Rezension zu Scheitern und Biographie

Forum Supervision

Rezension von Elke Grunewald

»Gescheiterte Existenz« das möchte man nicht selbst sein, da geht man gerne auf Distanz. Wer will sich schon als gescheitert erleben? Was der Soziologe Richard Sennett noch als »großes Tabu der Moderne« bezeichnete, rückt heute zunehmend in das Zentrum medialer Aufmerksamkeit. Immer mehr BundesbürgerInnen erleben schmerzhaft, wie schnell der/die Einzelne zu einem/r werden kann, der/die nicht mehr mithalten kann, an den gesellschaftlichen Rand rutscht, absteigt, gescheitert ist.

Begonnen hat inzwischen auch das öffentliche Sprechen über das Scheitern. Sprechen hilft, die Angst einzudämmen. die dieses Wort auslöst. Es ist ein Versuch, sich von der existenzbedrohenden Macht des Scheiterns zu befreien, das Scheitern irgendwie in das eigene Selbstbild zu integrieren. Im Medienzeitalter wurde sogar schon eine »Show des Scheiterns« kreiert, in der Personen über ihr Scheitern berichten und sich damit öffentlich präsentieren. Aber wann ist jemand gescheitert?

»Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten« lautet der Titel einer Textsammlung, die 2005 herausgegeben wurde von dem Historiker und Germanisten Stefan Zahlmann und der Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Sylka Scholz. Das Buch, so scheint es, kommt zur rechten Zeit.

Zu allen Zeiten sind Menschen gescheitert. Sie sind gescheitert an eigenen Erwartungen und an den jeweiligen gesellschaftlichen Vorgaben für ein gelungenes Leben. Wie gehen Menschen mit dem Scheitern in ihrer Biografie um? Was wird als Scheitern erlebt? Wie erzählen sie über ihr Scheitern? Mit 16 Beiträgen von 18 AutorInnen rücken Scholz und Zahlmann unterschiedlichste Facetten des Themas in den Blick. Der Bogen der Beitrage ist weit gespannt. Präsentiert werden Fallbeispiele aus verschiedenen Jahrhunderten, praktische Erfahrungen. Ergebnisse empirischer Studien, theoretischer Überlegungen und historischer Quellenarbeit. Wird zuweilen der rote Faden auch dünn, wenn die WissenschaftlerInnen detailreich ihre speziellen Forschungen präsentieren, so gelingt es dem Buch doch, aus den Versatzstücken individuellen und kollektiven Misslingens auch grundsätzliche Aspekte des Scheiterns sichtbar werden zu lassen.

Am Beginn der Moderne steht der Perspektivwechsel vom alles gestaltenden Gott zum Mensch, der selbst die Verantwortung für sein Leben trägt Mit der Vorstellung, dass das Gelingen oder Misslingen der Biografie in der eigenen Hand liegt, ist das Ideal des Handelnden verbunden, der erfolgreich sein Glück aufbaut und sich durch Leistung und Einsatz seine Position in der Gesellschaft sichert. Eindrücklich führen die Beiträge des Buches vor, wie eng dieses Ideal und die vorherrschenden Ansichten über das Scheitern bis heue mit männlichen Sichtweisen und heroischen Männlichkeitsbildern verknüpft sind. Da ist besonders der Blick der AutorInnen auf die Geschlechterthematik unerlässlich und erhellend für die Beschäftigung mit dem Scheitern.

»Arbeit und Leistung« bilden in der Moderne die Grundpfeiler bürgerlich männlicher Identität. So sind auch unter diesen Stichworten die ersten sechs Beiträge des Buches zusammengefasst Vorgestellt werden Männer des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die den Erwartungen ihrer Zeit an ein erfolgreiches Männerleben nicht oder nur teilweise entsprachen. Kritisch reflektiert wird das an Arbeit und beruflichem Erfolg orientierte Selbstbild der heutigen, meist männlichen Führungskräfte und das Empfinden des Scheiterns in der Eindimensionalität solcher Lebensentwürfe. Ein anderer Artikel gibt Einblick in das berufliche Scheitern von WissenschaftlerInnen und den unterschiedlichen Umgang der Geschlechter damit. Nur in einem Beitrag steht eine Frau im Mittelpunkt. Die Verwaltungsfachfrau aus dem Westen ist nach der Wende hei ihrem Versuch gescheitert, die Verwaltungsstrukturen im deutschen Osten zu verändern. Erforscht werden die inneren Bilder, die das Selbstverständnis der Frau prägen, und die Begründungen, die sie für ihr Scheitern findet.

Die LeserInnen erfahren über das Scheitern Gotthold Friedrich Stäudlins, eines Dichters der Aufklärung, der sich das Leben nimmt, weil zwar seine dichterische Fähigkeit Anlass zu schönsten Hoffnungen gibt, er aber nach einem abgebrochenen Jurastudium mit dem politischen Engagement für französische Revolution und Aufklärung beruflich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht Fuß fassen kann und immer mehr in finanzielle Not gerät. »Die Selbsttötung« so der Autor Andreas Bahr, »war ihm Ausdruck und Konsequenz seines eigenen moralischen Versagens. (...) Menschen, die sich in einer Ausweglosigkeit wie Stäudlins beschrieben, verstanden sich als moralische Subjekte. In einer Selbsttötung. die ihnen auf eigenes moralisches Versagen verwies, fanden sie auch die äußerste Bestätigung ihrer moralischen Würde.« Hier wird die Selbsttötung nicht nur als Konsequenz und letzter Ausdruck des Scheiterns gewertet, sondern sie eröffnet die Möglichkeit, auch im Scheitern ein akzeptables Selbstbild aufrechtzuerhalten oder wieder zu erlangen.

Beruflicher und finanzieller Erfolg sind auch eine Generation nach Stäudlin ein zentraler Aspekt für eine männliche bürgerliche Identität. Auch für den Exilant und Theoretiker Karl Marx im fortschrittsoptimistischen 19. Jahrhundert haben sic einen großen Stellenwert »Ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel und immer noch Pauper! Wie recht meine Mutter hatte!« Solche Selbstzeugnisse lassen spüren, wie sehr Karl Marx zeitlebens an dem Empfinden leidet, in diesem Punkt gescheitert zu sein. Marx muss erleben, dass die von ihm vorhergesagte gewaltsame Revolution nicht kommt, seine Bücher nicht den erwarteten Erfolg haben, er arm und finanziell abhängig bleibt. Dennoch hält er daran fest, Forschen als Ziel und Inhalt seines Lebens zu sehen und bemüht sich nicht etwa um eine feste Stelle. Anderen gilt das ständige Revidieren seiner Aussagen, weil er neue Ideen und Veränderungen einbeziehen will, sein Hang zum Perfektionismus als Ausdruck des Scheiterns. So notiert der Schriftsteller Arnold Ruge: »Er liest sehr viel; er arbeitet mit ungemeiner Intensität. (Doch) ... er vollendet nichts (...) Er bricht überall ab und stürzt sich immer wieder von neuem in ein endloses Büchermeer.«

Welche Kriterien entscheiden darüber, was als ein gelungenes beziehungsweise gescheitertes Leben gesehen wird? In einem glänzenden Artikel über Sebastian Hensel, Urenkel Moses Mendelssohns und Sohn Fanny Mendelssohn-Bartholdys, entfaltet Martina Kessel, Professorin für Geschlechtergeschichte an der Universität Bielefeld, die Seiten eines Lebens, das den seinerzeit vorgegebenen Kritikern für ein geglücktes Leben eines männlichen Bildungsbürgers nicht entspricht; nicht entspricht und doch nicht gescheitert ist. Kessel führt die LeserInnen nicht nur durch das ereignisreiche Leben Hensels, der sich von der bildungsbürgerlichen Familientradition entfernt und als Landwirt, Baudirektor und Nobelhotelier tätig wird, sondern bindet es überzeugend in geschichtliche, gesellschaftliche und geschlechtsbedingte Zusammenhänge ein und schafft so ein aufschlussreiches und anregendes Lesevergnügen. Kessel zeigt ein Leben, das »morakisch unanfeschtbar, aber unterlegen in ungünstigen Konstellationen« keinen geschlossenen Verlauf zeigt, aber die Vorstellung eines modernen männlichen Subjekts als ›kontinuierlich ortschreitend‹ nicht in Frage stellt. Ist das »ein Lebenslauf in absteigender Linie?« fragt Kessel und gibt mit ihrem Beitrag Einlick in die Relativität des Begriffs Scheitern.

»Religion. Nation, Generation« definieren den Rahmen für das zweite Kapitel des Buches. Hier werden die Erfahrungen des Scheiterns im Prozess der Identitätsfindung bei den beiden Konvertiten Christian Salomon Duitsch und Salomon Maimon untersucht.

Berichtet wird von der (begrenzten) Bereitschaft der vor dem Ersten Weltkrieg geborenen deutschen Männer, sich mit ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus und mit den Gefühlen von Scheitern, Schuld und Versagen auseinander zu setzen.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem Scheitern männlicher Selbstbilder angesichts von Kriegsgefangenschaft. Anhand der Memoirenlitertaur von Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs wird analysiert, welche Auswirkungen das Tabu der Gefangennahme für die Soldaten hatte. Andere Artikel widmen sich den Erinnerungen von Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs und ihren Versuchen, mit dem offensichtlichen Scheitern umzugehen, oder sie geben Einblick in die Kultur des Scheiterns in Literatur und Gesellschaft der USA.

In einem dritten Teil »Lob des Scheiterns« geht es um Versuche des selbstbewussten Umgangs mit dem Scheitern. Hier finden sich u.a. der Beitrag eines Pädagogikprofessors, der in Extenso seine Seminare analysiert, oder ein Vergleich der literarischen Figuren Von Erich Kästner und Sven Regner.

Scheitern, das wird mit diesem Buch deutlich, ist ein zentraler Bestandteil menschlichen Lebens. Es wird spürbar, wie einengend es auf Dauer ist, wenn diese Facette des Lebens in den Keller des Bewusstseins verbannt wird. Das Buch macht Mut, in einer Zeit der Veränderung selbst aktiv nach neuen Antworten zu suchen, was für ein geglücktes Leben gehalten wird. Und vielleicht liegen diese Antworten jenseits der ausschließlichen Orientierung an beruflichem Erfolg, materiellem Wohlstand und männlich geprägten Heldenbildern.

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