharren als Texte oder
Kunstwerke in stummer Gegenständlichkeit, vermögen dem
hermeneutischen Deutungsangebot nicht – wie in der
Behandlungssituation – zu antworten. Und handelt es sich bei
solchen Strukturen um die unbewußten Formen kollektiven Verhaltens
und Handelns, ist es die Diskursfähigkeit einer aufgeklärten und
gebildeten Öffentlichkeit, in der die Resonanz kulturanalytischer
Deutungen vernehmbar wird.« (S. 133) Das verweist auf das
Instrument, dem Heim eine Schlüsselfunktion zuweist: der Deutung.
Er bezieht sich (wie vor ihm schon andere Autoren) auf Max Weber
und seine Theorie des Idealtypus: ,»Was Weber als eine Konstruktion
von Zusammenhängen vorstellt, die sich aus der mitunter der
Subjektivität des einzelnen Forschers entsprungenen Phantasie
speist und dennoch die Balance mit dem allgemeinen Theoriekorpus
einer Wissenschaft wahrt, das ist in der Psychoanalyse nichts
anderes als die Metapsychologie. Die Metapsychologie ist der
Inbegriff an Idealtypen in der Psychoanalyse.« (S. 119) In
Anlehnung an Codignola versteht er die Deutung als Verbindung von
Theorie und Erfahrung, als »Operationsgerüst«, welches Operationen
erlaubt. Dabei sind (man könnte sagen: ähnlich wie bei
therapeutischen Wirkungen) Kenntnis und Fähigkeit zur Anwendung
nicht notwendig verbunden: »Auch der erfahrenste, in seinen
Deutungen treffsichere und einfühlsame Psychoanalytiker ist sich im
unmittelbaren Vollzug der Deutung keineswegs über dessen innere
Logik bewußt. Soweit die Metapsychologie heute noch Bestand hat und
verteidigt werden will, ist sie das weitverzweigte
Operationsgerüst, das idealtypisch das manifeste kreative Spiel des
Deutens auf seinen allgemeinen Begriff hin, auf seine latenten
Strukturgesetzlichkeit zusammenzieht.« (S. 120)
Betrachtet man diese Überlegungen in einem weiteren Kontext, so
läßt sich feststellen, daß damit ein Problembestand angesprochen
ist, der nicht nur für die Psychoanalyse, sondern für eine
bestimmte Gruppe von Theorien typisch ist. Ausgangspunkt ist die
Logik des Gegenstands: Nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch
Soziologie, Historik, Ethnologie – kurz: alle Humanwissenschaften
-, aber auch Ökologie, Meteorologie – kurz: alle Theorien, die es
mit einer spezifischen Komplexität zu tun haben, stehen vor dem
Problem, daß ihr Thema nicht aus distinkten und strikt gekoppelten
Sachverhalten bestehen. Sie behandeln (um einen Ausdruck der
neueren Theoriediskussion aufzugreifen) autopoietische Realität.
Das heißt: Es handelt sich um eine Realität, die sich aus dem
kontingenten Zusammenspiel heterogener und eigenlogischer
Teilprozesse ergibt. Die Folge: Autopoietische Realität ist in
Bewegung und dynamisch (d. h. nie gleich), sie besitzt eine
differenzierte Binnenstruktur und dezentriert (was eine Dialektik
von Elementen, Interaktion und Struktur impliziert) und entwickelt
daher eine komplexe Eigenlogik (d. h. sie ist nicht homogen und
monologisch). Daraus ergeben sich Folgen für die Art der Theorie,
die benötigt wird, und die Art, wie diese Theorie verwendet werden
muß. Nomologische Sachverhalte können algorithmisch reduziert
werden, weil die jeweiligen Umstände keinen Einfluß auf eine
fest-stehende Logik haben. Das bedeutet einerseits unmittelbare
Vergleichbarkeit und beliebige Manipulierbarkeit des Gegenstands
(weil dadurch seine Logik nicht verändert wird). Andererseits kann
Theorie aus kontextfreien Kalkülen bestehen, deren
Anwendungsbedingungen eindeutig sind – jede(r) muß zum gleichen
Ergebnis kommen. Dies ist bei der Analyse autopoietischer Realität
anders. Ihre Merkmale bedeuten gerade nicht, daß sie immer und
überall gleich ist und daß von Bedingungen abgesehen werden kann.
Daher stehen Theorien vor dem Problem, nichtreduzierbare
Komplexität (nämlich die Differenz zwischen verschiedenen Formen,
Entwicklungen usw.) verarbeiten zu müssen. Das können rein
denotative Theorien nicht leisten. Die Erkenntnis autopoietischer
Realität erfolgt daher in Form von konnotativen Theorien, also
Theorien, die strukturell offene Angebote zur Identifizierung und
Relationierung von Faktoren enthalten. Sie enthalten keine
exklusiven, sondern inklusive Regeln, die jedoch relativ bleiben.
Konnotative Theorien können sich also nicht auf einen bestimmten
Fall festlegen (weil sie dann die anderen möglichen nicht erfassen
können). Andererseits ist der Rückzug in die Abstraktion wegen der
damit verbundenen Kosten – sie reduziert das Konnotationspotential
der Theorie – nur beschränkt möglich. Damit bleiben konnotative
Theorien unabgeschlossen und im Einzelfall übersetzungsbedürftig.
Umgekehrt sind Generalisierungen riskant, weil von Einzelfällen
nicht unmittelbar auf andere geschlossen werden kann und die
Differenz von Einzelfällen nicht immer (nur) einen gemeinsamen
Nenner zuläßt.
Konnotative Theorien haben daher prinzipiell das Problem der
Kontingenz: Sie können so, aber auch anders sein und müssen sich
auf Überraschungen einstellen können. Daher entwickeln sie keine
festen Anwendungsregeln, sondern operieren mit vektoriellen
Gebrauchshinweisen, die jede(r) anders lesen und nutzen kann. – Nun
ist Realität empirisch nicht einfach unterteilt in »nomologisch«
und »autopoietisch«, sondern existiert in kombinierten Formen.
Empirisch stellt sich Realität dar als ein Spektrum von
verschiedenen Mischungen. Bereits die Kombination von verschiedenen
nomologischen Abläufen (etwa das Zusammenspiel von chemischen und
physikalischen Prozessen im Klima) führt zu jenen Spielräumen, die
zur Folge haben, daß Entwicklungen nicht vorausberechenbar sind und
Theorien mit Schätzungen verbunden sind, die auf der Basis von
Erfahrungen (also subjektgebundenen Leistungen) verwendet werden.
Dies wird dramatischer, je ausgeprägter der autopoietische
Charakter der Realität wird, also die Berechenbarkeit weiter
abnimmt und die konnotativen Leistungen zunehmen. Dies gilt vor
allem fir psychische und soziale Realität, also Realität, die nicht
nur hochkomplex, sondern zugleich auch widersprüchlich ist, weil
sie durch ihre interne Differenzierung zugleich verschiedenen
Logiken folgt. Mit Hegel gesprochen: Dynamische Autopoiesis ist
eine Identität von Nichtidentität, eine Einheit von Widersprüchen,
die keine stabilen Gleichgewichte kennt, sondern in (heterogener)
Bewegung sich selbst entwickelt. Eine solche Realität kann weder
methodisch noch theoretisch fixiert werden.
Damit ist Theorie systematisch überfordert. Und zwar in mehrfacher
Weise: Prinzipiell kann Realität nicht vollständig erfaßt werden,
so daß konnotative Theorien immer reduktionistisch sind. Keine
Theorie kann alle beteiligten und möglichen Konfigurationen
zugleich angemessen thematisieren, so daß verschiedene
Thematisierungsstrategien möglich und nötig werden. Multiple
Thematisierbarkeit bedeutet jedoch, daß verschiedene, nicht
reduzible Theorien koexistieren. Zugleich sind diese Theorien nicht
eindeutig, so daß jede(r) einen eigenständigen Gebrauch entwickelt.
Konnotative Theorien bieten einen mehr oder weniger unscharfen
Thematisierungskorridor, was dazu führt, daß auch Vertreter des
gleichen Ansatzes zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen (können).
In jedem Fall müssen konnotative Theorien mit Idealisierungen und
Komplexitätsreduktionen operieren, um ihren Gegenstand überhaupt in
den Griff zu bekommen. Dadurch geraten sie unter Streß: Sie müssen
sich nicht nur gegen Konkurrenz behaupten, sie müssen sich trotz
nicht bewältigbarer Komplexität leistungsfähig präsentieren, also
kontrafaktisch ihre eigenen Möglichkeiten überschätzen. – Damit
ergeben sich eine Reihe von Besonderheiten, die je nach Thema
unterschiedlich ausfallen. Auf alle Fälle gilt, daß konnotative
Theorien keine eindeutige Zeichensprache verwenden können, sondern
mit semantisch komplexen, d. h. unterschiedlich anschlußfähigen
Begriffen operieren, die durch eine der Umgangssprache ähnliche
Grammatik verknüpft sind und damit die jeweiligen Besonderheiten
ihres Themas aktiv hervorheben. Das heißt vor allem, daß eine
entsprechende aktive Leistung verlangt wird, die über das, was jede
Theorie verlangt, hinausgeht: Theoriegebrauch impliziert hier die
Auswahl und semantische Profilierung der Begriffe, die Herstellung
passender Verbindungen und deren Gewichtung usw. Erst in ihrer
Anwendung werden Theorien konkret und produktiv. Dabei ist
Theoriekompetenz nicht identisch mit Anwendungskompetenz.
Hierbei sind vor allem zwei Dinge bedeutsam: Das Risiko des
Scheiterns und die Abhängigkeit von Rahmenbedingungen. Eine
abschließende, wasserdichte Theorie ist nicht möglich. Jede
konnotative Theorie ist und bleibt riskant und exponiert, bleibt
daher auch kritisierbar. Gleichzeitig nehmen die vielfältigen
Möglichkeiten des Scheiterns mit der strukturellen Unsicherheit zu.
Wo jedoch Spielräume für Definitionen bestehen, wo so oder auch
anders entschieden werden kann, haben die Entscheidungsbedingungen
eine zentrale Steuerungsfunktion. Damit hängt Theorieentwicklung
direkt wie indirekt von institutionellen Verhältnissen ab. Was und
wie man denkt, wird (auch) von regionalen Umständen, von
Theoriekonjunkturen und -moden, von Karrieremustern und
Identifikationsmustern beeinflußt. Dadurch stellt sich
Theorieentwicklung auch nicht als gradliniger und akkumulativer
Prozeß dar, sondern als Schlingerkurs, bei dem immer wieder
dasselbe anders angegangen und neu formuliert wird. Strukturelle
Unvollständigkeit und die Abhängigkeit von externen Faktoren sorgen
zugleich dafür, das konnotative Theorien systematisch kontaminiert
sind: Ganz abgesehen davon, daß es keine definitiven Kriterien für
»gute« und »schlechte« Theorien gibt, sind Theorien empirisch meist
Mischungen von Leistungen und Grenzen, von Stärken und Schwächen,
von Erkenntnis und »Ideologie« – und oft ist eines gerade durch das
andere bedingt. Alle diese Eigenheiten zwingen zu permanenten
Selbstvergewisserungsbemühungen, an deren Ende jedoch wieder neue
Probleme und ein neuer Dissens steht. Theoriefortschritt ist unter
diesen Umständen vor allem eine Erweiterung des verfügbaren
Spektrums an Thematisierungsstrategien und eine genauere Kenntnis
ihrer Leistungen und Risiken.
Damit wird deutlich, daß die Nähe von Webers Konzeption des
»Idealtyps« und dem psychoanalytischen der »Deutung« kein Zufall
ist. Beide zielen auf die Probleme der Begriffekonnotativer
Theorien und ihrer Verwendung. Bei genauerem Hinsehen wird
allerdings auch deutlich, daß beide nicht identisch sind und noch
keine hinreichende Beschreibung des Problembestands erlauben.
Webers »methodologischer Rationalismus« will gegen die empirische
Komplexität die logische Eindeutigkeit hervorheben. Die Deutung ist
eine situativ treffende Realisierung einer komplexen
Beziehungsdynamik. Sowohl Logifizierung als auch
nicht-reduktionistische Realisierung von Komplexität gehören zur
Leistung von Begriffen. Sie müssen jedoch im Kontext ihres
Gesamtprofils gesehen werden, welches die Balance von Theoriebedarf
und Praxisbedarf, von Allgemeinem und Besonderem, von Möglichkeit
und Wirklichkeit einschließt. Vor allem müssen dabei jedoch auch
die Risiken und Kosten mitbedacht werden. In dieser Perspektive
geht es um die interne wie institutionelle Problematik der
Theoriebalance. Aus dieser Sicht ist also nicht nur die
»Metapsychologie« betroffen. Die Unterscheidung zwischen
(klinischer) »Psychologie« und »Metapsychologie« ist ohnehin
unglücklich. Wörtlich verstanden müßte dies heißen, daß letztere
alles umfaßt, was nicht psychologisch an der Psychologie ist.
Gemeint war von Freud aber eine Allgemeine Psychologie des
Unbewußten. Seine Formulierungen legten jedoch das Mißverständnis
einer identifizierbaren und kalkulierbaren Psycho-Mechanik nahe.
Wir wissen heute, daß dies noch nicht der Weisheit letzter Schluß
ist. Der heutige Stand der Dinge legt eher nahe, daß das Dilemma
der multiplen Thematisierbarkeit die immer wieder beklagte
Unübersichtlichkeit zur Folge haben muß, so daß nichts übrig
bleibt, als den Stein immer wieder bergauf zu rollen.
Aus dem gleichen Grund ist auch fraglich, ob die von Heim zu Recht
beklagten Defizite der psychoanalytischen Sozialpsychologie im
deutschsprachigen Raum wirklich dadurch bedingt sind, daß man nicht
oder zu spät Lacan usw. zur Kenntnis genommen hat. Das Dilemma
liegt m. E. tiefer: Psychoanalytische Theorie muß sich in kultur-
und sprachspezifischer Form differenzieren, was neben Anregungen
auch Miß- und Unverständlichkeiten bedingt. Die kulturspezifischen
Theorien müssen ihren eigenen Weg gehen. Ganz abgesehen davon, daß
Lacan seinerseits ja auch nicht unbedingt das rezipiert hat, was
anderswo angeboten wurde, ist ein einfacher Theorieimport – wie
dies bei denotativer Theorie problemlos möglich ist, weil sie
kontextfrei funktioniert – keine Lösung. Systemtheoretisch würde
man sagen: Andere Angebote sind »Perturbationen«, die jedoch mit
eigenen Mitteln bewältigt werden müssen. Daran fehlt es. Und dies
hat auch sehr handfeste, gut bekannte Gründe: Als therapeutische
Institution fehlt es der Psychoanalyse an hinreichenden Ressourcen
für den Aufbau einer professionell betriebenen Forschung und
Entwicklung in bezug auf ihre nichttherapeutischen Anwendungen.
Auch Heims Überlegungen zur Theorieform müssen in einem weiteren
Kontext gesehen werden. Er schreibt, »daß der Essay auch in diesem
Anwendungsbereich eine der psychoanalytischen Haltung angemessene
Darstellungsform« (S. 12) sei, und stellt den Essay den »rituellen
Exerzitien, die ansonsten im Diskurs zwischen Psychoanalyse und
Gesellschaft gerne veranstaltet werden« (a. a. 0.) gegenüber. Mit
Blick auf die Problematik der theoretischen Erfassung
autopoietischer Realität läßt sich festhalten, daß konnotative
Theorien über verschiedene Modalitäten verfügen müssen. Die Arbeit
an konkreten Ereignissen verlangt das Eingehen auf die
verschiedenen Ebenen und Referenzen, so daß die Darstellungen
methodisch auch entsprechend heterogen sind. Daß zu »Erzählung« und
»Beschreibungen« gegriffen wird, ist die zwangsläufige Folge der
Notwendigkeit, Entwicklungen und Besonderheiten von Konfigurationen
zu erfassen. Sie sind aus den genannten Gründen jedoch zur
Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit verdammt – keine konnotative
Theorie kann ihr Thema logisch und empirisch erschöpfend behandeln.
Von daher handelt es sich immer um Essays: Versuche. Ein nicht
regelgeleitetes Vorgehen ist daher eine Art Notwehr gegen die
Gegenstandskomplexität und zugleich ein Verfahren, das Tempo der
Argumentation durch Abkürzungen, Verweise etc. zu steigern. Damit
kann mehr und schneller argumentiert werden. Das Risiko liegt
jedoch auf der Hand: Es geht nicht ohne Kurzschlüsse, ohne
Festlegungen, wo die Dinge kompliziert sind, ohne Ausblendungen,
wobei Entscheidungen intuitiv fallen. Dies ist schon bei
empirischen Studien heikel, kann jedoch durch eine hinreichende
Erfahrungsbasis neutralisiert oder wenigstens relativiert werden.
Dennoch kommen auch empirische Studien nicht ohne Anknüpfung an im
Prinzip systematisch angelegte Begriffs‑ und Theorieebenen aus. –
In bezug auf sozialpsychologische Studien gilt Ähnliches. Auch hier
ist essayistisches Vorgehen ein mögliches und unvermeidliches
Instrument. Es erscheint mir jedoch notwendig, dies durch
begleitende Diskurse abzusichern. Dies muß neben der Kritik auch
immer die Metakritik, d. h. die systematische Reflexion
einschließen. Heims Kritik an den »rituellen Exerzitien« ist daher
inhaltlich sicher richtig (wenn man an so manche Spiegelfechtereien
denkt), aber sie darf nicht als Argument gegen eine beharrliche
Weiterentwicklung auch auf der Ebene der Systematik
interdisziplinärer Diskurse mißverstanden werden.
Die bloße Essayistik führt jedenfalls immer wieder zu
problematischen Effekten. Heim gehört mit Sicherheit zu den
Psychoanalytikern, die sich sehr intensiv mit dem auseinander
setzen, was außerhalb passiert und diskutiert wird. Schon der Blick
in die Literaturliste, aber auch die Lektüre zeigt, wie intensiv er
externe Themen und Anregungen aufgreift. Trotzdem bin ich als
Soziologe nicht immer zufrieden. Soziale Realität erscheint in
Heims Reflexionen öfters als homogene Einheit, d. h. weder
Differenzen noch Heterogenitäten werden hinreichend einbezogen.
Außerdem werden die internen Leistungen der Soziologie
Erkenntnisse, Methoden, Theorien – nicht wirklich berücksichtigt.
Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, daß er als Pendant zum
ausgebildeten Psychoanalytiker (dessen Zugang zum individuellen
Unbewußten professionell ausgebildet ist) sich »die
Diskursfähigkeit einer aufgeklärten und gebildeten Öffentlichkeit,
in der die Resonanz kulturanalytischer Deutungen vernehmbar wird«
(S. 133), vorstellt – und nicht den ebenso professionell
ausgebildeten Sozialwissenschaftler. Selbstverständlich ist auch
eine gebildete Öffentlichkeit zur Reflexion sozialer Realität fähig
– so, wie sie auch psychische Realität bedenken kann und muß. Dies
ist Grundlage und Bedingung jeder Weiterentwicklung von Reflexion.
Reichweite und interne Differenzierung dieser Reflexion im
laufenden sozialen Prozeß sind jedoch eingeschränkt. Sie bleiben
unsystematisch und funktionieren in einem die Möglichkeiten
begrenzenden Kontext – sonst bräuchte man weder Psychoanalytiker
noch Sozialwissenschaftler. Beide Leistungen können jedoch nicht
beliebig kombiniert werden. Dies hat quantitative und qualitative
Gründe. Schon eine Fähigkeit zu meistern, in einem Fach auf der
Höhe zu sein und zu bleiben, ist mit zunehmender Entwicklung kaum
möglich. Aber auch die Einstellung auf eine andere, fremde, weil in
zentralen Punkten anders operierenden Perspektive ist schwierig.
Ich möchte Robert Heim daher raten, sich kompetente Partner zu
suchen – die »gebildete Öffentlichkeit« ist dafür jedoch insofern
keine Idealbesetzung, als sie in bezug auf Gesellschaftsanalyse
genauso wenig professionell ausgebildet ist wie in bezug auf
Psychoanalyse.
Angesichts der bedrohlich wirkenden Möglichkeiten der
Künstlichkeit, der Manipulation und der »Immaterialisierung« von
Realität schließt Heim: »Es ist schließlich mit einiger
Erleichterung anzunehmen, daß zumal psychoanalytische Bücher
papiern werden, weil auch sie nie alles zu fassen vermögen und ihre
Lecks haben.« (S. 434) »Papiern« ist hier nicht pejorativ gemeint,
sondern als Hinweis auf die Erdung, die Bindung an eine Aufgabe,
die zwar nicht zu lösen, aber durch Bearbeitung besser zu
bewältigen ist. In genau diesem Sinn braucht die Psychoanalyse mehr
Bücher wie dieses.