Rezension zu Der stumme Schrei der Kinder
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Rezension von Stefanie Nowitzke
Ilany Kogan beschreibt in diesem Buch, wie sie sieben völlig
unterschiedliche Patienten mit Hilfe der Psychoanalyse behandelt
hat.
Worauf sich jeder, der dieses Buch lesen möchte einstellen sollte:
Es wird ein gewisses Hintergrundwissen über die Psychoanalyse
vorausgesetzt. Gängige Begriffe aus der Psychoanalyse, wie zum
Beispiel Regression, Übertragung und Gegenübertragung, werden nicht
weiter erklärt.
Das Vorwort von Janine Chasseguet-Smirgel finde ich sehr gut
gelungen und es macht neugierig darauf, sich mit diesem Buch zu
beschäftigen. Sie beschreibt in diesem Vorwort, zum einem, dass
sich viele Leute heutzutage nicht mehr mit dem Holocaust
auseinandersetzen wollen. Viele Theaterstücke, Lieder und
Verfilmungen behandeln die Nazizeit und die Leiden des jüdischen
Volkes nicht mehr mit dem nötigen Ernst. (Ein Beispiel ist die
Aussage »Fuck the six million dead« in einem Theaterstück.) In
diesem Vorwort hinterfragt sie dieses Verhalten der Menschen.
Auf der anderen Seite erwähnt sie in ihrem Vorwort die Autorin
Ilany Kogan, die viele von den Kindern der Holocaust-Überlebenden
behandelt hat. Sie beschreibt Ilany Kogan als eine Analytikerin,
die die Erfahrung gemacht hat, dass viele Kinder noch heute unter
den Folgen des Holocaust leiden. Zwar nicht direkt, aber indirekt
über ihre Vorfahren.
Darum geht es auch in den Fällen von Ilany Kogan, die hier in
diesem Buch beschrieben werden. Zunächst gibt sie in jedem Kapitel
einen groben Überblick, worum es bei den einzelnen Patienten geht.
Es wird kurz beschrieben aus welchem Grund die Menschen zu ihr in
die Psychoanalyse kommen. Zum Beispiel, weil sie keine Erfüllung
oder Zufriedenheit finden oder auch von selbstzerstörerischem
Verhalten geplagt werden. Auf den ersten Blick bekommt der Leser
nicht das Gefühl, als würden diese Patienten unter den Folgen des
Holocaust leiden. Erst im Laufe des Kapitels, bei vorschreitender
Behandlung, fängt man an zu begreifen, warum die Patienten mit
ihrem Leben nicht zurechtkommen.
Meist leiden die Patienten unter dem Trauma, das ihre Verwandten im
Holocaust erlebt und unbewusst auf ihre Nachkommen übertragen
haben.
In ihrer eigenen Einleitung betont Ilany Kogan noch einmal, dass
sie der Meinung ist, dass gerade die Kinder der Holocaust-Opfer
stark gefährdet sind, psychische Krankheiten zu entwickeln.
In ihrer Einleitung gibt die Autorin auch einen kurzen Überblick
über die folgenden Kapitel und weckt beim Leser die Neugier auf die
ausführliche Beschreibung der folgenden Analysen. Sehr gut finde
ich an diesem Buch, dass es sich bei diesen Analysen wirklich um
ihre eigenen Patienten handelt und der Leser somit einen
unverfälschten Einblick in den Alltag eines Therapeuten bekommt,
der die Patienten mithilfe der Psychoanalyse behandelt.
Ich finde es klasse, dass die Autorin auch über die Schattenseiten
der Analyse schreibt und dass sie auch oft an ihre Grenzen stößt
während einer Analyse. So schreibt sie zum Beispiel im zweiten
Kapitel »Tod im Liebesakt« (S. 68), dass sie bei dieser Patientin
das Gefühl hatte, nicht mehr weiterzukommen. Ilany Kogan war in
diesem Fall verwirrt und fragte sich, ob sie die vorherigen
Analyseabschnitte überhaupt korrekt gedeutet hatte.
Ähnliches tritt auch im dritten Kapitel »Die zweite Haut« auf. Hier
beschreibt die Autorin, dass sie bei der Patientin Ruth sogar Angst
davor hatte, sie zu behandeln. Diese Stellen machen die Autorin aus
meiner Sicht sehr sympathisch, da man als Leser das Gefühl bekommt,
dass ein Psychoanalytiker sehr viel investieren muss, um überhaupt
die Chance zu haben, einen Patienten zu heilen. Der Analytiker muss
sich in jedes Einzelschicksal hineinversetzen können und nimmt mit
jedem Fall eine große Last auf sich, um den Menschen zu helfen.
Ilany Kogan schreibt, dass die Analysen meist Jahre dauern.
Nicht geeignet halte ich das Buch jedoch für Leser, die sich gar
nicht mit der Psychoanalyse befasst haben. Um die Inhalte dieses
Buches zu verstehen, sollten zumindest die Ansichten von Sigmund
Freud bekannt sein. Das heißt, dass man auch mit den einzelnen
Phasen, die Sigmund Freud aufgestellt hat, vertraut sein muss (zum
Beispiel orale, phallische und ödipale Phase). Weiterhin sollte man
sich darüber bewusst sein, dass in der Psychoanalyse nicht (nur)
mit offensichtlichen Tatsachen gearbeitet wird, sondern vor allem
mit Aspekten, die gerade nicht offensichtlich sind. In der
Psychoanalyse geht es unter anderem darum, Dinge aufzudecken, über
die sich der Patient nicht im Klaren ist, die aber trotzdem dafür
sorgen, dass der Patient nicht in der Lage ist, sein Leben gut zu
meistern. Ich würde dieses Buch somit nicht jemandem empfehlen, der
sich lieber mit Therapieformen beschäftigt, die zum Beispiel auf
klaren Tatsachen aufbauen.
Im Nachwort gehen Margarete Mitscherlich und Christian Schneider
noch einmal darauf ein, dass Ilany Kogan davon spricht, dass ihre
Patienten in einer doppelten Realität leben. Das bedeutet, die
Patienten haben auf der einen Seite ihr eigenes Leben, aber auf der
anderen Seite leben sie auch mit der Vergangenheit ihrer Vorfahren,
da sich deren Trauma auf die Patienten auswirkt. Die Patienten
können nur gerettet werden, wenn sie sich mit Hilfe der
Analytikerin von dieser Last der Vorfahren befreien.
Mit diesen Sätzen wird noch einmal der Bogen geschlagen zum
Vorwort, indem unter anderem erwähnt wird, dass die Leute sich
nicht mehr richtig mit dem Holocaust auseinandersetzen wollen. Wenn
jedoch Ilany Kogan recht behält, werden diejenigen, die sich nicht
mit der Vergangenheit auseinandersetzen wollen, Gefahr laufen nicht
glücklich zu werden.
Insgesamt halte ich dieses Buch für empfehlenswert, allerdings muss
man sich wirklich Zeit nehmen, um sich mit diesem Buch zu
beschäftigen. Nur so kann man auch etwas daraus mitnehmen.