Rezension zu Die Dispersion des Unbewussten
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Rezension von Rainer Zuch
Dezentrierte Subjekte
Thomas Khurana erklärt, warum man das Unbewusste als Prozess
verstehen soll
Die Psychoanalyse bekam von Anfang an Gegenwind. Auch heute, wo sie
sich längst etabliert, zahlreiche Diversifikationen erfahren und
viele benachbarte und entferntere Disziplinen durchdrungen hat,
sind die Diskussionen um ihren Sinn und Zweck noch nicht verstummt.
Kritiker und Befürworter sind sich nur selten einig. Die Auffassung
einer zentralen Kategorie der Psychoanalyse und der
Tiefenpsychologie generell, nämlich des Unbewussten, als eines
gegebenen, substanziell vorhandenen Teils der Psyche, ist so ein
Fall: Es gibt »das Unbewusste«, und selbst wer dieses Konzept
ablehnt, bestätigt es ex negativo, wenn er behauptet, es gäbe »das
Unbewusste« nicht.
Thomas Khurana verfolgt einen ganz anderen Ansatz, den man als
operational bezeichnen könnte. Er fragt nicht danach, was das
Unbewusste sei, sondern, wozu der Begriff des Unbewussten diene,
was er beschreiben solle und könne, also auch, wozu er im Laufe der
Psychologiegeschichte benutzt wurde. Damit erteilt er der
substanzialistischen Auffassung vom Unbewussten eine Absage und
plädiert für dessen Beschreibung als Prozess und als den Wandlungen
des Gesamtsystems Psyche unterworfenes Teilsystem.
Hier schimmert nicht zufällig Systemtheorie und
poststrukturalistisches Gedankengut durch. Für seinen Ansatz wählt
Khurana durchaus folgerichtig einen Dreischritt von Freud über
Lacan zu Luhmann.
Als Ausgangspunkt dient ihm Freud als Begründer des modernen
Konzepts vom Unbewussten, das gar nicht so abgeschlossen und
ausformuliert war, wie Freund und Feind gerne glauben machen
wollen. Vielmehr weist es offene Stellen auf, an denen eine
nicht-substanzialistische Auffassung anschließen kann. So erfasste
Freud das Unbewusste vor allem über die von ihm bewirkten
psychischen Prozesse, die einen Zustand in einen anderen überführen
und so einen systemtheoretischen Begriff von Differenz anschließbar
machen. Außerdem ging er davon aus, dass sich ein psychisches
System nicht vollständig bestimmen lasse und somit offen bleiben
muss.
Lacan fasste als erster das Unbewusste wie auch das Subjekt als
einen sich in der Zeit entfaltenden dynamischen Prozess auf und
leitete daraus die prinzipielle Unbestimmbarkeit und
Unabgeschlossenheit der Psyche ab. Das Fehlen von festen »Umrissen«
des Subjekts, woraus Lacan das Konzept der »Dezentrierung des
Subjekts« entwickelt, sei maßgeblich auf unbewusste Prozesse
zurückzuführen.
Luhmanns Systemtheorie liefert einen weiteren Baustein, weil ihr
Systembegriff vollständig prozessual gedacht ist. Sie erlaubt eine
Beschreibung der Psyche als sich aus Teilsystemen bildendes
Gesamtsystem, das keine verortbare »Substanz« hat, sondern sich in
Interaktionsprozessen zwischen dem sich verändernden Gesamtsystem
und seiner Umwelt konstituiert.
Das streckenweise nicht ganz einfach zu lesende Buch liefert
interessante Ansätze zu einem erweiterten Verständnis vom
Unbewussten, die weiterzuentwickeln sich lohnen würde.
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