Rezension zu Gewalt
Freiburger Literaturpsych. Gespräche - Jb f. Lit. u. Psychoanal. Bd 25 2005
Rezension von Udo Rauchfleisch
Gewalt ist ein ubiquitäres Phänomen, das heute aktueller ist denn
je. Terroristische politische Gewalt und Gegengewalt,
Selbstmordattentate, Amoklauf von Erwachsenen und Jugendlichen,
Gewalt in Familien und viele andere Formen gewalttätigen Handelns
beunruhigen die Öffentlichkeit und fordern die Wissenschaftlerlnnen
der verschiedenen Disziplinen auf, sich mit diesem Phänomen
auseinander zu setzen. Die Herausgeber haben ein von der
Universität Basel finanziertes Forschungsprojekt initiiert und eine
interdisziplinäre Vorlesungsreihe zum Thema Gewalt organisiert. Im
vorliegenden Buch sind die Beiträge dieser Ringvorlesung
enthalten.
Nach einer von Anton Hugh vorgenommenen grundsätzlichen Klärung
dessen, was unter Gewalt zu verstehen ist, folgen im ersten
Hauptteil des Buches Beiträge von Joachim Küchenhoff, Raymond
Battegay, Bernhard Küchenhoff und Barbara Hiss zur Frage nach dem
Umgang von Psychiatrie und Psychotherapie mit Gewalt. Das zweite
Hauptkapitel ist den soziologischen Aspekten der Gewalt gewidmet
und enthält Beiträge von Alfred Krovoza, Ueli Mäder, Alex
Demirovic, Wassilis Kassis, Matthias Drilling und Georg P. Müller.
Interkulturelle Aspekte der Gewalt werden von Claudia Opitz und
Rebekka Ehret im dritten Hauptkapitel und politischrechtliche
Aspekte von Barbara Merker, Mark Pieth und Dusan Simko im vierten
Teil behandelt.
Es ist schwierig, die Fülle von Befunden dieses informativen Buches
im Rahmen einer Rezension zu würdigen. Ich möchte hier zwei
Beiträge auswählen und an ihnen exemplarisch aufzeigen, worum es
den AutorInnen dieses Buches geht. Zum einen ist es der einleitende
philosophische Beitrag von Anton Hügli zur Klärung dessen, was wir
unter Gewalt verstehen. Der Autor geht bei einer phänomenologischen
Annäherung von den beiden Aspekten »Gewalt erleiden« und »Gewalt
ausüben/Gewalt verursachen« aus. Bei der Betrachtung des ersten
Aspekts kommt Hugh zum Schluss, dass Gewalt erleiden heißt, eine
negative Einwirkung zu erfahren, die sich gegen Leib und Leben,
gegen die Freiheit, gegen Hab und Gut oder gegen die soziale
Existenz des Menschen richten kann. Diese Erfahrung wird als
»negativ« charakterisiert, weil sie vom Opfer als leidvoll und
schmerzlich erlebt wird oder als objektiv schädigend, verletzend,
zerstörend oder vernichtend bezeichnet werden kann. Im Hinblick auf
die Ausübung und Verursachung von Gewalt unterscheidet Hügli die
intentionale Gewaltausübung, die drei Formen umfasst: die
beabsichtigte Gewaltausübung, die instrumentelle Ausübung von
Gewalt und die in Kauf genommene Verletzung anderer, und er trennt
davon die (unbeabsichtigte) Gewaltverursachung. Schließlich geht
der Autor auf die Phänomene der institutionellen und der
strukturellen und kulturellen Gewalt ein. Wie die Ausführungen
Hüglis am Beginn dieses Buches zeigen, ergeben sich aus den
verschiedenen Formen der Gewalt spezifische Fragen und Probleme,
die in den folgenden Beiträgen behandelt werden.
Der zweite Beitrag, der exemplarisch etwas ausführlicher besprochen
werden soll, ist der von Matthias Drilling »Abschied von isolierten
Lösungen schulischer Gewaltprävention: Perspektiven eines
integrativen Kooperationsmodells zwischen Sozialer Arbeit und
Schulpädagogik«. Gewalt in Schulen ist eines der brennendsten
Probleme unserer Zeit. Bisher sind bei Gewaltereignissen in Schulen
vor allem Strategien verwendet worden, bei denen die Schule in
additiver Form mit der Sozialen Arbeit zusammenarbeitet, d. h. dass
es lediglich zu einer punktuellen Zusammenarbeit kommt und die
Schule die Form des Zugangs zu den SchülerInnen definiert. Drilling
stellt dieser Form der Zusammenarbeit ein integratives
Kooperationsmodell gegenüber, bei dem keine räumlich
organisatorische Trennung zwischen Schule und Sozialer Arbeit
besteht und das eine längerfristige Ergänzung zum erzieherischen
Wirken der Schule darstellt. Die Tätigkeitsfelder dieses Modells
umfassen Individualhilfe, Soziale Gruppenarbeit, Projektarbeit und
Gemeinwesenarbeit. Die Schulsozialarbeit versteht sich nicht mehr
als »Pannendienst« oder Krisenintervention, sondern setzt sich die
Förderung der Persönlichkeit, die Unterstützung von Kompetenzen bei
der Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben und die mittelfristige
Integration des Kindes/Jugendlichen in die Gesellschaft zum Ziel.
Die Zusammenarbeit der Schule mit Fachpersonen der Sozialen Arbeit
wird von Drilling einem Frühwarnsystem gleichgestellt, in dem sich
anbahnende Konflikte und sozialisationsrelevante
Entwicklungsaufgaben wahrgenommen und gemeinsam thematisiert werden
können. Das von Küchenhoff, Hugh und Mäder herausgegebene Buch
spannt einen weiten Bogen der Gewaltmanifestationen in den
verschiedenen Lebensbereichen und ist allen, die sich fur das
Phänomen der Gewalt, ihre Behandlung und Prävention interessieren,
unbedingt zu empfehlen.