Rezension zu Scheidungskinder - Wege der Hilfe

Psychoanalytische Familientherapie 6/2003

Rezension von Elisabeth Grotmann

Mit diesem Buch möchte ich eine Fundgrube an Einsichten, Erklärungen und Erkenntnissen vorstellen für all diejenigen, die als Helfer einen elterlichen Trennungsprozess begleiten, die Reorganisation der Familie unterstützen oder die Schwierigkeiten einer Zweitfamilie verstehen wollen. Helmuth Figdor zeigt Wege der Hilfe für Scheidungskinder, in dem er sich vor allen Beteiligten zuwendet – Müttern, Vätern und Kindern – und für sie Räume des Verstehens öffnet.

Der Autor ist Psychoanalytiker, Erziehungsberater in einer privaten Praxis. Sein Denken und Handeln beruht auf den Konzepten der »Psychoanalytischen Pädagogik«, die er auch als Dozent am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Uni Wien vertritt.
Mit der Verbindung von Theorie und Praxis führt uns Helmuth Figdor auf leichte, gut lesbare Weise durch ein schwieriges Terrain: die Scheidung als Prozess, nicht als Ereignis und zwar als Prozess zwischen Trauma und Hoffnung.
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel, dem »Trauma« Scheidung ist das erste und ausführlichste gewidmet.
»Der offenbarte Schmerz ist der einzige Schmerz, der auch bewältigt werden kann» ist das Leitthema, mit dem Figdor die verschiedenen Ebenen ausleuchtet:
wie Kinder und Eltern die Zeit der Trennung erleben, die Problematik der elterlichen Kooperation nach der Scheidung, neue Partnerschaften der Eltern und schließlich die Langzeitfolgen der Scheidung.

Trennung sieht Figdor nicht nur gebunden an die aktuelle Situation, sondern er erinnert an die innere Vernetzung mit der Vergangenheit eines jeden Menschen, die bei jedem Trennungserlebnis frühere Erlebnisse mit Trennungen wieder aufleben lässt. So nennt er mehrere »Arten von Symptomen» bei Kindern, die nach der Scheidung auftreten und mit Blick auf die Langzeitfolgen unterschiedlich bedenklich sein können. Diese Systematik bringt nicht nur Hilfe für die Diagnostik, sondern der Autor beschreibt auch sehr einfühlsam, wie es zu diesen Symptomen kommen kann:
Dabei inspiriert er den Leser, sich mit dem Kind zu identifizieren, indem er es selbst sprechen lässt. Die kindliche widersprüchliche Gefühlswelt wird sichtbar, wenn es z.B. heißt: »Es ist ganz schlimm, zwei Menschen lieb zu haben und gleichzeitig zu merken, daß ich das eigentlich nicht dürfte und sollte, weil ich spüre, daß die Mama erwartet, dass ich den Papa ebenso wenig lieb habe, wie sie es inzwischen tut«. (S. 43)

Besondere Aufmerksamkeit kommt der Rolle des Vaters zu. Der Autor weist dem Fortbestand der Beziehung zum Vater eine existenzielle Bedeutung zu. Nicht nur aus den Ängsten des Kindes heraus, den Vater ganz zu verlieren, sondern auch aus seiner Triangulierungsfunktion und dem Anteil des Vaters am Identitätsgefühl des Kindes lässt sich diese Bedeutung erklären.
Dabei betrachtet Figdor wiederum nicht nur die aktuelle Situation, sondern richtet auch seinen Blick auf die Zeit davor: Welchen Platz hat der Vater vorher im Leben des Kindes eingenommen, wie haben die Eltern den Übergang von der Zweisamkeit auf das familiäre Dreieck gestaltet? Wurde der Vater in die zweite Reihe verwiesen, hat er sich enttäuscht abgewendet?

Als Beraterin in einer Familienberatungsstelle fand ich diese sorgfältige Diskussion der Rolle des Vaters aus den verschiedenen Perspektiven sehr ermutigend, stellt sie doch einen Ansatz dar, Spaltungen vermeiden zu helfen.
Langzeitfolgen der Scheidung werden sowohl in Bezug auf die Frage der Geschlechtsidentität als auch auf die Problematik in den späteren Partnerschaften der Scheidungskinder diskutiert.
Ganz besonders wichtig empfand ich auch die Hinweise auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Scheidung als Folie, auf der sich das individuelle Scheidungsschicksal abspielt. Figdor nennt mehrere Einflussfaktoren, die auf die Traumatisierung und Verarbeitung durch die elterliche Trennung einwirken, und wägt ihre Bedeutung ab.
Dem »Trauma« Scheidung stellt er die Scheidung als »Chance« gegenüber.
Er nennt Variablen, deren Vorhandensein es möglich machen, die schwere psychische Belastungssituation in Grenzen zu halten und darüber hinaus positiv an der Persönlichkeitsentwicklung beteiligt sein zu können. Müssen Symptome bekämpft werden, fragt Figdor schließlich oder sollten sie nicht eher als Fragen aufgefasst werden, die beantwortet werden wollen. Symptome als Sprache?
Der Autor beschreibt an Beispielen, wie Gefühle der Kinder erlebbar gemacht werden können.
Kinder erleben nicht die Trennung der Eltern, sondern die Trennung eines Elternteiles vom Kind und geben sich selbst dafür die Schuld. Gelingt dieser Prozess des Sichtbarmachens der inneren Scheidungsreaktion, dann steht der Angst vor Wiederholung des Trennungstraumas die Fähigkeit sich zu trennen gegenüber, die Fähigkeit zu selektiver Identifizierung, die beispielsweise besonders in einer Stieffamilie gefördert werden kann, in der der Stiefvater nicht in Konkurrenz zum leiblichen Vater tritt.

Figdor wendet sich auch der Stieffamilie zu, einer Lebensform, die er in einem Kontinuum sieht: funktionierende Kernfamilie, Konfliktfamilie, Scheidungsfamilie, Stieffamilie. Ihr fehlt es an Vorbildern in den einzelnen Rollen. Deshalb ist die genauere Betrachtung dieser Familienform als Folge der Scheidung mit ihren Auswirkungen auf das Erleben der Kinder hilfreich und konsequent.

Der Autor stellt anschließend das Konzept der psychoanalytisch-pädagogischen Beratung von Scheidungseltern vor.
Die Psychodynamik des Scheidungsgeschehens wird in zahlreichen Facetten beschrieben.
Wie ist den Eltern zu helfen, damit diese ihre Kinder verstehen.
Traditionelle Elternarbeit zielt primär auf Einsicht in Handlungsnotwendigkeiten und appelliert an das Über-Ich, muss jedoch häufig unwirksam bleiben, wäre doch mit dem Aufgeben der gegenwärtigen Haltung das seelische Gleichgewicht gefährdet. So geht es also bei diesem Ansatz darum, die Abwehrfunktion bestimmter elterlicher Verhaltensweisen bewusst zu machen.

Figdor versteht diese Art der Beratung als Aufklärung – nicht im rationalen Sinn, etwa als Information, sondern als Hilfe zur Übersetzung auf eine neue Bewusstseinsebene.
Ohnmachts- und Schuldgefühle sind bei Scheidungseltern zwar bewusstseinsnah, müssen jedoch häufig in dramatischen Aktionen abgewehrt werden.
Gelingt es, im Rahmen einer positiven Übertragungsbeziehung zum Berater Über-Ich betonte Einstellungen zu hinterfragen und alternative Anschauungen glaubhaft zu machen, dann werden Veränderungen initiiert, es ändert sich auch die Haltung. Damit ist nicht nur das Erkennen der eigenen Motive gemeint, sondern besonders auch die Einsicht in entwicklungsbedingte scheidungstypische Reaktionen des Kindes. Durch eine derartig veränderte Haltung können Eltern die Erlebnisreaktionen ihrer Kinder viel besser beantworten.

Der Autor grenzt die psychoanalytisch-pädagogische Elternberatung eindeutig vom therapeutischen, psychoanalytischen Setting ab. Es geht in der Elternberatung um einen umschriebenen Bereich der Persönlichkeit, nämlich um bestimmte pädagogisch bedenkliche Haltungen, die von ihrer Abwehrfunktion befreit werden sollen. Die von Figdor vorgestellte Methode bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu anderen Vorgehensweisen, die häufig auf die oberflächliche Befriedung aufgewühlter familiärer Strukturen ausgerichtet sind.

Seine Methode zielt besonders auf die leisen Töne ab und ist für diejenigen geeignet, die sich der Trauer und dem Schmerz stellen wollen.

Das Buch beeindruckt durch seine facettenreiche, ungewöhnlich einfühlsame Sicht auf das Scheidungsgeschehen. Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verarbeitung der elterlichen Trennung werden im Zusammenhang immer wieder aufgegriffen. Ein wenig hat mir hier allerdings die systematische Darstellung gefehlt.

In Fußnoten werden zentrale Begriffe der Psychoanalyse beschrieben, was für die Verständlichkeit der Herangehensweise notwendig ist, die Lesbarkeit aber insgesamt etwas einschränkt.
Diesen Band empfehle ich allen, die Scheidungsfamilien begleiten und von dem Wunsch nach Verstehen und Verständnis geleitet sind.
Für psychoanalytisch orientierte oder interessierte Familientherapeuten kann die beschriebene psychoanalytisch‑pädagogische Beratung für Scheidungseltern identitätsstärkende Wirkung haben und in der Ausbildung vielleicht sogar einen eigenen Schwerpunkt begründen.


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