Rezension zu »Wie benimmt sich der Prof. Freud eigentlich?«
www.uni-online.de
Rezension von Dr. Achim Schmetz
Wir schreiben das Jahr 1921. Eine junge Ärztin aus Zürich befindet
sich am Scheideweg ihres Lebens. Im siebten Jahr verlobt, stellt
sie sich drängenden Fragen über ihre Zukunft. Wie soll sie ihr
späteres Leben sinnvoll gestalten: Heiraten und/oder Karriere? Im
sicheren Zuhause verweilen oder abenteuerlich in die Ferne
schweifen?
Auf Empfehlung wendet sie sich an den berühmten Prof. Freud in Wien
und fragt bezüglich einer persönlichen Analyse an. Dieser antwortet
in einem kurzen Brief, drängt auf schnelle Entscheidung für eine
Analyse von drei bis höchstens sechs Monaten und stellt seine
Honorarforderung von 40 Franken pro Stunde.
Der Entschluss fällt schnell: Die Analyse findet fast täglich statt
und dauert von April bis Juli 1921 (also ungefähr 80 Stunden). Was
zunächst niemand weiß, die Analysandin verfasst ein Tagebuch oder
Protokoll über die Sitzungen; erst viele Jahrzehnte später wird
dieses historische Dokument per Zufall von der Enkelin, Anna
Koellreuter, zusammen mit ihrer Mutter entdeckt. Nach langen
Überlegungen und intensivem Drängen der
historisch-wissenschaftlichen Expertengesellschaft wird das
Tagebuch mit Kommentaren zahlreicher Fachgelehrter veröffentlicht,
aber erst nachdem auch die Familie ihr Einverständnis gegeben
hat.
Uns liegt nunmehr ein bedeutendes Zeitzeugnis vor: ein
authentisches Protokoll, ohne primäre Absicht der Veröffentlichung,
über die Arbeitsweise Freuds und die psychische Verfasstheit der
selbstbewussten Analysandin namens Anna Guggenbühl.
Die Bedeutung dieses Fundes sieht man alleine daran, dass sich
nicht weniger als 18 wissen-schaftliche Kommentatoren veranlasst
sahen, dieses Tagebuch fundiert einzuordnen und kri-tisch zu
bewerten. Auf Grund der Fülle der verschiedenen, oft ergänzenden,
jedoch auch hete-rogenen Ansatzpunkte können wir im Folgenden nur
einige exemplarisch herausgreifen.
Der Analytiker Paul Parin beeindruckt den Leser mit seinen sehr
persönlichen Ansichten und Empfindungen, die er mit seinen
Erfahrungen aus der Praxis zu verbinden weiß.
Die Psychoanalytikerin Anne-Marie Sandler, die bei Jean Piaget und
Anna Freud in die Lehre gegangen ist, freut sich über »das große
Privileg, einen Kommentar zu schreiben« und zeigt sich dankbar,
»dass G. dieses Dokument der Nachwelt überlassen hat«.
Im psychoanalytischen Dialog beobachtet Peter Passett »Freud beim
Deuten« und kommt nach seinen erfrischenden Erörterungen auf Seite
129 zu dem Fazit: »Freud war ein einfühl-samer, ›vernünftiger‹
Analytiker, der nicht im abgeschiedenen Kabäuschen analysierte,
son-dern im offenen, weiten Raum der Kultur seiner Zeit und
Welt.«
Ernst Falzeder weitet die Diskussion mit Hinweis auf Dokumente
weiterer bekannter Patien-ten Freuds aus. August Ruhs diskutiert
kompetent die Verlässlichkeit der Analysenprotokolle. Die weiteren,
aufschlussreichen Kommentare legen ihren Schwerpunkt auf die
lehrreichen Analysen der Übertragungen und Gegen-Übertragungen und
deren Bedeutung für die psycho-dynamischen Prozesse.
Allen Autorinnen und Autoren (meist Psychoanalytiker, Mediziner
oder Historiker) gelingt es durchgängig ihre Argumente anhand von
Zitaten und praktischen Beispielen zu verdeutlichen. Hiermit ist
gewährleistet, dass auch interessierte Laien den Ausführungen
folgen können, wenn auch Vorkenntnisse der psychoanalytischen
Grundbegriffe durchaus hilfreich sind.
Fazit: Eine Fundgrube für historisch-wissenschaftlich interessierte
Leser, die mehr über Sig-mund Freuds Arbeitsweise im Zeitkontext
erfahren möchten und die Entwicklungen der Psy-choanalyse in
Theorie und Praxis in einer genussvollen Lektüre nachvollziehen
wollen. Die ungeheure Bandbreite und analytische Tiefe der
Kommentare ist bemerkenswert und besticht sowohl durch ihren
fundierten wissenschaftlichen Praxisbezug als auch durch die
eindrucks-volle, persönliche Note der Kommentatoren, die nicht
damit sparen ihre persönlichen Emp-findungen preiszugeben. Nicht
nur für die Adepten, sondern gerade auch für Kritiker der
Psy-choanalyse lohnt sich die Lektüre; beide Seiten werden ihre
Gedankenwelt erweitern, wie es für mich als Rezensent gilt, der
dieses ausgezeichnet gelungene Kompendium über die
psy-choanalytische Tätigkeit Freuds, aus dem Blickwinkel seiner
protokollführenden Analysandin Anna G., nachdrücklich empfehlen
möchte.