Rezension zu Phänomen geistige Behinderung
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 17
Rezension von Michael Wininger
Psychoanalyse und Heilpädagogik teilen seit jeher zentrale
Erkenntnisinteressen: Beide Disziplinen ringen darum, möglichst
differenziert zu verstehen, welche innerpsychischen und
psychosozialen Prozesse dazu führen können, dass Menschen in
wesentlichen Bereichen ihres Erlebens, Wahrnehmens, Denkens und
Handelns eingeschränkt, also »behindert« sind. Sowohl Heilpädagogik
als auch Psychoanalyse sind ferner darum bemüht, Praxisformen zu
entwickeln und zu etablieren, die dazu beitragen sollen, derartigen
Einschränkungen prophylaktisch vorzubeugen oder diesen lindernd
bzw. auflösend zu begegnen.
Ungeachtet dieser wesentlichen Gemeinsamkeiten zeigten sich die
Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen über lange Phasen ihrer
Entwicklungsgeschichte primär an heilpädagogischen Fragen und
Problemstellungen interessiert, die der
»Verhaltensgestörteflpädagogik« zugerechnet werden können. Auf
Fragen von geistiger Behinderung bzw. mentaler Beeinträchtigung
wurde in der Psychoanalyse hingegen lange Zeit kaum eingegangen, da
unter Analytikern und Analytikerinnen über Jahrzehnte hinweg die
Auffassung weithin geteilt wurde, dass innerpsychische Prozesse von
Menschen mit geistiger Behinderung – aufgrund eingeschränkter
verbaler Kompetenzen – kaum der psychoanalytischen Behandlung und
damit einem vertieften Verstehen zugänglich wären.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese Einschätzung
deutlich geändert, sodass mittlerweile eine beachtliche Fülle an
einschlägigen Veröffentlichungen vorliegt, in denen sich Autorinnen
und Autoren aus einer psychodynamischen Perspektive mit Fragen im
Kontext von geistiger Behinderung und mentaler Beeinträchtigung
befassen (vgl. etwa die Übersichtsarbeiten von Fröhlich 1994,
Ciobano-Oberegelsbacher 1996 oder Preiß 2008). Psychodynamisch
orientierte Veröffentlichungen in der jüngeren Vergangenheit weisen
zwar teilweise sehr unterschiedliche Zugänge und Themenstellungen
auf, teilen aber über weite Strecken zwei zentrale Grundanliegen:
Zum einen versuchen psychodynamisch orientierte Autorinnen und
Autoren verstärkt herauszuarbeiten, inwiefern sich »Behinderung«
als Folge komplexer psychosozialer Wechselprozesse konstituiert und
insofern nicht als unmittelbarer Ausdruck einer individuellen
Schädigung verstanden werden kann. Zum anderen nehmen jüngere
Arbeiten zusehends in den Blick, welchen Einfluss bestimmte
Beziehungserfahrungen auf die Ausbildung und Verfestigung
bestimmter mentaler Strukturen nehmen bzw. inwiefern es in diesem
Kontext zu »behindernden« Entwicklungsproblemen kommen kann. Aus
psychodynamischer Perspektive ist keinesfalls eine
»Psychologisierung« des Phänomens »geistige Behinderung«
angestrebt. Vielmehr zielt ein psychoanalytischer Zugang im Kern
darauf ab, geistige Behinderung als psychosozial bedingtes Problem
zu beschreiben, zu untersuchen und damit auch einer sozialen –
insbesondere pädagogischen – Einflussnahme zugänglich zumachen.
In dieser Tradition stehend legten Thomas Mesdag und Ursula Pforr
in der Buchreihe »Psychoanalytische Pädagogik« des
Psychosozial-Verlags einen hoch interessanten Sammelband vor.
Mesdag und Pforr monieren, dass geistige Behinderung zwar im
wissenschaftlichen Diskurs zusehends als »soziale Kategorie«
wahrgenommen und untersucht werde, dieses Behinderungsparadigma in
Gesellschaft und pädagogischer Praxis hingegen aber immer noch kaum
vollzogen sei (8). »Allen Erfahrungen und wissenschaftlichen
Erkenntnissen ... zum Trotz« würde »unter dem zunehmenden
Kostendruck« in den letzten Jahren vielmehr sogar ein
defektologischer bzw. Medizinisch-reduktionistischer
Behinderungsbegriff »eine Art Renaissance erleben« (9).
Mesdag und Pforr nehmen diesen problematischen Befund zum Anlass,
um in ihrem Band insgesamt zehn Beiträge zu versammeln, die jeweils
verschiedene Aspekte und Dimensionen des Phänomens »geistige
Behinderung« beleuchten und dabei vor allem die (psycho-) soziale
Bedingtheit von Behinderung ins Zentrum rücken. Vor dem Hintergrund
eines psychoanalytisch-pädagogischen Verstehensansatzes versuchen
die Autorinnen und Autoren herauszuarbeiten, inwiefern sich
psychodynamische Theorien, Konzepte und Ansätze als besonders
relevant und hilfreich für die Geistigbehindertenpadagogik erweisen
können. Die einzelnen Beiträge decken dabei ein breites
thematisches Spektrum ab, das sich folgendermaßen umreißen
lässt:
Im ersten Beitrag des Sammelbandes steckt Dieter Mattner den
theoretischen Bezugsrahmen des Buches ab, indem er unter anderem
das Konstrukt »geistige Behinderung« kritisch diskutiert und es
unter Berufung auf Jantzen als sozial determinierte Kategorie
ausweist. Im umfangreichen zweiten Beitrag skizziert Manfred
Gerspach die Grundzüge einer psychoanalytischen Heilpädagogik,
wobei er ihren Gegenstandsbereich und theoretischen Bezugsrahmen
darstellt und diskutiert.
Im Anschluss an Gerspachs rahmentheoretische Überlegungen widmen
sich Dieter Katzenbach und Gerlinde Uphoff dem Widerspruch der
»verordneten Selbstbestimmung«. Anhand zweier Fallbeispiele
zeichnen sie nach, in welcher Weise ein pädagogisches Bemühen um
Selbstbestimmungsförderung mitunter in subtilen Formen von
Entmündigung enden kann.
Christian Gaedt befasst sieh mit dem problematischen Verhältnis von
Psychiatrie und Behindertenpädagogik. Psychiatrischen
Interventionen – so die Einschätzung des Autors mangle es häufig an
medizinischer und/oder therapeutischer Legitimation. Vielmehr
würden Maßnahmen, wie das Verabreichen von Psychopharmaka oder die
Verordnung von stationären Klinikaufenthalten mitunter in erster
Linie im Dienste von Disziplinierung und nicht von
Entwicklungsforderung stehen. Vor diesem Hintergrund fordert Gaedt
die Schaffung von Kontrollsystemen bzw. Fachdiensten, welche für
die Qualitätssicherung im Bereich der Behindertenpsychiatrie Sorge
zu tragen hätten.
Ursula Pforr und Alfred Ising erläutern, inwiefern sich ein
psychodynamischer Verstehensansatz im Bereich der ambulanten
Betreuungsarbeit von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung
als hilfreich und sinnvoll erweisen kann. Unter Bezugnahme auf
Fallmaterial zeigen die Autorin und der Autor nicht nur die
Möglichkeiten, sondern vor allem auch die Grenzen psychodynamisch
orientierter Beziehungsarbeit auf
Albrecht Rohrmann beschäftigt sich kritisch mit dem Modell der
»offenen Hilfen«, welches er potentiell dazu angetan sieht, eine
wesentliche Alternative zur Hilfe in Sondereinrichtungen
darzustellen. Jedoch – so befindet der Autor – dürften offene
Hilfen heute immer noch bestenfalls eine Ergänzung zu dem
vorherrschenden stationären Angeboten darstellen. Worin dieser Um-
bzw. Missstand gründen könnte, ist Gegenstand von Rohrmanns
weiteren Überlegungen.
Wolfgang Urban widmet sich dem Spannungsfeld von selbstbestimmtem
Wohnen bei gleichzeitig hohem Hilfebedarf. Er führt anhand von
Fallbeispielen aus, in welcher Weise aufsuchende und ambulante
Hilfen beschaffen sein müssten, damit selbstbestimmtes bzw.
normalisiertes Wohnen auch angesichts erhöhten
Unterstützungsbedarfs gewährleistet werden könne. Davon ausgehend
diskutiert Urban die gegenwärtige Praxis des betreuten Wohnens in
Deutschland und hält dieser einige grundsätzliche Einwände
entgegen.
Unter den Vorzeichen von Qualitätssicherung werden Menschen mit
geistiger Behinderung in den letzten Jahren vermehrt über ihre
Zufriedenheit mit bestimmten Betreuungsangeboten befragt. Thomas
Mesdag und Elke Hitzel greifen diese Entwicklung auf und
problematisieren das mangelnde Methodenbewusstsein vieler Autoren
sowie den vielfach unkritischen Einsatz von standardisierten
Fragebogen, die durch vorweg definierte Kategorien Antworttendenzen
festlegen und dadurch das Anliegen der Selbstbestimmung
konterkarieren würden.
Den Band beschließt ein Artikel von Ursula Pforr, in welchem sie
sich mit dem kontrovers verhandelten Thema der Eltemschaft von
Menschen mit geistiger Behinderung beschäftigt. Unter Bezugnahme
auf den Film »In Sachen Kaminski« informiert sie über aktuelle
Problemlagen im Umgang mit der Thematik und diskutiert verschiedene
Modelle von »begleiteter Eltemschaft«.
Die einzelnen Beiträge des Sammelbands decken ein breites
thematisches Spektrum ab, das streckenweise auf durchaus
anspruchsvollem theoretischem Niveau erläutert und bearbeitet wird.
Zugleich sind die Artikel durch reichhaltiges Fallmaterial
durchwegs anschaulich, kurzweilig und gut nachvollziehbar gehalten.
Der lesenswerte Sammelband dokumentiert eindrücklich, wie fruchtbar
sich ein psychodynamischer Verstehensansatz im Bereich der
Geistigbehindertenpadagogjk erweisen kann und lässt auf eine
fortschreitende Intensivierung des Dialogs zwischen Psychoanalyse
und (Heil-)Pädagogik hoffen.