Rezension zu Anders helfen
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Rezension von Vreni Vogelsanger
Entstehungshintergrund
Das Buch erscheint nach 26 Jahren in einer Neuauflage. M. L.
Moeller war ein Vordenker und Vorkämpfer für Selbsthilfegruppen, zu
einer Zeit, wo man sich die übliche professionelle Sicht von weit
oben herab vorstellen muss und der Status von Betroffenen
entsprechend gering war. Professionelle Gruppenverfahren waren noch
keineswegs üblich und hochspezialisierten Fachleuten vorbehalten.
Die Gefahr, dass sich Menschen in entfesselten Gruppenprozessen
großen Schaden zufügen könnten, war allgegenwärtig.
Umso revolutionärer war die Ansicht, dass Betroffene selbst in der
Lage sein könnten, ihre Gruppen zu bilden, zu organisieren und zu
leiten. Besonders irritierend aus dem Munde eines ausgewiesenen
Fachmanns, der nachweist, dass dies Betroffene nicht nur ebenso
gut, sondern in mancher Hinsicht besser können, als Fachleute.
Ein kühner Vordenker also, der nicht zufällig aus dem Gießener
Umfeld eines Horst Eberhard Richter kam. Entsprechend ist dieses
Buch eine Streitschrift und eine Fundgrube brillanter Analysen und
Visionen, die aber noch recht ungeordnet daher kommen.
Seine psychoanalytische Sicht auf Selbsthilfegruppen ist
einzigartig, weil keine weiteren größeren Arbeiten aus dieser
Disziplin folgten und, weil diese psychoanalytische Sichtweise doch
ganz andere Zusammenhänge herstellt, als spätere aus der Soziologie
und Sozialen Arbeit.
Deutschland gilt europaweit als Hochburg der Selbsthilfe mit der
höchsten Selbsthilfegruppen-Dichte und dem bestausgebauten Netzwerk
an Förderstrukturen. Ein wichtiger Grund dafür ist Michael Lukas
Moeller als mutiger und scharfsinniger Wegbereiter.
Thema
»Anders helfen« geht der Frage nach, wie Selbsthilfegruppen und
Fachleute konstruktiv zusammenarbeiten können, warum dies wichtig
ist und wo die Gründe liegen, wenn es nicht gelingt. Zentrale
Zielsetzung des Buchs ist eine, auf symmetrischen Beziehungen
beruhende Zusammenarbeit zwischen Selbsthilfegruppen und Fachleuten
zu erreichen. Er zeigt, wie dies konkret funktionieren könnte, mit
nutzbringenden Wirkungen auch für die Fachleute.
Und er beschreibt die Widerstandsgründe und –formen, die solchem
Zusammenwirken entgegenstehen. Zum Beispiel die Ansicht, Patienten
seien zu passiv für Selbsthilfegruppen. Darin erkennt er die
»gewohnte traditionelle Unterschätzung des Patienten« und zeigt
auf, warum das Helfersystem daraus ausgerichtet sei, ihn in genau
dieser Rolle zu halten. Dieselben Menschen wären in der
Selbsthilfegruppe ohne weiteres in der Lage, sich aktiv,
selbstverantwortlich und kreativ verhalten. Dabei wird klar, dass
professionelle Widerstände tief in den Persönlichkeiten und in der
professionellen Sozialisierung verankert sind. Sich auf
Selbsthilfegruppen einzulassen heißt, sich fundiert mit dem eigenen
HelferInnen-Verständnis und der gelernten Berufsrolle auseinander
zu setzen. Das sind tiefgreifende Prozesse, die nicht von heute auf
morgen geschehen.
In der Integration des Selbsthilfe-Prinzips im Sozial- und
Gesundheitswesen sieht er die Chance eines sozialen Wandels
Richtung Demokratisierung, Partizipation und Entpathologisierung
(nicht weiter Krankheit vom Kranken trennen). Einen Wandel, den er
als dringlich erachtet und vehement anstrebt.
Es ist ein kritisches und mutiges Buch eines großen Vordenkers und
Wegbereites, seiner Zeit weit voraus. Spannend aus heutiger Sicht:
Wie wurde die Entwicklung vorausgedacht und eingeleitet, die wir
nun mit heutigen Realitäten vergleichen können.
Aufbau und Inhalt
1. Die Gruppe kann mehr als der einzelne. Die Bedeutung und
Heilkraft von Gruppen im gesellschaftlichen Wandel. Die Veränderung
der Rolle der Kranken führt zu eigenständigen Gesprächsgruppen und
dies geht einher mit einer Krise im Selbstverständnis der
professionellen Helfer.
2. Worum geht es? Was sind Selbsthilfegruppen? Wie und warum
sollten Fachleute mit Selbsthilfegruppen zusammenarbeiten?
3. Warum Fachleute Bedenken gegen Selbsthilfegruppen haben.
Beschreibung von sechs typischen Widerstandsformen.
4. Probieren geht über studieren. Zwei Praxisbeispiele.
5. Wie sieht die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen aus? In
sieben Kapiteln werden Fragen der konkreten Zusammenarbeit
erläutert, zum Beispiel: Wer kann mit Selbsthilfegruppen
zusammenarbeiten? Was können Fachleute zu Selbsthilfegruppen
beitragen? Missbrauch des Selbsthilfe-Prinzips…
6. Beratung mit Selbsthilfegruppen. Beratungsformen und –Beispiele,
Funktion und Rolle des Selbsthilfe-Beraters
7. Entwicklungschancen selbstverantwortlicher Gesprächsgruppen.
Bedeutung für den professionellen Bereich, speziell psychosoziale
Versorgung, Psychotherapie, psychosomatische Medizin, Psychiatrie,
Organmedizin, Gesundheitsförderung, Seelsorge, Erziehung und
Bildung.
8. Ergebnisse der Arbeit in Selbsthilfegruppen. Unterschiedliche
Gruppen – ähnliches Verhalten, Forschung fördert
9. Warum entstehen Selbsthilfegruppen heute? Ursprünge,
Kontaktreiche Beziehungslosigkeit, Selbsthilfegruppen und
Sekten
10. Was mich bewegt. Persönlicher Bericht des Autors –
Auseinandersetzung mit der Berufskrankheit »professioneller
Helfer«.
Zielgruppen
Moeller sagt dazu: »Angesprochen sind also vor allem die
unmittelbaren Partner dieser Zusammenarbeit: alle Angehörigen der
so genannten sozialen Berufe und die jeweiligen Betroffenen. Das
Ziel dieses Buches ist es, die besten inneren und äußeren
Bedingungen für die Entwicklung eigenständiger Gesprächsgruppen zu
schaffen.« (S.17) Das Werk hat heute auch eine historische
Bedeutung. Was sah und wusste der Pionier damals? Einer der mutig
voranging, seiner Zeit weit voraus eine Kritik geäussert hat, die
bis heute brisant ist. Was haben wir erreicht, wo haben sich Ziele
verändert, was bleibt gültig?
Das Buch ist ein Mutmacher für Menschen mit sozialen Visionen in
einer Zeit, wo die Töne trotz all des Lärms leiser geworden
sind.
Diskussion
Vieles zur wegweisenden Bedeutung des Werks ist bereits gesagt.
Einige der hier angeregten Diskussionen wurden geführt und der
Stellenwert von Betroffenen als ErfahrungsexpertInnen ist deutlich
gestiegen. Es sind Handlungsansätze und -konzepte gefolgt, die
konsequent auf den Kompetenzen Betroffener basieren. Stichworte
dazu sind Empowerment, Resilienz, Salutogenese,
ressourcenorientiertes Handeln, Patienten-Mitbestimmung und eben
die Hilfe zur Selbsthilfe, die übrigens weit über den
Selbsthilfe-Bereich hinaus als Leitlinie sozialen Handelns
aufgenommen wurde.
Die Analyse professioneller Widerstände ist eine Grundlage von
bleibendem Wert, die weiterhin zu verstehen hilft, was hinter den
Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit steht und wohl auch weiter
stehen wird. Es geht eben um viel mehr als um rationale Entscheide,
für oder gegen die Zusammenarbeit mit einer Selbsthilfegruppe oder
mit einer Selbsthilfekontaktstelle. Es geht um Prozesse, die
durchaus auch schmerzhaft und irritierend sein können, die zu
Konflikten führen und die vor allem sehr lange dauern.
Man bedauert, dass die psychoanalytische Denkweise so weitgehend
aus der Diskussion um Selbsthilfegruppen verschwunden ist und ahnt,
dass aus dieser Richtung weiterhin wichtige Impulse kommen
könnten.
Gleichzeitig darf man nicht verschweigen, dass dem damaligen Ton
noch immer etwas »väterlich-beschützendes-wissendes« anhaftet, das
nicht mehr dem heutigen Verständnis einer partnerschaftlicher
Zusammenarbeit entspricht. Nicht dass es die wissenden Väter nicht
mehr gäbe – zum Beispiel jene aus der Pharma, die mit Geld winken –
aber das wäre ein anderes Thema.
Der Autor nennt als Widerstandsformen in Selbsthilfegruppen ihre
organisatorischen Mängel und fragt sich gleichzeitig, ob dahinter
der Wunsch stehe, dass sich die Gruppen seinen professionellen
Vorstellungen anpassen müssten. Selbsthilfekontaktstellen sehen
heute in ihrer Struktur- und Organisationshilfe einen wichtigen
Ansatz der Förderung.
Die Frage aber bleibt: Wie viel Professionalisierungsdruck wird auf
Selbsthilfegruppen ausgeübt und wirklich immer nur zu ihrem
Vorteil?
Als andere typische Widerstandsform in Selbsthilfegruppen nennt er
das Fernbleiben aus der Gruppe. In seiner Logik stimmt, dass so
persönliches Wachstum vermieden werden kann. In einer anderen Logik
kann man ebenso sehen, dass dies ein wichtiger Aspekt der
Selbstregulierung von Selbsthilfegruppen ist. Dass jede Person
jederzeit Grenzen ziehen kann, wenn eine Entwicklung zu weit geht,
ist ein wichtiger Grund dafür, dass sich einstmals befürchtete
Selbstschädigungs-Gefahren durch Selbsthilfegruppen nicht bestätigt
haben. Aus marktorientierter Sicht sorgt Wegbleiben dafür, dass
keine einzige Selbsthilfegruppe existiert, die von den Mitgliedern
nicht gewollt ist und gebraucht wird.
Fazit
Ich habe dieses Buch mit großem Gewinn wieder gelesen und mir
öfters Zitate herausgeschrieben weil man es besser und schöner kaum
sagen kann, um was es bis heute im Wesentlichen geht.
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