Rezension zu Nonverbale Dialoge in der psychoanalytischen Therapie
Psychotherapie und Sozialwissenschaft
Rezension von Dr. Stefanie Wilke
Die qualitativ-empirische Untersuchung von Christian-Widmaier
widmet sich fokussiert dem Aspekt des Handlungsdialogs in
psychoanalytischen Therapien. Es handelt sich um eine
Einzelfallstudie, die sowohl unter klinischen als auch methodischen
Aspekten interessant ist.
Es geht der Autorin vor allem darum, systematisch solche Elemente
von Enactments aufzuzeigen, welche jenseits von Sprache beobachtet
werden können, also Verhalten, Gestik, Mimik und Blickkontakt.
Diese werden zu Mustern des Verlaufes von Handlungsdialogen über
den gesamten Therapieprozess hinweg zusammengefasst.
Nun ist in letzter Zeit zu diesem Thema einiges veröffentlicht
worden. Die vorliegende Arbeit zeichnet sich vor allem dadurch aus,
dass sie sowohl in theoretischer, klinisch-praktischer als auch
methodischer Hinsicht eine besondere Stringenz aufweist. Die
Autorin versteht es als Soziologin und Psychoanalytikerin, die
allgemein soziologische Perspektive von nonverbalen
Alltagsinteraktionen mit den entsprechenden spezifischen Varianten
der psychoanalytischen Beziehung sinnstiftend zu verbinden:
Der erste Teil der Studie beginnt mit theoretischen Ausführungen
zur visuellen Dimension von Begegnungen im Alltag und in der
Psychoanalyse. Es folgen Überlegungen zur Teilnehmenden Beobachtung
als Forschungsinstrument sowie eine ausführliche Übersicht zum
Thema Agieren und Enactment in der Psychoanalyse.
Der zweite, empirische Teil des Buches besteht aus einer
Einzelfallstudie, in der eine länger zurückliegende
psychoanalytische Behandlung der Autorin selbst auf ihre sie
konstituierenden nonverbalen Aspekte untersucht wird. Dabei werden
die herausgearbeiteten Verlaufsmuster von Handlungsdialogen mit der
psychischen Veränderung des Patienten verknüpft.
Ich möchte mich im Folgenden auf die methodischen Aspekte dieser
Arbeit konzentrieren. Das Datenmaterial besteht aus mehreren
Teilen: Die Behandlung wurde von der Autorin während und nach jeder
Stunde aus dem Gedächtnis protokolliert, sodass zunächst ein
Textkorpus der insgesamt 300 Stunden entstand. Der gesprochene
Inhalt wurde dann um die Dimensionen der Beschreibung des von der
Psychoanalytikerin Beobachteten, den Enactments sowie ihrer
fortlaufenden Kommentare zu Inhalt und möglicher Bedeutung des
Geschehenen und, besonders interessant, ihrer Gegenübertrag
ergänzt. Wichtig hierbei ist, dass die Autorin eine Perspektive
einnimmt, die sie selbst als Mitakteurin des Geschehens nicht außen
vor lässt.
Dieses Vorgehen, welches im Methodenkapitel ausführlich beschrieben
wird, führte in der Auswertungsphase zu einer systematischen
Rekonstruktion des Materials unter den Überschriften »Blickdialoge,
Dialoge der Hände, Toilettendialoge und Türdialoge«. Die klinische
und theoretische psychoanalytische Perspektive wurde dabei immer
mit der entsprechenden soziologischen verbunden. In einem nächsten
Schritt erfolgte die Integration dieser einzelnen Perspektiven
unter weiteren klinischen Gesichtspunkten der Veränderung des
Patienten in seiner Behandlung, etwa der Konfliktbearbeitung. Dem
Leser ist somit Gelegenheit gegeben, sich detailliert ein Bild des
Behandlungsverlaufes in seinen unterschiedlichen Schichten der
Bewusstheit, der Körperlichkeit, der unbewussten Inszenierungen in
der therapeutischen Interaktion zu machen und zusätzlich die
Hintergrundkommentare der Analytikerin zu ihrer Gegenübertragung
nachzuvollziehen. Diesbezüglich beispielhaft ist in dieser Arbeit
auch die in der qualitativen Forschung so wichtige Einhaltung des
Gütekriteriums der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der
einzelnen Auswertungs- und Interpretationsschritte, indem
Textausschnitte der Analyse abgedruckt und von ihrer nachfolgenden
Interpretation getrennt werden.
Die Studie von Christian-Widmaier ist sowohl Klinikern als auch
Psychotherapieforschern zu empfehlen. Sie stellt einen Fundus an
theoretischem Wissen zu soziologischen Phänomenen von
Handlungsdialogen in alltäglichen Situationen zur Verfügung und
sensibilisiert Therapeuten für die Vielfalt, Subtilität und
Komplexität dieser Thematik in psychoanalytischen Behandlungen.
Darüber hinaus wird gezeigt, dass sich die systematische
Einzelfallstudie nach wie vor sehr gut als Methode für die
Psychotherapieforschung eignet und sich die Reichweite der
Gültigkeit ihrer Ergebnisse über den Einzelfall hinaus
erstreckt.