Rezension zu Transzendenzverlust und Melancholie (PDF-E-Book)

Christ in der Gegenwart

Rezension von Dr. Gotthard Fuchs

Warum wir die Leere in uns nicht aushalten

Leistung lässt sich durch Medikamente »pushen«. Darüber entbrannte soeben wieder eine heftige Debatte. Wir erleben gerade eine ›Versüchtelung der Gesellschaft‹ wie der Psychotherapeut Eberhard T. Haas feststellt.

Ödipus, der Familienmensch, ist derzeit abgetreten. Die Szene bestimmt jetzt Narziss, der Single. War zu Sigmund Freuds Zeiten die Auseinandersetzung mit dem väterlichen Über-Ich der neuralgische Wachstumspunkt, ist es im Zeichen des Überflusses der Einzelne, der aus allen Ordnungen auf sich zurückgeworfen ist. Wo »alles möglich« ist – sowohl materiell wie ethisch-, entsteht jener Stress der Selbstverwirklichung, dessen Schattenseite die förmlich strukturelle Depression ist.

Ein dramatisches Symptom dafür ist die ›Versüchtelung der Gesellschaft‹ wie der Psychotherapeut Eberhard T. Haas schreibt. Der Unterschied zwischen Medikament und Droge, zwischen Heilung und Entgiftung verschwindet. »Es gibt ein Kontinuum zwischen medikamentöser Depressionsbehandlung, Selbstmedikation und Sucht, so wie sich der Unterschied zwischen Medikament und Droge verwischt. Das gesamte Gesundheitswesen ist in diese Suchtspirale einbezogen, die lediglich dort an ihre Grenzen kommt, wo die Kassen leer sind. Es bestehen fließende Übergänge zwischen Arzt und Dealer.« Doping, Leistungssport und Quotensteigerung gehören zusammen.

Die Studien des Darmstädter Psychoanalytikers in den vorliegenden zwei Bänden kreisen um die psychischen und sozialen Folgen dessen, was man »das Erdbeben der Emanzipation« genannt hat. Von der kopernikanischen Revolution und dem Sturz der Väter ist die Rede, vom Verlust der Transzendenz und der sie vertretenden Ordnungen. Depression und Sucht sind Schattenphänomene der Säkularisierung. Die begrenzende Angst und Gewalt wird gleichsam frei flottierend. Depressive Erschöpfung und strukturelle Ermüdung breiten sich kollektiv aus.

Solche Diagnosen könnten nostalgisch missverstanden werden oder gar antiaufklärerisch. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ganz auf der Spur Freuds, allerdings im bewussten Abstand zu ihm und zu seinen Kokain-Episoden, verknüpft Haas psychoanalytische Arbeit mit Einzelnen mit Kulturtheorie. Selbstironisch hatte der Vater der Psychoanalyse die therapeutische Arbeit die Umwandlung »von hysterischem Elend in normales Unglück« genannt. Bei dieser »Expedition ins innere Ausland« können Reifungsschritte und schöpferische Wandlungen nur in der Art der Trauerarbeit gelingen. Eine narzisstische Kultur des Konsums, der Unterhaltung und schnellen Befriedigung scheut das genau wie der Teufel das Weihwasser.

Eberhard T. Haas gehört zu jenen therapeutischen Fachleuten, die den begleitenden Blick in die Psychodynamik des Menschen schöpferisch mit der Lektüre großer Literatur verknüpfen. Fjodor Dostojewski ist natürlich eine erste Adresse, nicht minder die antiken Tragödien (die den Kirchenvätern noch so wichtig waren und die wir theologischerseits völlig vergessen haben), aber auch Dante, Shakespeare, Camus und viele andere. Immer geht es um die Psycho- und Soziodramen der Selbstwerdung zwischen Größe und Depression im Leben wie in der Literatur: Endlich Mensch werden, lautet die Herausforderung. Hier bleibt die Psychoanalyse auch im Kontext vieler anderer Therapieformen wichtig, gerade aufgrund ihres »Nüchternheitsgebots« und ihrer analytischen Sensibilität wie Geduld.

Ödipus, Narziss, Orpheus – und Christus? Das vor allem macht die Aufsätze des Psychoanalytikers für christliche Lebenszusammenhänge, kirchliche Strukturen und theologische Argumentationen so wichtig. Konsequent anthropologisch und gerade deshalb religiösen Glauben nicht ausschließend, liest Haas die biblischen Ostergeschichten als schriftliche Ablagerungen individueller und gemeinschaftlicher Trauerprozesse. Statt schmerzlicher Verluste nur zu gedenken – eine Gefahr in Gesellschaft, Staat und Kirche wie beim Einzelnen – gilt es, erinnernd und trauernd durch Schockierendes hindurchzugehen und so in ihnen jene Erfahrung zu machen, die johanneisch die Ankunft des Trösters meint.

Wer »sich nicht der ungeheuren Gewalt dieser Menschensohntragödie« in Christus feige entzieht, sondern sie erinnernd mitvollzieht – was ja in jeder Eucharistiefeier symbolisch realisiert wird -, kann dann auch jene Auferstehungskräfte entdecken und erfahren, von denen Paulus spricht (vgl. Phil 3,10; 2 Kor 4,7ff). Für ihn und für seine Gemeinden sind nach Haas Kreuzigung, Tod und Auferstehung »gegenwärtige, sich täglich vollziehende Vorgänge. Der Tod ist nicht der biologische Tod, sondern ein geistig-seelischer Zustand des gegenwärtigen Lebens, ganz in Übereinstimmung mit den Beobachtungen der Psychoanalyse, die Ungeborenes oder Totes vorfindet und mit entsprechenden Transformationen arbeitet«. Zentral sind dabei die Beachtung der Angst und die Bearbeitung von Widerständen und Aggressionen – Themen gelingenden Lebens, die in kirchlichen Kreisen immer noch verdrängt und unterschlagen werden.

Gerade im Gespräch mit Rene Girard bleibt Freuds Wahrnehmung Christi höchst aktuell: Christentum als Gewaltanschauung, als dramatischer und schwieriger Wandlungsprozess durch Tode und Tötungen hindurch, durch Annahme und Verwandlung zerstörerischer, depressiver und »böser« Anteile hin zum geistgewirkten Leben in der hoffenden Vorwegnahme von Auferstehung schon hier und jetzt. Hier wäre im Gespräch zwischen Theologie und Psychoanalyse schöpferisch weiterzuarbeiten.

Klar wird beim Namen genannt, was der (Sünden-)Fall ist. »Zwischen dem Verrat des Judas und dem Verhalten der Jünger gibt es nur graduelle Abstufungen«, heißt es im Blick auf die Passionsgeschichten. Eine der wichtigsten Leitthesen lautet, die Volkskrankheit Depression habe eine Ursache im »Verschwinden von Unterschieden, Differenzen und Hierarchien«. Wo nämlich alles gleich gültig wird, ist alles gleichgültig – und jeder bleibt sich selbst überlassen, im Spiegelsaal des absoluten Ich herumirrend, im Hamsterrad von Größe und Depression nur fremdgesteuert und umgetrieben.

Die Mystikerin Simone Weil, deren hundertster Geburtstag vor kurzem war (CIG Nr. 7, 5. 77) – auch sie eine Gesprächspartnerin von Haas – hatte bemerkt, die größte Sünde sei, dass wir die Leere unseres Daseins nicht aushalten und stattdessen Ersatzbefriedigungen suchen.

In der ernüchternden Perspektive der Psychoanalyse gesagt: Es gilt, die durch Ersatzstoffe verdrängten oder gewaltsam ausgelagerten Konflikte zu bearbeiten. Was aber heißt dann Transzendenz? Das Christus-Gespräch der Gegenwart sollte in solch kreativen Workshops stattfinden mit Orpheus, Ödipus und, dies vor allem, Narziss am Tisch.

Literatur: Eberhard T. Haas: »...und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt« (2002, 407 S., 36 €).
»Transzendenzverlust und Melancholie. Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung« (2006, 261 S., 34 €; beide Bände: Psychosozial-Verlag, Gießen)


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