Rezension zu Ich, das Geräusch
Tinnitus-Liga Österreich
Rezension von Dr. Peter Geißler
Zum Thema Tinnitus sind innerhalb der letzten 15 Jahre sehr viele
Ratgeber erschienen. Meist stehen medizinisch-technische und
verhaltenstherapeutisch orientierte Ansätze im Vordergrund, und das
Credo der Ratgeber lautet in aller Regel: »Hören Sie weg und
vermeiden Sie Stille«.
Der hier besprochen Ratgeber empfiehlt den genau entgegen gesetzten
Weg: »Hören Sie in sich hinein!« Der Autor des Ratgebers,
psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker sowie
Gruppenanalytiker und tätig in Bremen, macht auf überzeugende Weise
klar, dass jeder Mensch in einzigartiger Weise Gefühle und Gedanken
auf unbewusste Weise auszudrücken versucht – in Symbolen und
Metaphern. Genau solche Symbole gilt es jedoch zu entschlüsseln und
nicht zu ignorieren. Einer von Michael Tilmanns Patienten hat den
sinnlichen Aspekt, der in der Ausdrucksbotschaft des Tinnitus
verborgen ist, im Umkehrung einer allgemein bekannten Redewendung
so auf den Punkt gebracht: »Wer nicht fühlen will, muss hören.«
Tinnitus ist eine Zivilisationskrankheit. Auch wenn sie heute
besonders in industrialisierten Ländern zu so etwas wie einer
»leise Epidemie« geworden ist (knapp 3 Millionen Menschen in
Deutschland leiden an Tinnitus), ist sie doch keine für unsere
Epoche typische Zeitkrankheit; bereits 2700 v. C. gab es
nachweislich eine Tinnitusepidemie, und zwar in Mesopotamien.
Die Zivilisation brachte uns Menschen unzweifelhaft wesentliche
Fortschritte und leitete entscheidende kulturelle Entwicklungen und
Veränderungen in einer fortschreitenden Beschleunigung ein, die mit
dem sehr langsamen Tempo der menschlichen Vorgeschichte überhaupt
nicht zu vergleichen ist. Hierin mag ein Grund liegen, dass wir uns
unmerklich immer stärker von unserer eigenen Natur entfremden.
Vielfach haben wir die Fähigkeit, uns am »Einfach-da-sein« zu
erfreuen, verloren.
In einem ersten gesellschaftskritischen Teil kommt der Autor zu
folgendem Schluss: Da Tinnitus in unserer zivilisierten
Gesellschaft ein globales Phänomen darstellt, muss auch das Problem
ein globales sein! »Weltweit überstützen sich die wirtschaftlichen,
ökologische und damit einhergehend auch kulturellen Veränderungen
und nehmen ein Ausmaß an, bei dem der einzelne Mensch nur schwer
mithalten kann. Innerhalb von wenigen Jahren werden alte, über
Generationen gewachsene Gewohnheiten und Gewissheiten aufgelöst.
Was früher galt, gilt heute oft nicht mehr. Viele fühlen sich
ohnmächtig, die vertraute Welt ist erschüttert, und mit ihr auch
das Subjekt selbst. Ein beunruhigendes Beispiel ist die aktuelle
weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise« (S. 32).
Tinnitus signalisiert aus der Sicht des Autors eine »innere Revolte
angesichts zutiefst verängstigender weltumspannender Umwälzungen
wirtschaftlicher, technologischer und politischer Natur. Die Seele
scheint zu sagen: >Ich will nichts mehr hören von dieser
Welt<« (S. 32).
Vom klassisch-medizinischen Denken unterscheidet sich Tillmann,
indem aus seiner Sicht die Tinnitus-Symptomatik für eine Sinnsuche
des Betreffenden steht: »Das Symptom führt die Menschen in die
Arztpraxen. Doch eine rein somatisch orientierte Medizin scheint
damit überfordert. Ich vermute, weil hier über ein Erleben von Sinn
nicht gesprochen werden kann. Wird jedoch der in der Erkrankung
enthaltene tiefer liegende Konflikt nicht verstanden, bleiben Arzt
und Patient an der Oberfläche des Symptoms verhaftet. Die
unausweichlichen Enttäuschungen und neuen ungelösten Konflikte
müssen wiederum verdrängt werden und führen häufig zu weiteren
Symptomen« (S. 77-78).
Der Tinnitus soll daher nicht einfach wegtherapiert werden wie
durch eine Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT), sondern soll den
Betrofffenen auf den Weg seiner Sinnsuche führen; ohne
professionelle Begleitung wird er dabei kaum auskommen können.
Im mittleren Teil des Buches führt der Autor in
entwicklungspsychologisch wichtige Bezüge ein. Er verweist auf die
Wichtigkeit des stimmlichen Dialoges zwischen dem Kind und seinen
Eltern, der bereits im Mutterleib während der Schwangerschaft
beginnt und dessen emotionale Bedeutung im Zuge der neuen
pränatalen Forschung ans Tageslicht kommt. Der Bezug zum
therapeutischen Vorgehen wird nahtlos hergestellt: »Wie in der
frühen Kindheit ist eine >Mutter< nötig, die den
Lautäußerungen (des Babys) Sinn geben kann« (S. 58). Die Eltern
dekodieren die Lautäußerungen ihres Kindes und geben ihnen Sinn;
wenn sie dies nicht gelingt, entgleist der frühe Dialog. Ähnlich
ergeht es dem Tinnitus-Betroffenen, sein Ohrgeräusch erscheint ihm
sinn-los.
Tinnitus ist eine Form moderner Hysterie. Im Tinnitus schlagen sich
unbewusste Fantasien nieder, die nur über den körperlichen Ausdruck
mitgeteilt werden können. Das Unbewusste gibt sozusagen den Ton an
– Tinnitus ist auf diese Weise ein körperlicher Ausdruck der
Seele.
Es wird erklärt, was es mit dem nicht unmittelbar verständlichen
Begriff des „Unbewussten“ auf sich hat: »Mit >unbewusst<
meine ich etwas, das nicht willentlich verändert, manchmal noch
nicht einmal benannt werden kann. Dennoch wirkt es in den Menschen
fort. Bei der Globalisierung bewirken zum Beispiel die immensen
Veränderungen in der Außenwelt Veränderung im Inneren. Diese werden
jedoch meistens nicht bewusst wahrgenommen und können daher auch
nicht verarbeitet werden. Der Prozess der Globalisierung schafft
somit Unbewusstheit« (S. 33).
In Erinnerung an die Bedeutsamkeit des frühkindlichen Erlebens, in
dem Körper und Seele noch nicht getrennt sind, erklärt der Autor:
»Die psychotherapeutische Aufgabe und Arbeit besteht dann auch
darin, dieses frühe körperliche Erleben zu begreifen, bewusst zu
machen und auf eine sprachliche Ebene zu überführen. Denn meinem
Verständnis nach liegt die Problematik der Symptome nicht an der
Oberfläche, sie ist vielmehr mit lebensgeschichtlichen Ereignissen
verbunden. Daher ist ein längerer psychotherapeutischer Prozess
nötig, um tiefe, unbewusst gewordene Schichten zu erreichen« (S.
106).
Tillmann erinnert daran, dass große Bücher der Menschheit, wie die
indischen Upanischaden, der Koran oder die Bibel voller
Höraufforderungen und Höranweisungen stecken. Zwei Beispiele: »Wer
Ohren hat zu hören, der höre« (sagt Jesus), und: »Höre, so wird
deine Seele leben« (lehrt der Prophet Jesaja). Das Hören stellt
somit eine sinnliche Grundlage der Beziehung zu Gott dar.
Hören bedeutet im biblischen Sinn die Verinnerlichung der Stimme
Gottes. Dies vergessen wir in unserer abendländischen Tradition
allzu leicht, die von einer Dominanz des Sehens gekennzeichnet ist.
Der Prozess der Zivilisation ist ein Vorgang der zunehmenden
Ent-Sinnlichung. Die Bedeutung des Hörens nimmt ab, der Blick wird
immer wichtiger. Das Ohr wird zum Zulieferorgan des Auges
degradiert. Zusätzlich geht in der modernen medizinischen
Wissenschaft der sinnliche Charakter des Sehens zunehmend
verlustig, es geht nur mehr um das Abbildhafte. Aus Sprechzimmern
wurden reine Behandlungszimmer – auch hier ging Sinnlichkeit
verloren. Der Autor dazu: »Wenn aber eine Kultur wie die unsere
abendländische auf der Dominanz des Blickes aufbaut, entgeht uns
vieles: Wir verlernen hinzuhören, wir verlieren
Entwicklungsmöglichkeiten von Subjektivität, und wir verlieren eine
Möglichkeit, uns an die Welt zu binden« (s: 28).
Moderne Ansätze wie die TRT verkennen den unbewussten Sinn der
»Erkrankung«. Ziel moderner Therapieansätze ist lediglich die
Symptombeseitigung, wohingegen in einer tiefenpsychologischen
Sichtweise die Symptombildung (ähnlich dem Traumgeschehen) als
sinnvolle, wenn auch verkleidete Botschaft verstanden werden kann,
in der die Lösung des Problems bereits enthalten ist. Besonders
effektiv erweisen sich tiefenpsychologische Verfahren, die den
Körper in das therapeutische Geschehen planvoll integrieren, wie z.
B. die analytische Körperpsychotherapie.
Den Abschluss dieses außergewöhnlichen Ratgebers bilden mehrere gut
lesbare und anschauliche Fallbeispiele, die einen Einblick in die
Komplexität der Tinnitus-Problematik und deren Therapie anschaulich
vermitteln.
Fazit: Mit dem vorliegenden Ratgeber ist dem Autor ein Glücksgriff
gelungen. Es handelt sich um ein modernes, anspruchsvolles und
zugleich ausgezeichnet lesbares und nicht zuletzt gut leistbares
Buch, das allen Betroffenen, aber auch Ärzten, Krankenschwestern
und andere Berufsgruppen, die an einem fundierten Verständnis der
Tinnitus-Problematik in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen
Entwicklung interessiert sind, wärmstens empfohlen werden kann.