Rezension zu Schnittmuster des Geschlechts

Invertito - Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten Jg. 10, 2008, Nr. 176

Rezension von Heike Schader

Rainer Herrn widmet sich in seinem Buch »Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft« einem Thema, zu dem es bisher erst wenige historisch-wissenschaftliche Beiträge gibt. In seinem Vorwort formuliert Rainer Herrn den Zweck seiner Arbeit folgendermaßen: »Über den Prozess der theoretischen Ablösung der Transvestiten von den Zuordnungen der Sexualpathologen, über Hirschfelds sexualwissenschaftliche Konzeption und über deren Rezeption – bei den ›Transvestiten‹ wie in der zeitgenössischen Sexualwissenschaft – liegt bisher keine systematische Darstellung vor. Es ist Aufgabe dieser Studie diese Lücke zu füllen« (S. 19).

Bereits in dieser Formulierung wird die herausragende Rolle, welche der Autor Magnus Hirschfeld in diesem Prozess zuschreibt, deutlich. Ebenfalls im Vorwort wird darauf hingewiesen, dass Hirschfeld die Methodik der wissenschaftlichen Beweisführung erweitert hat, indem er als erster Fotografien zur Belegung seiner Theorien heranzog. Herrn macht außerdem auf die Schwierigkeiten im Umgang mit der Terminologie aufmerksam. Der Begriff Transvestitismus, der von Hirschfeld 1910 eingeführt wurde, umfasste mehr als nur den Wunsch, die Kleidung des anderen Geschlechtes zu tragen.
Hirschfeld entwarf eine Terminologie für die medizinische Diagnostik, die auf seinen Beobachtungen von Identitätskonzepten und Lebensstilen beruhte. Das Konzept von Transvestitismus, das dabei entstand, ist für die Zeit vor 1910 nicht geeignet. Herrn entscheidet sich für diesen Zeitraum für die Bezeichnung Cross-Dresser. 1923 prägte Hirschfeld einen weiteren Begriff: Transsexualismus. Eine klare Abgrenzung zu Transvestitismus und eine Verwendung im wissenschaftlichen und insbesondere im medizinischen Kontext gab es jedoch erst in den 1950er Jahren. So wurden Personen, die den Wunsch hatten, ihr biologisches Geschlecht zu verändern, auch nach 1923 als Transvestiten und nicht als Transsexuelle bezeichnet.

Quellenbasis der Arbeit von Rainer Herrn sind vor allem die Veröffentlichungen Magnus Hirschfelds und der Mitarbeiter des »Hirschfeld-Institutes«, außerdem das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Darüber hinaus hat sich Rainer Herrn intensiv mit dem Bildmaterial beschäftigt, das im Kontext des Instituts für Sexualwissenschaft und der Forschungen von Magnus Hirschfeld entstanden ist, beziehungsweise als Belegmaterial für die Forschungen gesammelt wurde. Der Forschungszeitraum, auf den sich Herrn konzentriert, sind die Jahre 1910-1933. Die Ausführungen werden durch viele Zitate und zahlreiche Abbildungen unterstrichen. Dadurch bekommen die LeserInnen einen guten Einblick in die zeitgenössischen Darstellungsweisen. Das Bildmaterial ist zum Teil bereits aus anderen Veröffentlichungen bekannt, doch in der Rezensionen 177 vorliegenden Konzentration auf das Thema Transvestitismus und Transsexualität ergibt sich ein neues und interessantes Gesamtbild.
Herrn hat seine Arbeit in sieben Kapitel aufgeteilt. Er beginnt seine Ausführungen

mit einem kurzen Blick in die Vorgeschichte des Transvestitismus, indem er im ersten und zweiten Kapitel auf das Phänomen der Cross-Dresser eingeht. Im dritten Kapitel beschäftigt er sich mit Hirschfelds Theorie und deren Entwicklung. Auf die sehr spannende Frage, wie sich die Terminologie zwischen medizinischer Diagnostik und individuellen Identitätskonzepten und Lebensstilen entwickelte, geht Herrn leider nicht vertiefend ein. Im vierten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit verschiedenen Auswirkungen von Hirschfelds Arbeit. Im fünften Kapitel stehen das Institut für Sexualwissenschaft und seine Mitarbeiter im Mittelpunkt. Ergänzt wird das Kapitel durch einen kurzen Blick aus dem Institut hinaus in »die Welt der Transvestiten«, wie es im Titel des Unterkapitels heißt. Herrn gelingt es, die einzelnen Aspekte zum Alltagsleben von Transvestit/innen, die den gesamten Text durchziehen, in einen größeren Kontext zu stellen und dadurch den medizinisch-diagnostischen Blickwinkel zu erweitern. Eindrucksvoll in Detailliertheit und Umfang ist das sechste Kapitel, in dem Herrn auf die Anfänge und die Entwicklung der operativen Möglichkeiten von Geschlechtsumwandlungen eingeht. Im letzten und sehr kurzen Kapitel mit dem Untertitel »Die undankbaren Erben« verweist Herrn darauf, dass Hirschfelds Grundlagenforschung zum Thema Transvestitismus und Transsexualität in der weiteren Forschung unbeachtet blieb. So rekurrierten die maßgeblichen Wissenschaftler nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf Hirschfelds Arbeit. Herrns Untersuchung ist somit sicherlich auch ein Versuch, Hirschfeld und seinen Forschungen einen angemessenen Platz in der Wissenschaftsgeschichte zu geben.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Geleitwort von Volkmar Sigusch zu verstehen. In ihm wird die Relevanz der historischen Grundlagen für das heutige Denken verdeutlicht und unterstrichen. In dem ausführlichen Geleitwort befasst sich Volkmar Sigusch mit dem Phänomen der Manipulation von Körpern. In seinem Fokus stehen die heutigen Sichtweisen von ChirurgInnen, TherapeutInnen und Betroffenen. Es ist eine kritische Auseinandersetzung mit den medizinischen Möglichkeiten, den Ansprüchen von Betroffenen und Profis und den Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit in unserer Gesellschaft. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Geleitwort ans Ende zu setzen, als Einleitung des Bandes wirkt es wie eine Rechtfertigung der folgenden historischen Ausführungen.

Besonders gelungen ist, dass Rainer Herrn das Phänomen Transvestitismus sowohl auf biologisch-männliche als auch biologisch-weibliche Personen bezieht und somit den geschlechtsneutralen Anspruch, den der Titel seiner Arbeit erhebt, erfüllt. Herrn weist darauf hin, dass Hirschfeld sich auf biologisch-männliche Transvestiten konzentriert hat und biologisch-weibliche Transvestitinnen nur vereinzelt in seiner Arbeit berücksichtigt wurden. Hirschfeld selbst gab keine plausible Erklärung für diese ungleiche Behandlung. Herrn versucht diesen Aspekt aus heutiger Sicht einzuordnen. Dabei wird das Thema nicht in einem einzigen abgeschlossenen Kapitel behandelt, sondern der Autor lässt die Thematik immer wieder einfließen. Ähnlich verfährt er mit anderen inhaltlichen Fragen, die von Hirschfeld nicht eindeutig beantwortet wurden, wie zum Beispiel der Zusammenhang von Transvestitismus und sexueller Orientierung, den Hirschfeld mal abstreitet, dann doch wieder einräumt und sein Konzept jeweils entsprechend neu gestaltet. Die Stärken des vorliegenden Buches liegen in den außerordentlichen Kenntnissen des Autors über Magnus Hirschfelds Arbeit und über das Institut für Sexualforschung, die in der Bearbeitung von thematischen Linien besonders deutlich werden.
Der Wunsch des Autors, Magnus Hirschfeld einen angemessen Platz in der Geschichte der Erforschung und Kategorisierung von Transvestitismus und Transsexualität zukommen zu lassen, verweist auf den Punkt, den ich kritisch anmerken möchte. In der Konzentration auf Hirschfeld und das Institut für Sexualwissenschaft werden andere theoretische Konzepte nur selten in die Betrachtung mit einbezogen. Falls dies doch geschieht, wie beispielsweise im vierten Kapitel, in dem unter anderem die Auswirkungen von Hirschfelds Thesen auf die Psychoanalyse angerissen werden, bleibt Herrn in einem sehr engen Bezugsrahmen zu Hirschfeld, indem er den Fokus auf die Interaktion zwischen Hirschfeld und den Vertretern von Gegenentwürfen legt. Alternative Konzepte zu Transvestitismus werden nur kurz formuliert und ein Einstieg in die Argumentationsstränge bleibt für die LeserInnen schwierig. So werden kritische Anmerkungen zu Hirschfelds Theorien und der Arbeit des Institutes zwar aufgegriffen, doch eine tiefer gehende Auseinandersetzung fehlt. Möglicherweise ist dies auch eine Folge davon, dass die Arbeit ursprünglich als ein Kapitel in der Monografie über Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft gedacht war. Meiner Meinung nach wären durch eine deutlichere Einordnung von Hirschfelds Arbeit in den zeitgenössischen Kontext seine wissenschaftlichen Leistungen (und seine Schwächen) deutlicher hervorgetreten, was eine Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte fundierter ermöglicht hätte. Alternativ wäre eine eindeutige Fokussierung auf Hirschfeld und das Institut für Sexualforschung bereits im Titel oder Untertitel wünschenswert gewesen. Den Anspruch, den Rainer Herrn in seinem Vorwort formuliert, die Informationslücke, die es über »Hirschfelds sexualwissenschaftliche Konzeption und über deren Rezeption – bei den ›Transvestiten‹ wie in der zeitgenössischen Sexualwissenschaft« – gibt, zu schließen, wird er somit leider nur zum Teil gerecht. Gelungen ist Rainer Herrn, einen Teil von Hirschfelds sexualwissenschaftlicher Konzeption aufzubereiten. Die vorliegende Arbeit ist eine Überblickdarstellung von Transvestitismus und Transsexualität im Kontext des Institutes für Sexualwissenschaft, die sicherlich noch lange ein Grundlagenwerk zu dieser Thematik sein wird. Dadurch, dass Herrns Ausführungen ausgesprochen lesefreundlich sind, kann das Buch auch für Menschen mit wenig historischem Vorwissen eine spannende und verständliche Lektüre sein und
damit über das historische Fachpublikum hinaus wirken.


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